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Titel: „Auch bei uns ist der Ausnahmezustand nicht ausgeschlossen“
Datum: 26. September 2017 um 8:49 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Überwachung, Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Interviews
Verantwortlich: Redaktion
Die Gefahr autoritärer ‘Lösungen’ wächst, wenn „der Rechtsstaat abgebaut, unterminiert oder ‘ausgesetzt’ wird.“ Dieser Auffassung ist der ehemalige Bundesdatenschützer Peter Schaar, der gerade das Buch Trügerische Sicherheit: Wie die Terrorangst uns in den Ausnahmezustand treibt, veröffentlicht hat. Darin betont Schaar, wie wichtig es auch in Zeiten des Terrors ist, auf die demokratische Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols zu achten. Im Interview mit den NachDenkSeiten spricht der ehemalige oberste Datenschützer des Landes unter anderem über den Verrat westlicher Grundwerte im so genannten ‘Kampf gegen den Terrorismus’ und über die Situation in Frankreich, wo bereits seit November 2015 der Ausnahmezustand herrscht. Schaar äußert die Befürchtung, dass auch in Deutschland bei einem schweren terroristischen Anschlag das Notstandsrecht Anwendung finden könnte. Das Interview führte Marcus Klöckner.
Herr Schaar, haben die westlichen Staaten ihre Grundwerte im so genannten Kampf gegen den Terrorismus verraten?
Nach dem 11. September 2001 wurden nicht nur in den USA im Schnelldurchgang Gesetze verabschiedet, welche Grundrechte massiv einschränkten. In Deutschland brachte der damalige Bundesminister Otto Schily den so genannten „Otto-Katalog“ innerhalb weniger Wochen durch den Bundestag. Viele der damals weltweit ohne gründliche parlamentarische Beratung beschlossenen Gesetzesverschärfungen lagen schon in den Schubladen der Ministerien, hatten jedoch kaum eine Chance auf eine parlamentarische Mehrheit. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 änderte sich dies schlagartig. Diese Erfahrung mussten wir seither immer wieder machen. Stets folgen auf terroristische Anschläge dazu reflexartig neue Gesetzesverschärfungen und Grundrechtseinschränkungen. Besonders gravierend ist, dass dabei auch rechtsstaatliche Garantien unter die Räder kommen, die den Kern der westlich-liberalen Werteordnung bilden.
In Ihrem Buch sprechen Sie von einem Verrat. Wie sieht dieser Verrat denn aus?
Nach den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gab es in der internationalen Völkergemeinschaft einen Konsens, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Nationalität, Herkunft und Religionszugehörigkeit die gleichen unveräußerlichen Menschenrechte besitzen. Der vom damaligen US-Präsidenten Bush kurz nach den Anschlägen vom 11. September erklärte „global war on terror“ setzte diese menschenrechtlichen Garantien aus. Das bis heute bestehende Gefangenenlager von Guantanamo ist der sichtbare Ausdruck dieser Entwicklung. Auch andere Staaten haben sich seitdem schleichend oder erklärtermaßen von den durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verbürgten Grund- und Menschenrechten verabschiedet oder diese zumindest suspendiert. Das gilt zum Beispiel für Frankreich, wo seit dem November 2015 der Ausnahmezustand in Kraft ist. Die französische Regierung hatte seinerzeit gegenüber dem Europarat erklärt, dass Frankreich die in der europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Grundrechte nicht mehr anwendet. Durch diesen Grundrechteabbau verspielen die westlichen Staaten ihren moralischen Kredit und sie unterminieren die Glaubwürdigkeit von Menschenrechtsargumenten weltweit. Davon profitieren vor allem diejenigen Regimes und Ideologien, bei denen Menschenrechte ohnehin keine Rolle spielen.
Welche Maßnahmen sind zu beobachten, mit denen der Staat der Terrorgefahr entgegentritt?
Grundrechte wurden auf breiter Ebene beeinträchtigt. Das betrifft die Pressefreiheit, das Demonstrationsrecht und das Grundrecht auf Privatsphäre. Letztlich geht es darum, den Sicherheitsbehörden und gegebenenfalls dem Militär im globalen Anti-Terror-Krieg freie Hand zu lassen. Zum Instrumentenkasten gehören Geheimhaltung staatlicher Aktivitäten, gezielte Desinformation und Zensur, ebenso Demonstrationsverbote und umfassende Überwachung. Allerdings machen die Regierungen von diesen Werkzeugen in unterschiedlichem Maße Gebrauch. Vielfach werden dabei nicht nur die Rechte von Verdächtigen eingeschränkt. Wie wir derzeit besonders in der Türkei beobachten können, wird das Argument der Terrorbekämpfung gegen alle möglichen oppositionellen Bestrebungen und sogar gegen Journalisten eingesetzt, die über für den Staat unangenehme Wahrheiten berichten.
