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Titel: Hinweise der Woche

Datum: 22. Oktober 2017 um 10:00 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
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Am Wochenende präsentieren wir Ihnen einen Überblick über die lohnenswertesten Beiträge, die wir im Laufe der vergangenen Woche in unseren Hinweisen des Tages für Sie gesammelt haben. Nehmen Sie sich ruhig auch die Zeit, unsere werktägliche Auswahl der Hinweise des Tages anzuschauen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. EU-Gipfel: Rückendeckung für die „Nuklearoption“ in Spanien
  2. Macrons Vermögenssteuer: Der Staat verzichtet auf 3,2 Milliarden
  3. Mord im Steuerparadies Malta – Legal, illegal, lukrativ
  4. Ungleichheit bei Einkommen und Arbeitsentgelten nimmt zu
  5. Mehr Sozialstaat wagen
  6. Ungleichheit, politisch gewollt
  7. Monopoly in Prenzlauer Berg – Was geschieht, wenn die Mittelschicht verdrängt wird?
  8. Prof. Raffke_hüschen – stets zu Diensten
  9. Ein Vorstoß zur „Entlastung“ der Arbeitgeber beim Mindestlohn – ein Vorgeschmack auf das, was von einer Jamaika-Koalition sozialpolitisch zu erwarten ist?
  10. Hilfe, Nazis! Wie die deutsche Öffentlichkeit die neuen Rechten gross macht

Vorbemerkung: Ursprünglich hatten wir geplant, in unserer Wochenübersicht auch auf die lohnenswertesten redaktionellen Beiträge der NachDenkSeiten zu verweisen. Wir haben jedoch schnell festgestellt, dass eine dafür nötige Vorauswahl immer damit verbunden ist, Ihnen wichtige Beiträge vorzuenthalten. Daher möchten wir Ihnen raten, am Wochenende doch einfach die Zeit zu nutzen, um sich unsere Beiträge der letzten Wochen (noch einmal) anzuschauen. Vielleicht finden Sie dabei ja noch den einen oder anderen Artikel, den es sich zu lesen lohnt. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. EU-Gipfel: Rückendeckung für die „Nuklearoption“ in Spanien
    Merkel stellt sich hinter Premier Rajoy. Auch beim Brexit und in der Türkei-Frage mischte sich Merkel ein – allerdings ganz anders, als erwartet
    Die ganz heißen Eisen stehen traditionell nicht auf dem Programm des EU-Gipfels. Auch der Herbstgipfel, der am Donnerstag in Brüssel begann, machte da keine Ausnahme. Kanzlerin Angela Merkel und die 27 anderen „Leader“ sprachen über Gott und die Welt. Brexit, Migration, Verteidigung, Handel, digitale Wirtschaft, Iran und Nordkorea haben es auf die offizielle Agenda geschafft. Doch die größte Krise, die Europa gerade umtreibt, stand nicht auf der Tagesordnung. Den Konflikt zwischen Katalonien und Spanien hatte Gipfelchef Donald Tusk sorgfältig ausgespart. […]
    Rajoy möchte offenbar Artikel 155 der spanischen Verfassung anwenden, was in Brüssel als „Nuklearoption“ gehandelt wird, also als größtmögliche Eskalationsstufe.
    Verkünden möchte er seine Entscheidung aber erst am Samstag, also einen Tag nach dem EU-Gipfel. Dieses Timing dürfte kein Zufall sein. Denn so kann Rajoy die EU, die ohnehin schon fast geschlossen hinter ihm steht, noch effektiver vor seinen Karren spannen. Nun kann er den Katalanen nicht nur damit drohen, dass sie nach einer Sezession in Europa isoliert wären – kein EU-Staat wäre bereit, ein unabhängiges Katalonien anzuerkennen.
    Quelle: Eric Bonse auf Telepolis

