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Titel: Bundesverfassungsgericht: Nationaldemokratische Starrheit – Europäische Demokratie bleibt auf der Strecke

Datum: 7. Juli 2009 um 13:53 Uhr
Rubrik: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Erosion der Demokratie, Europäische Union, Europäische Verträge
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Das BVerfG hat den Lissabon-Vertrag im Großen und Ganzen passieren lassen, allerdings hat es das sog. Begleitgesetz moniert, das die Rechte des Bundestages festschreiben soll. Das heißt, das BVerfG hat in Übereinstimmung mit den Klägern ein demokratisches Defizit im politischen Mehrebenensystem Europa und Bundesrepublik festgestellt, das allerdings nicht auf europäischer, sondern auf nationaler, d.h. bundesdeutscher Ebene behoben werden soll. Gestärkt wird damit die nationale Legislative gegenüber der Exekutive – das ist gegenüber dem gegenwärtigen Zustand eine Stärkung der Demokratie, aber nur eine halbherzige. Von Andreas Fisahn*

Demokratiedefizit in Europa soll national ausgeglichen werden

Das BVerfG meint, die demokratische Legitimation europäischer Gesetzgebung sei unvollständig. Diesen Mangel will es durch eine zusätzliche Legitimation über das deutsche Parlament beheben. Aber, fragt man sich, wie soll das Demokratiedefizit in Europa durch das deutsche Parlament geheilt werden? Während zunächst in überzeugender Weise abstrakte Grundprinzipien des Demokratiegebotes dekliniert werden und festgestellt wird, dass sie in der EU nicht eingehalten werden, wird anschließend versucht, diesen Mangel national zu kompensieren, d.h. Demokratie national zu beschränken, nicht europäisch zu konjugieren. Hier wird die Kompromissstruktur des Urteils sichtbar, mit der vermieden werden konnte, den Vertrag insgesamt zu kippen – der Kompromiss, mit dem das Problembewusstsein der Richter mit Blick auf die demokratische Rechtfertigung einerseits und die Vorbehalte gegenüber dem nationalen Souveränitätsverlust andererseits unter einen Hut zu bringen waren.

Die Weiterentwicklung der EU setzt auch in Deutschland eine Volksabstimmung voraus

Zunächst ein Blick auf die demokratischen Prinzipien. In erfreulicher Klarheit heißt es im Urteil: „Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig; es ist unantastbar.“ (Rn. 216) Demokratische Beteiligung und Legitimation muss dort stattfinden, wo durch allgemein verbindliche Entscheidungen in Freiheiten und in die Lebensgestaltung der Bürger eingegriffen wird. „Soweit im öffentlichen Raum verbindliche Entscheidungen für die Bürger getroffen werden, insbesondere über Eingriffe in Grundrechte“, heißt es im Urteil, „müssen diese Entscheidungen auf einen frei gebildeten Mehrheitswillen des Volkes zurückreichen. Die vom Grundgesetz verfasste Ordnung geht vom Eigenwert und der Würde des zu Freiheit befähigten Menschen aus. Diese Ordnung ist rechtsstaatliche Herrschaft auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit in Freiheit und Gleichheit. Die Bürger sind danach keiner politischen Gewalt unterworfen, der sie nicht ausweichen können und die sie nicht prinzipiell personell und sachlich zu gleichem Anteil in Freiheit zu bestimmen vermögen.“ (Rn. 212)

Nun könnten solche verbindlichen Entscheidungen auf den mehrheitlichen Willen der Unionsbürger zurück geführt werden. Dies setze aber, so das Gericht, einen Wechsel des Legitimationssubjekts voraus. Nicht mehr das Deutsche Volk, wie im Grundgesetz vorgesehen, sondern das Volk der Union sei dann Legitimationssubjekt. Ein solcher Subjektwechsel könne nur in einer neuen Verfassung vollzogen werden. „Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten“ (Rn. 228). Anders gesagt: eine Weiterentwicklung der EU beispielsweise zu einem demokratischen Bundesstaat setzt auch in Deutschland eine Volksabstimmung voraus.

