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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Vom kollektiven Wahn der „Die-Groko-ist-schuld-an-der-Niederlage“-Erzähler und den Folgen für unser Land: Eine schlimme Koalition steht ins Haus.
Datum: 29. September 2017 um 14:37 Uhr
Rubrik: SPD, Strategien der Meinungsmache, Wahlen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Die SPD-Führung um Martin Schulz hat zwar die Wahl verloren, aber sie hat den Kampf um die Erzählung über die Gründe dieser Katastrophe haushoch gewonnen: „Die Große Koalition ist schuld“ – so tönt es aus allen Lautsprechern, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen. Dieser Spin, diese Erzählung, hatte gleich am Wahlabend das erste Opfer. Die SPD-Führung gab die Option für eine Regierungsbeteiligung aus der Hand. Sie zog sich beleidigt in die Oppositionsrolle zurück. Das ist schon deshalb schlecht, weil Jamaika vermutlich fürchterlich wird. Albrecht Müller.
Die NachDenkSeiten sind vor 14 Jahren ans Netz gegangen, um Meinungsbildungsprozesse durchschaubar zu machen und dazu notfalls auch gegen den Strich zu bürsten. Das hat Jens Berger gestern mit einer Bewertung der Vorschläge des französischen Präsidenten getan, eine Bewertung, die ihnen derart aufklärend andere Medien selten bieten. Ich will heute im Sinne des Grundanliegens der NachDenkSeiten analysieren, wie man uns mit den Erzählungen über die Gründe des Wahlausgangs hinters Licht führt:
Die Koalition der vier neuen Partner wird eine Mittel-bis-Oberschicht-Koalition. Dafür werden FDP und Die Grünen sorgen; der Arbeitnehmerflügel der Union ist so ausgedünnt, dass von dort nur wenige soziale Akzente gesetzt werden können. Praktisch wird uns der Wirtschaftsflügel der Union zusammen mit den Bürgerlichen von Grünen und FDP regieren. Wo der Hase langläuft, das konnte man jetzt schon an der Zustimmung Angela Merkels zu den Vorschlägen von Macron sehen.
Sicherheitspolitisch wird die neue Koalition alles absegnen, was USA und NATO von uns verlangen und jetzt ja auch der französische Präsident ins Spiel gebracht hat: militärische Interventionen all überall auf der Welt und mehr Geld für die Rüstung. Immerhin hatte die SPD im Wahlkampf noch ins Spiel gebracht, nicht mehr Geld für Rüstung auszugeben und die 2%-Forderung von USA und NATO nicht zu befolgen. Das hätte sie in eine neue große Koalition als wichtige Forderung einbringen können. Jetzt ist das passé.
Jamaika ist von den Atlantikern besetzt. Typische Vertreter dessen sind die Spitzenkandidaten der Grünen, Özdemir und Göring-Eckardt. Von der ehemaligen Friedenspartei Die Grünen ist kein Widerstand gegen die Dominanz des Militärischen zu erwarten.
Auch die Aggressivität gegenüber Russland wird von den Grünen in der neuen Jamaika-Koalition kräftig mit genährt werden. So wird auch an diesem Thema sichtbar, wie wichtig es gewesen wäre, dass die SPD sich ihre Option für eine Regierungsbeteiligung offengehalten hätte. Immerhin stand Gabriel zumindest in letzter Zeit als Außenminister für eine leichte Öffnung auch in Bezug auf die Sanktionen. Mit der CSU zusammen wäre man bei diesem Thema wahrscheinlich ein ganzes Stück in einer großen Koalition weitergekommen. Jetzt können wir unsere Hoffnungen auf eine Milderung der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland nur noch an der CSU festmachen, vielleicht noch ein bisschen an der FDP.
Hier ist eine nützliche Tabelle mit den Bundestagswahlergebnissen seit Beginn der Bundesrepublik. Ein Ausschnitt für die zur Analyse wichtige Zeit ist hier:
Der SPD erreichte mit dem Kanzlerkandidaten Schröder und dem Parteivorsitzenden Lafontaine 1998 40,9 %. Das gute Ergebnis und der damit mögliche Regierungswechsel von Kohl zu Schröder gründete auch in der mit den beiden Personen erkennbaren Breite der SPD.
Am Ende der rot-grünen Koalition, im Jahr 2005, hatte die SPD schon 6,7 % verloren. Ein erster großer Verlust, der offensichtlich mit einer großen Koalition nichts zu tun hat; dann regierte ab 2005 die große Koalition und die SPD verlor bis 2009 kräftig. Dann waren es nur noch 23 %, und dann 2013, nach vier Jahren Opposition 2,7 % mehr und dann wieder ein neuer Verlust auf 20,5% bis 2017.
