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Titel: Der unredliche, mörderische und verlorene Krieg gegen die Drogen am Beispiel Lateinamerikas

Datum: 9. November 2017 um 14:52 Uhr
Rubrik: Innere Sicherheit, Länderberichte
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Mehr als vier Jahrzehnte sind vergangen, seitdem US-Präsident Richard Nixon den sogenannten „War on drugs“ (Krieg gegen die Drogen) erklärt hat. Rückwirkend betrachtet, beschreibt die Kriegserklärung keine rationale Politik, sondern eine Schlacht, die selbst im konservativen Lager als enormer Trugschluss und monumentales Versagen gewertet wird, deren Nebenwirkungen fataler und teurer als die Auswirkungen der illegalen Drogen ausfielen, die er „auszurotten“ sich vornahm. Von Frederico Füllgraf.

Symptomatisch für die katastrophale Bilanz thematisierten im engen Abstand von vier Tagen die chilenischen Medien El Mercurio und Publimetro Ende vergangenen Oktobers den fatalen Ausgang der US-Drogenbekämpfungs-Politik in Lateinamerika. Die Folgerung lautet: Verdreifachung des Coca-Anbaus in Kolumbien zwischen 2015 und 2016, rasante Zunahme des Drogenkonsums in Chile, mehr als 20.000 Drogenkrieg-Tote in Brasilien und Mexiko.

Die Kehrseite der Medaille, nämlich die hauptverantwortlichen Verbraucher in den USA: mit 52.404 Todesopfern im Jahr 2016 eine 19-prozentige Zunahme der Überdosis-Toten – davon allein 13.000 Heroin-Tote – in den USA gegenüber 2015. „Drug Deaths in America Are Rising Faster Than Ever“ (Drogensterben in Amerika steigt schneller als je zuvor) alarmierte die New York Times am 05. Juni 2017 und warnte: „Und sämtliche Hinweise deuten darauf hin, dass sich das Drama 2017 weiter zugespitzt hat“.

„Ein Fehlschlag, der Krieg gegen die Drogen” diagnostizierte wenige Wochen später die Journalistin Enriqueta Cabrera in der konservativen mexikanischen Tageszeitung El Universal. Im Mittelpunkt der internationalen Kritik steht die US-amerikanische Drogenbekämpfungsagentur (DEA), deren Vorgehen in Lateinamerika, oft im Verbund mit dem CIA, als Vorwand für die Finanzierung subversiver Aktivitäten, von Staatsstreichen und den Schutz von Diktatoren wie Augusto Pinochet diente, die tief in den Drogenhandel involviert waren.

Gleichwohl feierte die Regierung Uruguays als richtungsweisender Pionier bereits Mitte 2016 den Erfolg ihrer Entkriminalisierungs-Politik leichter Drogen, namentlich des Cannabis/Marihuana-Konsums, mit positiven Auswirkungen auch auf harte Drogen. Hatte die Polizei noch 2013 eine Rekord-Beschlagnahme von 1,5 Tonnen Kokain gemeldet, brach die sichergestellte Menge 2016 auf bescheidene 20 Kg ein. “Die Regierung ist der Meinung, die Kartelle sind in Uruguay gescheitert”, schrieb die Tageszeitung El Observador (Gobierno cree que cárteles de drogas “fracasaron” en Uruguay – 27.07.2016).

Als erstes Land der Welt hatte Uruguay am 10. Dezember 2013 ein Gesetz erlassen, das Produktion, Vermarktung, Besitz, private und medizinische Nutzung von Marihuana regelt. Damit wurden der Anbau der Cannabis-Pflanze und der Verkauf von Joints vollständig legalisiert. Oder anders mit den neckenden Worten von Ex-Präsident José Pepe Mujica erklärt: „Wir haben den Kriminellen den Markt weggenommen – wir haben den Hanf verstaatlicht!“.

Zugegeben, das kaum 3,5 Millionen Einwohner zählende, überschaubare Uruguay passt dreimal in New York und mindestens siebenmal in Mexico City hinein, doch seine Entkriminalisierungs-Politik der Cannabis zeigt, dass dem Drogenhandel und -konsum nicht mit „Kriegen“ beizukommen ist, sondern allein mit Sozial- und Gesundheitspolitik erfolgreich bekämpft werden kann; eine Erkenntnis, der sich 18 US-amerikanische Bundesstaaten angeschlossen haben, die auf Distanz zur Politik des Justizministeriums gehen.

Chile: Unterwanderung des Staates und kiffende Arbeiter

In Chile ist neuerdings die Rede von einer einheimischen Narco-Cultura, womit die Unterwanderung Dutzender von Kommunen und politischer Parteien durch Dealer-Netze und der Anstieg des Drogenkonsums gemeint sind.