    dazu: Die EU müsste in Spanien vermitteln
    Die EU muss zwischen Madrid und Barcelona vermitteln – und zwar schnell. Absurd ist, dass die Krise in Spanien zwar brisant, aber gerade durch die EU zu lösen wäre.
    Die EU-Spitze muss den Konflikt und die Interessen der Katalanen ernst nehmen, wenn sie in einer Rückkehr zu einem Flickenteppich kleiner Nationalstaaten nicht die Zukunft Europas sieht. Erkennt Madrid, dass die EU die zwei bis drei Millionen spanienkritischen Katalanen nicht mehr als „Separatisten“ verunglimpft, wird es Gesprächen mit Barcelona zustimmen – auch dann, wenn die Anwendung des umstrittenen Verfassungsartikels 155 die Zwangsverwaltung Kataloniens eingeleitet hat. Denn die ist auf Dauer sowieso nur Symbol, im Zweifel reichen dafür 4000 Bundesbeamten, ja auch die Armee nicht: Oder sollen streikende Polizisten, Staatsdiener und Hafenarbeiter mit Waffengewalt zur Arbeit gezwungen werden? Wer eine Union – also Einheit – will, sollte das gerade dann beweisen können, wenn diese zu zerreißen droht. Weil die nötigen Instrumente da sind, ist selbst nach diesem Donnerstag noch Zeit.
    Quelle: Tagesspiegel