Da mag die Regierungsbeteiligung unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel eine Rolle gespielt haben. Aber ausschlaggebend für die dramatische Halbierung seit 1998 ist doch nicht die Regierungsbeteiligung oder die Rolle der Opposition. Ausschlaggebend waren die großen politischen Entscheidungen der SPD, die ihr Profil als fortschrittliche und der Sozialstaatlichkeit und der Friedenspolitik verpflichtete Partei zertrümmerten:
Das und einiges mehr sind die Ursachen für den Verlust an Profil und Glaubwürdigkeit und für die jetzt erreichte absolute Katastrophe von 20,5 % und den Verlust des Charakters einer Volkspartei.
Der kollektive Wahn grassiert.
Schulz und die SPD-Führung erzählen die Geschichte vom Unglück mit der großen Koalition.
Selbst ein Abgeordneter, der das Image pflegt, eine eigene Meinung zu haben, fällt auf diesen Trick herein: Marco Bülow aus Dortmund hat einen Aufruf gestartet: „SPD.erneuern“. Siehe hier. Dort schreibt er:
„Der Ausschluss der Fortsetzung einer Großen Koalition ist notwendig und darf nicht aufgegeben werden, falls Jamaika scheitert. … In der Großen Koalition hat die SPD stark an Vertrauen und Profil eingebüßt.“
Zuvor habe ich gezeigt, dass dies einfach nicht stimmt. Und dass dieser Abgeordnete auch noch dazu aufruft, auch dann nicht Regierungsverantwortung zu erwägen, wenn Jamaika scheitert, ist bemerkenswert. Trotzig jedenfalls, klug nicht.
Überall ist die Wahnvorstellung, die SPD sei wegen der großen Koalition abgesackt, verbreitet – bei der Bürgermeisterin von X wie beim sozialdemokratischen Iraner auf dem Markt in der Stadt, auch bei der Intelligentia und den Vertretern der Kunst und Literatur, die den Aufruf der „Aktion für mehr Demokratie e.V.“ unterschrieben haben. 1300 intelligente Menschen haben hier unterschrieben, dass sie die große Koalition nicht mehr wollen, weil sie in ihr offenbar den Grund und die Ursache allen Übels sehen.
Mir sind inzwischen zwei rühmliche Ausnahmen begegnet:
Sicher gibt es auch noch andere Stimmen der Vernunft. Aber nach meinem Eindruck wenige.
Es ist noch eine Anmerkung zu dem Versuch fällig, Angela Merkel für die SPD-Schlappe verantwortlich zu machen.
Schulz hat das ja schon beim Duell mit Merkel am 3. September und dann am Wahlabend versucht. Merkels Wahlkampf sei skandalös gewesen, sie habe sich der Debatte entzogen und Politik verweigert.
Auf diese Idee, dem politischen Konkurrenten solches vorzuwerfen, wäre keiner der Spitzenpolitiker, weder Brandt noch Schmidt, weder Johannes Rau noch Hans-Jochen Vogel, deren Wahlkampf ich mitgestaltet oder zumindest beobachtet habe, gekommen. Die CDU-Vorsitzende ist doch nicht verpflichtet, den Bedürfnissen der Konkurrenz gerecht zu werden. Es ist doch Sache ihres politischen Konkurrenten, also im konkreten Fall von Schulz und der SPD, sie zu stellen und den Wahlkampf entsprechend anzulegen.
Das ist nicht gelungen, weil die SPD sich in weiten Teilen der CDU angepasst hat, nicht umgekehrt, wie immer behauptet wird. Die bei der Attacke von Schulz auf Merkel mitschwingende Behauptung, die CDU und Merkel hätten sich „sozialdemokratisiert“, ist doch nicht richtig. Das ist Teil einer cleveren Strategie.
Damit nicht der falsche Eindruck entsteht, die NachDenkSeiten würden Angela Merkel ungebührlich in Schutz nehmen, muss darauf hingewiesen werden, dass wir wahrscheinlich mehr und Gründlicheres zur Entzauberung dieser Bundeskanzlerin geliefert haben als die SPD selbst. Seit Jahren tun wir das, zuletzt hier: Es gibt nicht nur 14 Gründe, Angela Merkel abzuwählen. Es gibt viele mehr: mindestens 27 insgesamt. und hier Merkel-Land ist ein hohles Land. Mit viel Protz und wenig Empathie. 14 gute Gründe dafür, Angela Merkel nicht zu wählen. Oder hier Werner Rügemer auf den NachDenkSeiten: Schauen Sie bitte künftig Angela Merkel auf die Finger. Um Ihren Blick zu schärfen, weisen wir auf das jetzt vorliegende Video mit Werner Rügemers …
Diese Dokumente können für Sie von Nutzen sein, wenn Sie sich künftig vermehrt in die politische Debatte einschalten wollen.
Die Antworten auf diese Fragen kennt man natürlich nicht, aber man kann versuchen, sie zu erforschen. Zweifel sind berechtigt. In Stichworten:
Schulz hat das alles aus der Hand gegeben, und alles um der billigen Rechtfertigung für den Wahlverlust willen. Weil er und die SPD-Führung nicht bekennen wollen, warum sie wirklich verloren haben.
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