Ein beispielhafter Unterwanderungsfall beschert gerade dem Präsidentschaftskandidaten der amtierenden Mitte-Links-Regierungskoalition, Alejandro Guillier, schwere Vorwürfe und einen eventuellen Stimmenverlust bei der am kommenden 19. November stattfindenden Wahl zur Nachfolge von Präsidentin Michelle Bachelet. So soll die Stadtverwaltung von San Ramón, im Süden Santiago de Chiles, unter Bürgermeister Miguel Ángel Aguilera – Mitglied der regierenden Sozialistischen Partei und aktiver Stimmenjäger für Guillier – von einer Drogendealer-Bande unterwandert worden sein, die Erpressung betreibe und Beamte der öffentlichen Verwaltung physisch bedrohe.

Die Beobachtungsstelle für Drogenhandel (Observatorio de Narcotrarfico en Chile) ermittelte, in mindestens 91 Gemeinden mit über 50.000 Einwohnern – mit Schwerpunkten des Mikrohandels in den Regionen Valparaíso, Biobío und Santiago – haben sich mit einer Anzeigen-Zunahme des Drogenhandels um 17 Prozent in den vergangenen Jahren „territoriale Zentren des Drogenhandels” herausgebildet. Die vielköpfige Expansion der Dealer-Netze erklärt sich mit dem steigenden Drogenkonsum und umgekehrt.

Eine von der industrienahen NGO Global Partners durchgeführte Studie überraschte die Öffentlichkeit: 15 Prozent der chilenischen Arbeiter rauchen Marihuana und schnüffeln gefährliche Mengen Kokain, so ein 2016 mit 3.000 Arbeitern in 141 Betrieben durchgeführter Test, der einen 5-prozentigen Anstieg des Drogenkonsums unter Werktätigen gegenüber 2014 ermittelte. Patricio Labatut, Geschäftsführer der mit der US-Drug & Alcohol Testing Industry Association und der European Workplace Drug Testing Society vernetzten Global Partners Chile, bezeichnete die Lage als „alarmierend“, blieb der Öffentlichkeit jedoch die entscheidende Erklärung für die ansteigende Drogennutzung unter Werktätigen schuldig, von denen sich 60 Prozent regelmäßig Marihuana und 22,8 Prozent Kokain in die Atemwege pumpen.

Bezeichnend für die Diagnose der von der Industrie beauftragten Alkohol- und Rauschmittel-Tester ist, dass sie sich über Auswirkungen des Drogenkonsums auf den Arbeitsplatz – etwa die Zunahme von Arbeitsunfällen und den Einbruch der Produktivität – besorgt zeigen, nicht jedoch über die potenziellen Ursachen, wie Inhalt und Organisation der prekären und brüchigen Arbeitsverhältnisse, die im neoliberalen Laborland Chile seit Jahrzehnten verheerende psychische und körperliche Schäden, wie Depressionen und Selbstmord, erzeugen.

Brutaler Krieg und Massensterben in Brasilien und Mexiko

Währenddessen tobt seit Ende 2016 in Brasilien der sogenannte „Krieg von Rio de Janeiro” mit dem außerplanmäßigen Einsatz von 10.000 Soldaten der Streitkräfte gegen Dealerbanden rund um die Favelas der Sechs-Millionen-Metropole. Bei deren Bekämpfung warf die selbst in milliardenschwere Korruption involvierte Landesregierung wegen angeblicher Mittelverknappung und mangelnder Qualifizierung der Polizei das Handtuch. Gefechtsstand seit Jahresbeginn 2017: 4.000 Tote.

Die Gewalt-Spirale in Mexiko sorgt 2017 jedoch für eine weitaus makabrere Statistik. Nach Angaben des mexikanischen Innenministeriums wurden in den ersten neun Monaten des Jahres insgesamt 18.505 Menschen in Mexiko getötet. Das sind 68 Tote jeden Tag.

Es handelt sich um die alarmierendste Opferzählung aller Zeiten, sie stellt die Rekord-Mordstatistik von 2011 in den Schatten und übertrifft das Vorjahr 2016 mit 3.400 Todesopfern (El complejo panorama de la “narcocultura” en América Latina – Economía Y Negocios, 30.10.2017). Neu ist, dass sich der mexikanische Massenmord nun auf das gesamte Bundesterritorium verteilt, während sich in den Vorjahren die Mordfälle auf wenige Bundesstaaten konzentrierten. Zur Gewaltstatistik gehören ferner 866 Entführungsfälle, 4.315 Erpressungen und 45.747 Autodiebstähle, die u.a. von öffentlichen Kameras dokumentiert wurden.