Nationaldemokratische Starrheit

Inzwischen ist diese Aussage auch in der Politik registriert worden und führt zu verärgerten Reaktionen. Sie ist aber konsequent innerhalb der gleichsam nationaldemokratischen Logik der Argumentation im Urteil. Die demokratische Perspektive ist anders: Der Lissaboner Vertrag hätte wie jede zukünftige Verfassung der EU aus prinzipiellen demokratischen Gründen einer Volksabstimmung bedurft. Der Grund, eine Volksabstimmung zu fordern, ist nicht, dass sich der deutsche nationale Souverän mit den Souveränen anderer Staaten vermischt und vermengt. Eine Verfassung sollte vom Volk abgestimmt werden, weil ein Volk selbst die Spielregeln bestimmen sollte, nach denen es in Zukunft das Gemeinwesen gestalten will. Die europäischen Eliten fürchten diese Abstimmung wie der Teufel das Weihwasser.

Demokratie sei auf europäischer Ebene defizitär, meint das Gericht, weil es an der Wahlgleichheit fehle. Das wird lang und breit ausgeführt. Die demokratische Grundregel der wahlrechtlichen Erfolgschancengleichheit („one man, one vote“) gelte nicht, weil „diese bei jeder nicht nur unerheblichen Kontingentierung der Sitze verfehlt wird.“ (Rn. 281) Im Europäischen Parlament werden die Sitze aber bekanntlich kontingentiert. Es gibt eine degressiv proportionale Vertretung der Bürgerinnen und Bürger, so dass ein Abgeordneter aus Malta etwa ein Zwölftel der Bürger repräsentiert wie seine Kollegin aus Deutschland. Ergebnis: „Das – gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen – bestehende Defizit der europäischen Hoheitsgewalt“ (289) könne auf europäischer Ebene nicht ausgeglichen werden.

Diese Schlussfolgerung ist ein zentrales Problem des Urteils: während die Maastricht Entscheidung eine demokratische Entwicklung in Europa eingefordert hat, verharrt das Lissabon Urteil eher in nationaler Starre – Demokratie so scheint es insgesamt, kann es in Europa nicht geben. Die Klage der Linken intendierte ein Stärkung der europäischen Demokratie und nicht deren Ersetzung durch nationale Parlamente.

Europäische Demokratie bleibt auf der Strecke

Das Europäische Demokratiedefizit, so das Urteil weiter, spreche aber nicht gegen die Ratifikation des Vertrages, weil Europa kein Staat sei, sondern ein Staatenverbund. Wenn die EU kein Staat ist, wird weiter gefolgert, müsse das demokratische Niveau nicht demjenigen eines Staates entsprechen. Die Begründung für diesen Schluss bleibt das Gericht schuldig. Und die Aussage ist nicht in Übereinstimmung zu bringen mit dem eigenen Ansatz, wonach Demokratie dort erforderlich ist, wo hoheitliche, verbindliche Entscheidungen in die Freiheit der Bürger eingreifen. Die faktische Wirkung europäischer Entscheidungen auf die Lebensbedingungen der Bürger spielt nun im Erstaunen über den Nicht-Staat EU keine Rolle mehr. Es komme nicht darauf an, in welcher Quantität und Qualität Freiheit und Lebensbedingungen der Bürger durch die EU strukturiert werden, sondern auf die verbleibenden Gestaltungsmöglichkeiten des deutschen Parlaments. (Rn. 351)

Nachdem das Gericht so die demokratische Legitimation von der EU auf den Bundestag heruntergezoomt hat, treffen sich die nationale und die demokratische Perspektive wieder und können einen Kompromiss eingehen. Aus nationaler Perspektive wird gefordert, dass nationale Souveränitätsrechte nicht geopfert werden, aus demokratischer Perspektive wird gefordert, dass der Bundestag stärker an europäischen Entscheidungen mitwirkt, indem er der Bundesregierung Weisungen erteilt. Das Europa der Demokraten, die Forderung nach einer europäischen Demokratie und die demokratischen Europäer bleiben so allerdings auf der Strecke – sie sitzen weiter in der linken Opposition.