  2. Macrons Vermögenssteuer: Der Staat verzichtet auf 3,2 Milliarden
    Rein rechnerisch – und darin sind sich alle einig – läuft Macrons Reform der Vermögenssteuer auf ein Fazit hinaus, das bekannt ist: „Es profitieren hauptsächlich die Reichen.“ Interessant ist die Verpackung des Geschenks aus dem Elyséepalast. „Ich mag den Neid nicht“, sagte Macron am Montagabend zur Kontroverse über die neue ISF (impôt de solidarité sur la fortune), die auf Deutsch mit „Solidaritätssteuer auf das Vermögen“ wiedergegeben werden kann. (…) Der alles überragende Vorteil liegt allerdings bei den Personen mit Finanzvermögen, das künftig nicht mehr unter die Vermögensteuer fällt. In Frankreich besitzen etwa 300.000 Haushalte ein Vermögen, das höher als 2 Millionen Euro ist, der Anteil der Finanzanlagen beträgt bei ihnen 70 Prozent und bei den Superreichen 90 Prozent. Der Höchststeuersatz für Einkommen aus „Dividenden und Zinsen“ beträgt 30 Prozent, bei Gehältern und Einkommen beträgt er 55 Prozent, weshalb Piketty die Vermögenssteuerreform und andere Steuergeschenke auf Gesamtkosten von mehr als 5 Milliarden Euro schätzt. Für ihn ist das ein Fehler „historischen Ausmaßes“.
    Quelle: Telepolis
  3. Mord im Steuerparadies Malta – Legal, illegal, lukrativ
    Die ermordete maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia hat zu Steuertricks recherchiert. Niedrige Steuern sind das Geschäftsmodell des Landes. […]
    Malta ist eigentlich ein armes Land. Die wichtigste Branche ist der Tourismus, und außerdem befindet sich noch Europas zweitgrößte Werft auf der Insel. Um zusätzliche Einnahmen zu generieren, setzt Malta daher auf das Konzept „Briefkastenfirmen“.
    Das Angebot ist verlockend: Malta verlangt eine Körperschaftssteuer von nur rund 5 Prozent. Da lohnt es sich für internationale Konzerne, eine Tochter in Malta zu gründen.
    Mehr als 1.600 deutsche Unternehmen haben sich eine Filiale in Malta zugelegt. Dazu gehören etwa BASF, die Autovermietung Sixt, der Düngelmittelhersteller K + S, aber auch der Flughafenbetreiber Fraport, der mehrheitlich dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt gehört.
    Der Trick ist immer der gleiche: Die Gewinne werden nach Malta verlagert, indem die Tochterfirma fiktive Kosten berechnet – sei es für Patente, Lizenzen oder Kreditzinsen. Wie die maltesische Tageszeitung „Malta Today“ berechnet hat, wurden 2015 Unternehmensgewinne in Höhe von vier Milliarden Euro durch Malta geschleust. Normalerweise wären darauf Steuern von etwa 1,7 Milliarden Euro entfallen – doch der maltestische Staat begnügte sich mit 250 Millionen.
    Quelle: Ulrike Herrmann in der taz
  4. Ungleichheit bei Einkommen und Arbeitsentgelten nimmt zu
    Auch wenn manche jüngere Studie eher eine Stagnation feststellen will, ist der langfristige Trend doch eindeutig: Die Ungleichheit bei den Einkommen insgesamt wie auch bei den Entgelten abhängig Beschäftigter nimmt zu. Ein kurzer Überblick. […]
    Dass sich die Schere bei den verfügbaren Einkommen weiter geöffnet hat, liegt auch an einer abnehmenden Wirksamkeit der staatlichen Umverteilung (Anselmann/Krämer 2012; Schratzenstaller 2013; Schmid/Stein 2013). Unter anderem haben verschiedene steuerpolitische Beschlüsse die umverteilende Wirkung des Steuer- und Abgabensystems reduziert. Während man hohe Einkommen tendenziell entlastete, wurden kleine und mittlere Einkommen im Zeitverlauf immer stärker belastet. So hat insbesondere die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) die Progressivität der persönlichen Einkommensbesteuerung reduziert, wovon hohe Einkommen insbesondere nach der Jahrtausendwende überdurchschnittlich profitierten. Mit der im Jahr 2009 eingeführten Abgeltungssteuer deckelte man die relative Höhe der Besteuerung von Kapitaleinkommen. Eine Vermögensteuer wurde in Deutschland schon seit Ende der 1990er Jahre gar nicht mehr erhoben. Zugleich hat man die Umsatzsteuersätze mehrfach erhöht, was relativ zum Einkommen insbesondere niedrige und mittlere Einkommen sowie Lohn- und Transfereinkommen traf (Schratzenstaller 2013). Insgesamt stieg die durchschnittliche Besteuerung (durch direkte und indirekte Steuern) der zehn Prozent mit dem geringsten bedarfsgewichteten Haushaltsbruttoeinkommen zwischen 1998 und 2015 von 17,7 Prozent auf 23,1 Prozent. Die durchschnittliche Besteuerung der reichsten zehn Prozent hingegen ging im genannten Zeitraum von 33,5 Prozent auf 31,2 Prozent zurück, die des reichsten Hundertstels sogar von 44,4 Prozent auf 39,6 Prozent (Bach/Beznoska/Steiner 2016). Von dieser Politik konnten die oberen drei Dezile profitieren, während die unteren sieben Dezile durchschnittlich stärker besteuert wurden.
    Quelle: Patrick Schreiner auf Blickpunkt WiSo
  5. Mehr Sozialstaat wagen
    Willy Brandt wird heute wohl kaum zitiert werden, wenn die Jamaika-Partner zu ihren ersten Sondierungsgesprächen zusammenkommen. Was bedauerlich ist, denn der legendäre Satz des ersten SPD- Kanzlers der Bundesrepublik, „wir wollen mehr Demokratie wagen“, wäre auch eine gute Richtschnur für Union, FDP und Grüne. In Abwandlung der legendären Brandt’schen Worte aus dem Jahr 1969 muss die neue Regierung nämlich „mehr Sozialstaat wagen“.
    Denn hinter dem Land liegen gut zwei Jahrzehnte, in denen dieser Sozialstaat teilweise bis zur Unkenntlichkeit deformiert wurde. Und am Ende dieser gut 20 Jahre neoliberaler Reformwut sitzt nun eine rechtspopulistische Partei im Bundestag, die ihren Aufstieg nicht nur den Sorgen vor zu vielen Fremden im Land zu verdanken hat. Viele AfD-Wähler treibt auch die Angst um, in sozialen Notlagen nicht mehr vom Staat aufgefangen zu werden.
    Quelle: Nürnberger Nachrichten
  6. Ungleichheit, politisch gewollt
    Seit der Wiedervereinigung hat die Ungleichheit stark zugenommen. Das ist keine Folge ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, sondern das Ergebnis politischer Rahmensetzungen.
    Weil die Arbeit immer anspruchsvoller wird, überbieten die Unternehmen sich gegenseitig, um gut ausgebildete Beschäftigte zu bekommen. Geringqualifizierte haben das Nachsehen und die Einkommensunterschiede nehmen zu. So erklären sich die meisten Wirtschaftswissenschaftler die Zunahme der Ungleichheit. Doch das ist wenig überzeugend, stellen Gerhard Bosch und Thorsten Kalina vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) fest. Nach ihrer Analyse kann der bereits seit den 1970er-Jahren abnehmende Umfang einfacher Arbeit nicht den gut zwei Jahrzehnte später einsetzenden Verfall der Stundenlöhne von Ungelernten erklären. Außerdem hätten die Verdienstunterschiede zwischen gleich Qualifizierten ebenfalls deutlich zugenommen, wie verschiedene Studien zeigen. Vor allem ignoriere die ökonomische Standardtheorie den Einfluss von veränderten Machtverhältnissen und Arbeitsmarktinstitutionen. Bosch und Kalina argumentieren, dass die Zunahme der Ungleichheit in erster Linie auf die Schwächung des Tarifsystems zurückgeht. Sie identifizieren sechs Faktoren, die dessen ausgleichende Funktion geschwächt haben:

    Quelle: Böckler Impuls

    dazu: „Wir verschenken Milliarden!“ – Ergebnisse der deutschen Teilstudie des Forschungsprojekts „Tax Justice & Poverty“
    Die deutsche Teilstudie wurde durchgeführt mit einem Schwerpunkt auf Bayern und Unterstützung der Bayerischen Staatsministerien für Finanzen, Inneres und Justiz. Nach Wissen des Verfassers ist dies die erste qualitativ-sozialwissenschaftliche Studie in Deutschland, deren Schwerpunkt sowohl erlaubte als auch inoffizielle Interviews unter Mitarbeitenden von Steuer- und Strafverfolgungsbehörden sind. Der Buchtitel geht beispielsweise zurück auf ein Gespräch mit einem bayerischen Finanzbeamten: Als dieser einer Umsatzsteuertrickserei in Höhe von etwa 1 Million Euro auf die Spur kam und die Abteilungsleitung bat, nähere Untersuchungen anstellen zu dürfen, wurde dies abgelehnt mit dem Hinweis auf die knappen Ressourcen der Abteilung: Eine Prüfung hätte etwa zur Folge, dass man mit der regulären Bearbeitung von Steuerfällen in Verzug käme. Dies kommentierte der Beamte mit dem Ausruf: „Das Geld liegt auf der Straße und wir dürfen es nicht aufheben. Wir verschenken Milliarden!“ Ein Einzelfall? Laut dem Bayerischen Obersten Rechnungshof entgehen allein Bayern pro Jahr „mindestens eine Milliarde Euro“ durch Umsatzsteuerbetrug (Jahresbericht 2011).
    Die Studie belegt zunächst bereits anderweitig bekannte Sachverhalte mit Daten des bayerischen Hintergrunds: Das Auseinanderdriften von Arm und Reich, das Unwissen der Behörden über das Ausmaß von Vermögen bei den Superreichen, die Überlastung von Steuerverwaltungen mit der Folge, dass die Prüfzyklen von Großbetrieben und Millionären immer länger werden sowie weitere Belege dafür, dass vieles davon politisch gewollt ist:
    Quelle: blog steuergerechtigkeit

