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Titel: Ein großer Fehler der Linkspartei: Sie hätte Sahra Wagenknecht zur Kanzlerkandidatin machen sollen.
Datum: 14. September 2017 um 15:31 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, DIE LINKE, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Wahlen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Dann wäre der Anspruch auf den politischen Wechsel sichtbar geworden. Dann wäre die fortschrittliche Alternative personalisiert – was angesichts der Neigung vieler Menschen, die Politik wie den Sport und die Unterhaltung an Personen festzumachen, nur eine Konzession an diese Gewohnheit gewesen wäre. Am Beispiel eines Interviews mit Sahra Wagenknecht, dessen Verschriftung unten folgt, will ich sichtbar machen, wie berechtigt diese Personalisierung und die Nominierung als Kanzlerkandidatin gewesen wäre. Hoffentlich ist man beim nächsten Mal klüger und lässt die parteiinternen Eifersüchteleien beiseite. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Übrigens: Auch die Linkspartei ist in Gefahr, von innen heraus zermürbt und entleert zu werden, wie wir das bei den Grünen und der SPD erlebt haben. Die Unterwanderung von potenziell fortschrittlichen Parteien gehört wie die Lobbyarbeit und die Propaganda zu den Methoden, mit deren Hilfe sichergestellt werden soll, dass die neoliberalen und militärisch orientierten Kräfte die Oberhand all überall auf der Welt behalten. Ich verweise auf den gestrigen Beitrag „Ein Politbüro für den Kapitalismus?“ So fragte der „Spiegel“ im Blick auf das mächtige „Council on Foreign Affairs“ (CFR).
Hier aber nun zunächst das Video mit Sahra Wagenknecht und hier das verschriftete Interview. Wer sich genauer informieren will, sollte sich Wagenknechts Buch „Couragiert gegen den Strom“ vornehmen:
„Wenn ich ehrlich sein will zu mir selbst, muss ich mich auch politisch engagieren und deswegen habe ich damals dann 1990/91 damit angefangen.“
Sahra Wagenknecht, Spitzenkandidatin der LINKEN, im Gespräch über ihre Politik, ihr neues Buch, Goethe und die Zukunft
Politisch gegen den Strom zu schwimmen, kostet Kraft und Mut. Woher nehmen Sie beides?
Wenn man sich die Welt anguckt, acht Superreiche haben mehr Vermögen als die Hälfte der Weltbevölkerung, dann ist das doch krank und es zeigt auch, dass diese Wirtschaftsordnung krank ist. Selbst in einem Land, das so reich ist wie Deutschland, wo die Wirtschaft brummt, wo die großen Unternehmen mehr verdienen als je zuvor, gibt es immer mehr schlecht bezahlte, unsichere Arbeitsverhältnisse. Die Menschen haben Angst vor Altersarmut. Wir haben miserabel ausgestattete Schulen für unsere Kinder und ich finde, das darf man nicht hinnehmen. Man darf sich nicht damit abfinden und das ist für mich auch die Motivation hier etwas zu ändern.
Kann man in Zeiten großer Koalitionen und des neoliberalen Mainstreams Politik gegen den Strom machen?
Das ist nicht nur möglich, sondern eigentlich die Aufgabe demokratischer Politik, dass sie eben nicht für die oberen Zehntausend sich einsetzt, sondern für die Interessen der Mehrheit. Aber, man braucht natürlich das Rückgrat, sich wirklich mit den Mächtigen, mit denen, die die Konzerne lenken, mit denen, die an der Spitze der Banken stehen und vor allen Dingen mit den großen Eigentümern von Kapital, anzulegen und dieses Rückgrat fehlt leider den meisten Politikern. Und vor allem muss man aufpassen, dass man sich nicht kaufen lässt. Gerade Parteispenden an große Unternehmen oder aber die Verlockungen durch lukrative Aufsichtsratsmandate – das ist gekaufte Politik und die setzt sich dann eben nicht mehr für die Mehrheit ein.
Stichwort „gekaufte Politik“ – werden Politiker zu schlecht bezahlt?
Ich glaube, daran liegt’s nicht, aber es ist natürlich für manche Leute lukrativ, sich am Ende der politischen Laufbahn nochmal das ganz große Geld zu sichern, indem sie ihre Adressbücher versilbern. Und ich denke, es ist immer ein Problem, wenn sich in den Händen von Wenigen riesige Vermögen zusammenballen, weil dadurch immer die Macht entsteht, auch das politische Geschehen zu beeinflussen und am Ende ist das mit Demokratie einfach nicht vereinbar.
Handeln Politiker aktiv oder werden sie getrieben?