Das wäre allerdings die Perspektive für Europa gewesen: die EU auf demokratische Füße zu stellen. Insofern ist die Entscheidung konservativ, sie stärkt die Souveränität des deutschen Nationalstaates gegenüber der europäischen Demokratie.

Stärkung des Parlaments höchst zweifelhaft

Um das deutsche Parlament an den Entscheidungen der Regierung im Rat der EU zu beteiligen, hat das BVerfG – eher nebenbei – eine neue Konstruktion entwickelt; nämlich ein imperatives Mandat des Bundestages an die Bundesregierung. Über Entscheidungen des Parlaments soll das Verhalten der Bundesregierung im Rat programmiert werden. In bestimmten Abstimmungsverfahren im Rat kann, so das BVerfG, „die Bundesregierung nur auf entsprechende Weisung des Deutschen Bundestages … handeln.“ (Rn. 418; ähnlich 400, 365 – Die Randnummern beziehen sich auf: “Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009”)

In welchen Bereichen soll das geschehen?

Da ist vor allem die nationale, souveränitätsorientierte Dimension zu nennen: Der Bundestag soll überall dort ein Gesetz beschließen und/oder Weisungen erteilen, wo der Lissaboner Vertrag Kompetenz-Kompetenz Regeln enthält. Mit verschiedenen Konstruktionen – Vertragsänderung (Art. 48 VI EUV), Brückenklausel (Art. 48 Abs. 7 EUV) oder Vertragsabrundung (Art. 352 AEUV) – ist es dem Rat möglich, die Kompetenzen der EU auszudehnen oder die Abstimmungsmodi von der Einstimmigkeit auf die Mehrheitsentscheidung zu verschieben. Immer wenn dies geschehen soll, sind Abstimmungen im Rat erforderlich, und bevor die Bundesregierung einer solchen Kompetenzerweiterung zustimmt, muss sie ein positives Votum oder eine Weisung des Bundestages einholen.

Dann stellt das Gericht fest, dass dem nationalen Gesetzgeber ausreichend Gestaltungsräume verbleiben müssen und sondiert potenzielle Konfliktfälle im europäischen Recht. Dabei zählt das Gericht eine zunächst nicht sofort einleuchtende Mischung von Regelungsbereichen auf, die es für die Freiheit und Lebensbedingungen der Bürger für wesentlich hält. Die Mischung hängt u.a. von den neuen Befugnissen der Union ab, die sie mit dem Lissaboner Vertrag erhält.

Wie ist nun die demokratische Gestaltung dieser Lebenswelten durch den Bundestag zu sichern?

Hier gibt es unterschiedliche Strategien. Für einige Bereiche wählt es das imperative Mandat, etwa für den Einsatz der Streitkräfte nach Beschluss des Europäischen Rates: „Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Bundeswehr ist integrationsfest. … Nur die Entscheidung über den jeweiligen konkreten Einsatz hängt von der konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages ab.“ (255)

Im Bereich des Strafrechts wählt es eine Mischung aus restriktiver, verfassungskonformer Auslegung der europäischen Kompetenzen und in bestimmten Fällen aus einer parlamentarischen Weisung des zuständigen Ministers im Rat, nämlich dann, wenn das sog. Notbremseverfahren eingeleitet wird (Rn. 365). Das Mittel der verfassungskonformen Auslegung kennzeichnet auch die Prüfung anderer, neuer Ermächtigungsnormen, beispielsweise der ausschließlichen Kompetenz der EU in Fragen des Handelsrecht, wozu z.B. Verträge mit der WTO gehören. Die Regierung müsse den Bundestag ausreichend informieren (Rn. 375).

Das hört sich alles gut an, ob es aber die Praxis ändert, zu einer faktischen Stärkung des Souveräns führt, ist höchst zweifelhaft. Die Fälle sind zu begrenzt, um das Parlament so zu stärken, dass die Problematik der Ermächtigung eingefangen wird.

Ist das Spiel über die europäische Bande ausgeschlossen?