  7. Monopoly in Prenzlauer Berg – Was geschieht, wenn die Mittelschicht verdrängt wird?
    In Prenzlauer Berg, dem Sehnsuchtsort gut situierter Öko-Großstädter, beschleunigen sich die Umwälzungen: Wie in einem Versuchslabor lässt sich dort beobachten, was passiert, wenn sich die Wucht des Immobilienbooms, internationales Finanzkapital und der Hype um den Szene-Kiez gegenseitig verstärken.
    „Man kann in Prenzlauer Berg keine großen Sprünge mehr machen, indem man die Miete im Bestand erhöht – da liegen die meisten schon am oberen Ende“, sagt Andrej Holm, Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität, „also bleiben nur Neuvermietung oder die Umwandlung in Eigentumswohnungen.“
    Schon heute lägen die Mieten in den angesagten Gegenden bei Preisen um neun Euro, sagt Holm – bei Neuvermietungen würden schon mal bis zu 16 Euro pro Quadratmeter verlangt. „Super-Gentrifizierung“ ist der Begriff, den Stadtforscher geprägt haben, er wurde bisher vor allem auf die Zustände in London angewendet.
    Inzwischen gibt es auch in Berlin Viertel, in denen die Verdrängung Gutverdienende trifft – Menschen mit kleinerem Einkommen gibt es in Prenzlauer Berg ohnehin kaum noch. In den sanierten Kiezen am Kollwitz- und Helmholtzplatz soll die Akademiker-Quote inzwischen bei 75 Prozent liegen. (…)
    Aber was geschieht mit Vierteln, wo selbst die Mittelschicht nicht mehr mithalten kann?
    In Teilen von Mitte und Prenzlauer Berg kriegt man eine Vorahnung, Straßenzüge, die vorwiegend aus Ferienwohnungen zu bestehen scheinen, pastellfarben getünchte Airbnb-Wüsteneien. Nicht nur die Mieter, auch Gewerbetreibende sind bedroht. So ist zu beobachten, dass so manche originelle Boutique, so manches hippe Café kapituliert, und damit erodiert das, was den Charme von Prenzlauer Berg ausmacht.
    Was dann kommt, sind große Ketten mit Fast Food oder Konzernmode, weil sonst niemand die hohen Mieten bezahlen kann. Das ist dann die letzte Stufe – wenn alles aufgewertet ist, kommerzialisiert und verödet.
    Quelle: Berliner Zeitung
  8. Prof. Raffke_hüschen – stets zu Diensten
    Was haben die vom Gesamtverband der deutschen Versicherungen (GDV), oder Einzelgesellschaften wie der AXA, oder jüngst der UNION INVEST in die Welt gesetzten „wissenschaftlichen Studien“ gemeinsam?
    Sie werden von so gut wie allen Medien (Zeitungen, Magazinen, Fernsehnachrichten) als „Expertenaussagen“ unkritisch übernommen. Die einschlägigen Pressemitteilungen der Versicherungen sind dabei so mundgerecht aufbereitet, dass Texte, Grafiken und regionale Besonderheiten direkt in Medienberichte hineinkopiert werden können. Von diesem „Service“ wird, wie es scheint, sehr gerne Gebrauch gemacht.
    Mit Journalismus hat das wenig, mit kostengünstiger Public Relation dafür umso mehr zu tun.
    Jüngstes Beispiel ist der „Vorsorgeatlas 2017“, herausgegeben von der UNION INVEST, „erarbeitet“ von Prof. Raffelhüschen. Die genaue Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Studie lohnt nicht. Es reicht schon, wenn man sich die beiden zentralen Behauptungen ansieht: […]
    Quelle: Reiner Heyse, auf Seniorenaufstand

    Anmerkung Albrecht Müller: Wir hatten schon darüber berichtet. Dennoch wegen der erweiterten kritischen Anmerkungen lesenswert.

  9. Ein Vorstoß zur „Entlastung“ der Arbeitgeber beim Mindestlohn – ein Vorgeschmack auf das, was von einer Jamaika-Koalition sozialpolitisch zu erwarten ist?
    In der Not gibt man sich auch mit Brosamen zufrieden und sammelt alles auf, was als Hinweis gewertet werden könnte, wohin die Reise einer „Jamaika“-Koalition gehen wird. Und da erweist es sich als hilfreich, dass es diese Koalitionsformation bereits gibt, in Schleswig-Holstein. Und von dort werden „interessante“ Aktivitäten vermeldet. Die vielleicht einen Vorgeschmack liefern können.
    Dabei geht es um den gesetzlichen Mindestlohn. Was war das für eine Schlacht vor und bei seiner Einführung. Mit harten Bandagen wurde gekämpft. Und neben dem Spiel mit den angeblichen, mittlerweile bekanntlich widerlegten Jobkiller-Ängsten wurde auch heftig auf die Tränendrüse des „Bürokratiemonsters“ gedrückt. Und eigentlich müsste man im Oktober 2017 zu dem Ergebnis kommen, dass der „Schock“ des Mindestlohns und die mit ihm verbundenen Auflagen irgendwie Geschichte ist, hört man doch von „normalen“ Unternehmen diesbezüglich keine massive Kritik mehr, außer vielleicht, dass man generell beklagt, dass Löhne immer Kosten sind und stören. Also könnte man sich anderen Themen widmen, aber nein – offensichtlich wird die Kritik an bestimmten Bestandteilen des Mindestlohns bzw. seiner Umsetzung weiter vorangetrieben und sie stößt bei dem einen oder anderen Politiker auf einen entsprechenden Resonanzboden. (…)
    Der ganze Vorgang verweist auf eine hoch konfliktäre Baustelle, die auf uns zukommen wird, wenn es eine „Jamaika“-Koalition geben wird. Denn Union und FDP wollen an das Arbeitszeitgesetz und die dort normierten Schutzvorschriften heran. Das mit dem Mindestlohn ist da nur ein ganz leichtes Lüftchen, das man platziert hat, um den Boden zu bereiten.
    Quelle: Aktuelle Sozialpolitik