Der Regierung Enrique Peña Nieto gelangen mehrere Schläge gegen die Führungen der wichtigsten Drogenkartelle im Lande, einschließlich der Verhaftung des Sinaloa-Kartellchefs Joaquín “El Chapo” Guzmán und dessen Auslieferung nach den USA.

Was ist jedoch die Folge? Die Großkartelle haben sich in eine Vielzahl kleinerer, jedoch weitaus gewalttätigerer Organisationen aufgesplittert, womit die Regierung, anstatt die Gewalt einzudämmen, sie mit ihrer Gegengewalt gesteigert haben könnte.

Die zwiespältige DEA

Die Kritik an der amerikanischen Drogenbekämpfungs-Agentur verschärft sich zusehends in den USA selbst. Die 1973 von Richard Nixon gegründete Agentur beschäftigt 10.000 Mitarbeiter, darunter etwa 5.000 Spezialagenten, verfügt über einen Jahreshaushalt von ca. 3 Milliarden Dollar und betreibt Auslandsvertretungen in 66 Ländern.

Von Nixon über G. Bush Senior und Barack Obama bis Donald Trump bleibt die Agentur-Mission ungebrochen: unter Anwendung strenger Gesetze, angeblich rigoroser Kontrolle, Unterdrückung und Beschneidung des Drogenvertriebs, jedoch nicht des inländischen Konsums. In der DEA-Hochglanz-Propaganda ist die Rede von Heldentaten. So sei die Drogenproduktion in mehreren Weltregionen eingedämmt, immense illegale Verschiffungen abgefangen und beschlagnahmt, Drogenkartelle zerschlagen und die Capos der organisierten Kriminalität vor Gericht gebracht oder „liquidiert“ worden.

Adam Isacson, regionaler Sicherheitsanalyst im Washingtoner Büro für lateinamerikanische Angelegenheiten (WOLA), sieht das anders. Gegenüber BBC erklärte der US-Amerikaner, dass die DEA-Strategie es nicht geschafft habe, sowohl den Drogenhandel einzudämmen, noch den Konsumwunsch von Amerikanern und Europäern zu beschneiden. Was diese Strategie jedoch sicherlich erreicht habe, sei das Überleben noch „herzloserer“ Rauschgifthändler-Netze. „Indem die DEA die Schwächsten oder die Sanftesten aus dem Verkehr zieht, hat sie eine Art ´Super-Dealer´ geschaffen“, so Isacson.

Beredtes Beispiel für das Scheitern der DEA-Strategie ist Kolumbien. Dort wurden zunächst die Medellín- und Cali-Kartelle bekämpft, deren Strukturen zerstört und ihre Führer inhaftiert oder getötet. Dem folgte der berüchtigte Plan Colombia, ein teures und umstrittenes Programm der Regierung George W. Bush, mit der Errichtung mehrerer Militärstützpunkte, der wenig mit dem Kampf gegen Drogen, doch viel mit Aufstandsbekämpfung zu tun hatte, in dem die DEA an der Seite des CIA sich zwar an der Verfolgung, Inhaftierung und Auslieferung von Drogenbaronen beteiligte, sich jedoch vor allem der militärischen Bekämpfung der linken, kolumbianischen Guerillas widmete.

Das Hauptproblem der DEA ist ihr veraltetes Weltbild, es gibt aber auch Stimmen, die unterstellen, die Agentur sei nichts anderes als ein opportunistisches Drogenmarkt-„Lenkungsgremium“, das allein die Vorteile der US-Außenpolitik im Visier habe. Ihr fehlt zum Beispiel die Einsicht, dass sich der Drogenverbrauch nicht mehr auf wenige Schlüsselländer konzentriert, sondern weltweit expandiert. Das belegt die Auslagerung des Kokain-, Marihuana- und Heroin-Konsums, jedoch auch des von chemischen Präparaten in Länder, in denen der Wohlstand zugenommen hat. In Südostasien beispielsweise stieg zwischen 2008 und 2013 der Verbrauch von Methamphetamin-Pillen um das Achtfache.

Die Innovation hört nicht auf, doch das Verständnis des Drogenphänomens und seiner optimalen, demokratischen Behandlung hinkt hinterher. So berichtet der World Drug Report 2017, dass sich die Zahl der seit 2012 neu gemeldeten, psychoaktiven Wirkstoffe bis Ende 2015 von 260 auf 483 bereits nahezu verdoppelt hat.

Einzelne Kritiker werfen der DEA zu Recht vor, der „Krieg gegen die Drogen“ habe Staaten zu blinden Schauspielern gemacht, die nicht einmal das Bild ihrer tatsächlichen Feinde erkennen. Schlimmer: In der scheinheiligen, US-amerikanischen Sichtweise wurde es zum militärischen Problem deklariert.


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