Ich glaube, es gibt in allen Parteien Politiker, die sich ganz ehrlich, couragiert und engagiert, zum Beispiel in ihrem Wahlkreis, für bestimmte Dinge einsetzen. Aber wenn es um die Bundespolitik geht, dann nehmen natürlich bestimmte Lobbys massiv Einfluss, und zwar Lobbys, die auch eine Kampagnenmacht haben, die auch Macht über Medien haben. Wir haben es ja jetzt aktuell wieder gesehen, wie zum Beispiel eine Forderung, die vor wenigen Jahren von den meisten Parteien noch unterstützt wurde, nämlich die Forderung nach einer Vermögenssteuer, wie diese Forderung durch eine massive Pressekampagne so diskreditiert wurde, dass noch nicht einmal mehr die SPD sich traut, diese Forderung in ihr Wahlprogramm zu schreiben. Das heißt, wenn man sich mit diesen Mächtigen anlegt, muss man natürlich auch damit rechnen, dass man von den von ihnen dominierten Medien Gegenwind bekommt. Ich glaube, das wollen viele Politiker nicht. Vor allem haben wir folgendes Problem: Es gibt nicht Wenige, die gehen nicht in die Politik, weil sie tatsächlich etwas ändern wollen, weil sie politische Überzeugungen haben usw., sondern weil sie einfach zufällig in eine bestimmte Partei geraten sind und dann gucken, wie sie sich da irgendwie durchwinden und das ist natürlich keine gute Voraussetzung für verlässliche Politik.
Hat sich Politikmachen verändert, seit sie dabei sind?
Ich denke, es hat sich längerfristig gesehen schon etwas verändert. Politik wird viel stärker medial gemacht. Das Debattenforum beispielsweise ist ja vom Bundestag in die Talkshows verschoben, was natürlich ein Problem ist. In den letzten Jahren hat neben den Talkshows die Bedeutung der sogenannten „Sozialen Medien“, also Twitter, Facebook usw., extrem zugenommen. Jeder, der politisch etwas erreichen will, bedient inzwischen diese natürlich auch. Nur, er bedient damit natürlich auch Konzerne mit einem unkontrollierbaren Algorithmus. Bei Facebook habe ich zwar im Griff, was ich einstelle. Aber ich habe nicht im Griff, was der User tatsächlich sieht. Das entscheidet der Algorithmus von Facebook. Insoweit sind das eben einfach auch noch mal ganz neue Mechanismen. Umgekehrt gilt allerdings auch: keiner kann mich dort zensieren, ich bin nicht davon abhängig, ob ARD, ZDF oder eine Zeitung der Meinung ist, meine Meldung ist gut genug, um davon zu berichten. Ich kann alles dort einstellen, was ich einstellen will. Es gibt also Vor- und Nachteile, aber es ist eben tatsächlich ein neues Medium seit einigen Jahren, das es vorher so gar nicht gab.
Ist die SPD noch zu retten?
Das wüsste ich auch gern. Ich habe schon seit Jahren immer wieder gedacht, okay, jetzt ist das Limit erreicht, jetzt fängt sie sich wieder. Auch damals, als Frank-Walter Steinmeier die 23 Prozent erreichte, da dachte man doch, irgendwie muss die SPD doch verstehen, dass wenn sie gegen ihre eigenen Wähler Politik macht, wenn sie Renten kürzt, wenn sie Löhne drückt, dass das natürlich nicht goutiert wird. Die Vorstandsvorsitzenden der DAX-Konzerne wählen eben nicht SPD und trotzdem haben sie immer weitergemacht. Auch als Schulz nominiert wurde, gab es ja bei vielen zunächst einmal die Hoffnung, dass er die SPD wieder zu einer sozialdemokratischen Partei machen würde. Er hat dann aber in den darauffolgenden Monaten alles dafür getan, diese Hoffnung zu zerstören. Der traurige Endpunkt war das Umjubeln von Starredner Schröder, also ausgerechnet des Agenda-Kanzlers, auf dem SPD-Parteitag und das alles unter dem Slogan „Zeit für Gerechtigkeit“. Absurder geht’s nicht. Also, insoweit: ich weiß es nicht. Zumindest gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass sie wirklich wieder zu einem Kurs zurückfinden will, der ihr Anerkennung bei den Leuten garantieren wird, weil sie sich wirklich für ihre Interessen einsetzt. Sie setzt sich gegen ihre Interessen ein, nach wie vor.
Die wichtigsten Dinge, die Sie in Deutschland ändern würden?