    dazu: 12,20 Euro statt nur den Mindestlohn
    Um Mitternacht konnten die Arbeiter auf deutschen Baustellen aufatmen. Nach 14-stündigen Gesprächen einigten sich die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) und die beiden Arbeitgeberverbände der Branche in der Nacht zu Mittwoch auf einen neuen Bau-Mindestlohn. „Die Verhandlungen standen mehrfach vor dem Scheitern“, sagte IG-BAU-Verhandlungsführer Dietmar Schäfers. „Das hätte ab 1. Januar einen Mindestlohn von 8,84 Euro bedeutet.“
    Wie in einem guten Dutzend anderer Wirtschaftszweige auch gilt in der Bauwirtschaft ein Branchenmindestlohn. Er wurde schon 1997, kurz nach Inkrafttreten des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, erstmals vereinbart. Die Regelung zielte damals vor allem darauf ab, einheimische Bauarbeiter vor aus dem Ausland entsandten Billigarbeitskräften zu schützen – und deutsche Unternehmen vor ausländischen Konkurrenten, die mit Dumpinglöhnen die Preise kaputt machen. Da der Bau-Mindestlohn von der Bundesregierung für allgemeinverbindlich erklärt wurde, gilt er auch für nicht tarifgebundene Unternehmen und für aus dem Ausland entsandte Arbeiter.
    Quelle: Handelsblatt

    Anmerkung Christian Reimann: Wäre es nicht sinnvoll, den gesetzlichen Mindestlohn generell auf so ein Niveau anzuheben? Was in der Bauwirtschaft und weiterer Wirtschaftszweige möglich, sollte auch generell möglich sein, oder?

  10. Hilfe, Nazis! Wie die deutsche Öffentlichkeit die neuen Rechten gross macht
    Prediger, Hysteriker und Spötter dominieren das Feld im Umgang mit rechten Intellektuellen, wie auch die Krawalle an der Frankfurter Buchmesse zeigten. Dabei hilft Nazigeschrei wenig: Sinnvoll wäre inhaltliche Auseinandersetzung.
    Im Umgang mit rechten Intellektuellen dominieren im deutschsprachigen Raum drei Herangehensweisen. Die erste ist die Predigt, die zweite die Hysterie, die dritte der Spott. Auf der Frankfurter Buchmesse liessen sich alle drei in mustergültiger Form beobachten. Auslöser waren Auftritte und Lesungen der Wochenzeitung «Junge Freiheit» sowie der Verlage Manuscriptum und Antaios.
    Den Anfang machten die Prediger. Angeführt von Alexander Skipis, dem Geschäftsführer des Börsenvereins, liessen sich Messemitarbeiter dabei filmen, wie sie Schilder hochhielten. «Gegen Rassismus» und «Freiheit und Vielfalt» stand darauf. Das Schöne an solchen Mottos ist, dass sich jeder darauf verständigen kann. Das Blöde ist, dass sich jeder darauf verständigen kann. Wie beim Kirchentag. Rassistisch? «Wäre mir neu», schrieb Ellen Kositza, die Grande Dame der neuen Rechten. Vielfalt? Genau die biete man dem Publikum doch mit dem eigenen Programm.
    Es folgten die Hysteriker. Ein Kommunalpolitiker der Satire-Partei «Die Partei» wurde bei einem Gerangel zu Boden gebracht. «Ein Nazi auf mir drauf», schrieb er über ein Foto, das er bei Twitter verbreitete. Ein Redaktor der «Frankfurter Rundschau» erklärte flankierend: «Anything goes. Selbst ‹Sieg Heil› auf der Buchmesse.» Beide Behauptungen verbreiteten sich rasend schnell und wurden auch von Journalisten und Politikern übernommen. Am Ende stellte sich heraus, dass der vermeintliche Nazi ein Sicherheitsbeauftragter war, der eingeschritten ist, weil der Kommunalpolitiker selbst aggressiv gedrängelt und geschubst hat. Für «Sieg Heil»-Rufe gibt es bis jetzt keine Belege.
    Bleiben die Spötter. Sie schreiben lange Texte darüber, dass sie keine Lust haben, Texte über Rechte zu schreiben. Aber weil gerade einmal wieder alle über die Rechten reden, müssen auch sie die Lektüre von Annie Ernaux, Catherine Millet und Christophe Boltanski unterbrechen, um zu erklären, warum diese Leute in Wahrheit irrelevant sind.
    Quelle: NZZ


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