Was bedeutet es für einen freiheitlichen Staat, wenn beispielsweise die Videoüberwachung ausgeweitet, Polizisten mit Bodycams und automatisierte Lesesysteme zur Erfassung von KFZ-Kennzeichen eingeführt werden?
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits vor mehr als 30 Jahren festgestellt, dass die Grundrechtswahrnehmung beeinträchtigt wird, wenn der Einzelne damit rechnen muss, dabei durch staatliche Behörden überwacht zu werden. Angesichts der zunehmenden Überwachung gilt dies heute in besonderem Maße. Deshalb muss Überwachung die Ausnahme bleiben. Die von unserer Verfassung geforderte Verhältnismäßigkeit gilt auch in Zeiten terroristischer Bedrohung.
Stimmen Sie der Aussage zu: Das Problem sind nicht so sehr einzelne Maßnahmen, mit denen Bürger überwacht werden können. Das Problem ist die Etablierung einer regelrechten Überwachungsinfrastruktur, die sich aus vielen verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt?
Manche sprechen in diesem Zusammenhang ja von einer „Überwachungsgesamtrechnung“. Jede einzelne Überwachungsmaßnahme bedarf einer Begründung. Von besonderer Bedeutung ist aber der Kumulationseffekt, der sich aus unterschiedlichen Überwachungsmaßnahmen ergibt: Vorratsdatenspeicherung, Kommunikationsüberwachung, Videokontrolle und so weiter. Selbst wenn jede Einzelmaßnahme für sich genommen angemessen erscheint, kann das Gesamtergebnis inakzeptabel sein.
Sie haben es bereits erwähnt: In Frankreich wurde nach einem Terroranschlag der Ausnahmezustand eingeführt. Der Ausnahmezustand besteht bereits seit dem 13. November 2015 und wurde erst im Juni dieses Jahres erneut bis zum 1. November verlängert.
Was bedeutet der Ausnahmezustand überhaupt und wie nehmen Sie diese Situation war?
Der Ausnahmezustand ist die extremste Abweichung von der rechtsstaatlichen Normalität. Ähnlich wie in einer Kriegssituation müssen Freiheitsrechte pauschal gegenüber dem staatlichen Sicherheitsinteresse zurückstehen. Das französische Beispiel zeigt, dass es sich dabei nicht um eine kurzfristige Maßnahme handeln muss und dass dem Ausnahmezustand die Tendenz innewohnt, permanent zu werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die auslösenden Faktoren, hier: die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, fortbestehen.
Der Regierung stehen also praktisch unbegrenzte Machtmittel durch die Verhängung des Ausnahmezustandes zur Verfügung.
Der Ausnahmezustand gibt der Exekutive jedenfalls zusätzliche Machtmittel und schwächt die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle – die Gewaltenteilung ist nicht mehr gewährleistet.
Sie äußern in Ihrem Buch die Befürchtung, dass es auch in Deutschland bei schweren Anschlägen zur Anwendung des Notstandsrechts kommen kann. Auf welcher rechtlichen Basis könnte das passieren und was würde das bedeuten?
Die 1968 von der Großen Koalition durchgesetzten Notstandsgesetze ermöglichen bei bewaffneten Auseinandersetzungen den Einsatz von Militär und die Aussetzung parlamentarischer Kontrollmechanismen. Natürlich stellt sich die Frage, ob eine Bundesregierung nach Attentaten, die wie in Paris mit militärischen Waffen erfolgen, den Notstand ausrufen könnte. Auch bei uns ist der Ausnahmezustand also nicht ausgeschlossen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sowohl staatliche als auch nichtstaatliche „Trittbrettfahrer“ ihren Nutzen aus der Terrorangst ziehen.
Wie meinen Sie das?
„Normale“ Kriminelle nutzen die Situation, indem sie etwa Erpressungen unter dem Mantel des Terrorismus organisieren, wie dies etwa bei dem Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund geschehen ist. Die aufgeflogene rechtsradikale Terrorzelle in der Bundeswehr plante Attentate, die sie Asylbewerbern zuschreiben wollte. Wie staatliche Stellen den Antiterrorkampf für ganz andere Zwecke verwenden, zeigt sich nirgends so deutlich wie in der Türkei.
Vor welchen Gefahren steht unsere Demokratie im Zusammenhang mit der Terrorgefahr?
Demokratie ist ohne Rechtsstaat nicht überlebensfähig. Indem der Rechtsstaat abgebaut, unterminiert oder „ausgesetzt“ wird, wächst die Gefahr autoritärer Lösungen. Letztlich geht es also um eine existenzielle Frage.
Leseempfehlung: Peter Schaar. Trügerische Sicherheit: Wie die Terrorangst uns in den Ausnahmezustand treibt. Edition Körber.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
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