Wenn man den Ansatz des imperativen Mandats weiterdenkt, stellt sich nämlich die Frage, inwieweit es überhaupt noch Regelungsmaterien gibt, die einer parlamentarischen Weisung entzogen sind. Man könnte fragen, wo logisch die Verpflichtung der Regierung aufhört, vor wesentlichen Entscheidungen im Rat eine Weisung des Parlaments einzuholen. Außer durch seine beanspruchte Autorität und die aufgezählten Fallvarianten begründet das BVerfG jedenfalls kein relevantes Abgrenzungskriterium. Die CSU diskutiert diesen Ansatz inzwischen. Sie würden das demokratische Niveau der Europäischen Entscheidungen, soweit sie Deutschland betreffen, deutlich heben. Das berühmte Spiel über Bande, bei dem die Regierung dem Parlament Europarecht vorsetzt, gegen das es auf nationaler Ebene revoltiert hat (z.B. Vorratsdatenspeicherung), wäre damit ausgeschlossen.

Neoliberale Marktordnung Europas gilt als unantastbar

Wirtschaftspolitisch ist das Lissabon-Urteil völlig unterbelichtet. Über den neoliberalen Konsens konnte das Gericht offenbar nicht hinaus denken. Die Beschränkung demokratischer Gestaltungsfreiheit auf europäischer wie auf nationaler Ebene durch die wirtschaftspolitischen Festlegungen der Europäischen Verträge prüft es nur unter dem Gesichtspunkt Sozialstaat und EU. Dabei versteigt sich das Gericht auch noch zu der These, dass die von den Gewerkschaften europaweit scharf kritisierten Urteile Viking, Laval und Rüffert Teil des europäischen Sozialstaates sind. Wörtlich: „In der Entscheidung vom 11. Dezember 2007 stellte der Gerichtshof sogar die Existenz eines europäischen Streik-Grundrechts fest (EuGH, Rs. C-438/05, Viking, Slg. 2007, S. I-10779 Rn. 44)“ (Rn. 398). Dadurch haben die Gewerkschaften allerdings nichts gewonnen, denn ein nationales Streikrecht gibt es in allen Mitgliedstaaten. Sie haben verloren, weil dieses möglicherweise der Dienstleistungsfreiheit weichen muss. Dies als Teil des Sozialstaates zu feiern, ist eher zynisch.

An die stärkeren Passagen zur Demokratie reicht die Beurteilung der europäischen Marktordnung und ihre mittelbare Auswirkung auf den Sozialstaat nicht annähernd heran. An dieser Stelle ist das Urteil ziemlich offensichtlich mit heißer Feder zusammengeschrieben. Die wirtschaftspolitische Kompetenz scheint im Gericht eher ein Schattendasein zu fristen. Die Schatten fallen auf die 60 % der Menschen, die Europa für fern, kalt und fremd halten und deshalb nicht wissen, warum wählen. Die Gewerkschaften gehören in Europa nicht mehr zu den relevanten Gruppen, deren Diskurse zu beachten sind. Die neoliberale Marktordnung Europas ist für das BVerfG sakrosankt.

Fortschritte bei der europäischen Demokratie werden ausgebremst

So bleibt: Das Urteil spiegelt einen deutlich erkennbaren Kompromiss zwischen nationalen, souveränitätsorientierten und demokratischen Ansprüchen wider; etwas anderes war nicht zu erwarten. Immerhin wird über diesen Kompromiss das deutsche Parlament eindringlich an seine Aufgaben erinnert und gewarnt, die parlamentarische Kultur des Diskurses, der Beratung und Kontrolle der Exekutive aufzugeben. Schließlich bedurfte es der Klagen vor dem BVerfG, um die Entwicklung Europas und den Lissaboner Vertrag zu einem Thema in der deutschen Öffentlichkeit zu machen. Fortschritte der europäischen Demokratie werden allerdings ausgebremst.

*Andreas Fisahn ist Professor für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtstheorie an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld.
Er ist Autor der Bücher „Herrschaft im Wandel – Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates“ (Köln 2008), „Europa am Scheideweg – Kritik des EU-Reformvertrages“ (HH 2008) und „Verfassungsrecht Konkret – Die Grundrechte“ (Berlin 2008).


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