Ich denke, dringend ist die Wiederherstellung des Sozialstaates. Das ist ja noch nicht einmal irgendwie eine sozialistische Forderung. Längerfristig möchte ich eine andere Wirtschaftsordnung, längerfristig will ich den Kapitalismus überwinden. Aber kurzfristig wäre ja schon viel getan, wenn man wenigstens wieder für alle eine gute Krankenversicherung herstellt, dass man nicht mehr zuzahlen muss, dass nicht der Arbeitnehmer alleine oder immer mehr von den Beiträgen zahlen muss. Es wäre viel getan, wenn wir wieder eine Arbeitslosenversicherung hätten, die wirklich vor einem sozialen Absturz schützt und vor allem auch eine Rentenversicherung, bei der nicht Durchschnittsverdiener sogar Angst vor Altersarmut haben müssten. Und dieser ganze Riester-Unsinn, der ist doch gefloppt. Jeder weiß heute, dass das nur Banken und Versicherungen reich macht. Also, warum gehen wir nicht den Weg von Österreich, lassen alle einzahlen, auch Selbständige, auch Beamte und haben am Ende eine gesetzliche Rente wie in Österreich, die aktuell 800 Euro mehr im Monat beträgt als in Deutschland. Das wären ganz wichtige Reformen. Dann brauchen wir ein gerechtes Steuersystem, das nicht Geringverdiener und Mittelverdiener belastet, sondern vor allem Superreiche besteuert und die Vermögenssteuer ist auch ein wichtiger Punkt. Und außenpolitisch muss Deutschland endlich wieder die Kurve bekommen und eine Außenpolitik machen, die sich an den Traditionen Willy Brandts orientiert: also Friedenspolitik, Entspannungspolitik, auch gerade gegenüber Russland. Das wäre ganz, ganz entscheidend statt einer US-Politik, gerade jetzt auch unter Donald Trump, hinterherzulaufen, die den Weltfrieden immer mehr gefährdet.
Wie kann man der Politikverdrossenheit begegnen?
Die Politikverdrossenheit kommt ja daher, dass die Menschen – und das ist für viele sehr wichtig – das Gefühl haben, dass sich die Politik nicht mehr um ihre Interessen kümmert und dass sie auch die Bodenhaftung verloren hat. Wenn Frau Merkel den Menschen erzählt, Deutschland gehe es so gut wie nie zuvor und man weiß aber real, das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnet, vierzig Prozent der Bevölkerung haben heute weniger Einkommen als Ende der 90er-Jahre, dann ist das eine Demonstration einer solchen Ignoranz gegenüber den Lebensverhältnissen, dass man sich nicht wundern muss, dass Menschen sich abwenden, dass sie das Gefühl haben, entweder wissen die Politiker überhaupt nicht mehr, wie es ihnen geht oder aber, sie interessieren sich nicht dafür. Ein Beispiel: Das Wahlplakat der CDU „Für ein Deutschland in dem wir gut und gerne leben“. Das ist doch eigentlich eine Aufforderung, Frau Merkel abzuwählen, denn in diesem Deutschland leben heute eben sehr viele Menschen nicht mehr gut, sondern sehr unsicher. Sie haben einfach Angst, soziale Ängste und andere Ängste. Frau Merkel aber nimmt sozusagen diese Plakatwerbung für sich und die Aussagen werden öffentlich kaum in Frage gestellt.
Kooperation statt Egoismus – werden wir den Raubtierkapitalismus irgendwann überwinden?
Erst einmal liegt ja der Raubtierkapitalismus gar nicht im Interesse der Mehrheit. Selbst unter egoistischen Gesichtspunkten ist die Mehrheit eigentlich Leidtragende des Raubtierkapitalismusses. Es ist aber auch ansonsten überhaupt nicht Realität, dass Menschen so funktionieren, wie in der herrschenden Ökonomie angenommen: Der homo oeconomicus also, der immer nur seinen Nutzen maximiert. Unter dieser Annahme würde auch der Kapitalismus nicht funktionieren. Ich meine, es gibt auch in dieser heutigen Gesellschaft ganz viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, die sich für andere einsetzen. Und selbst in einem Konzern, wenn dort nur Dienst nach Vorschrift gemacht würde, also nur das, was abrechenbar geleistet werden muss, auch getan würde, wäre die Leistung eben nicht da. Das heißt, Menschen sind soziale Wesen und Menschen leiden ja eigentlich auch unter nichts so sehr, wie unter Einsamkeit. Menschen wollen ja auch in einem Umfeld leben, in dem sie nicht das Gefühl haben, dass es riesige soziale Spaltungen gibt. Und insoweit glaube ich, eine Gesellschaft, die nur auf Isolierung setzt, auf Egoismus, die geht auch an den Bedürfnissen der meisten Menschen vorbei. Und diejenigen, die heute ihren Egoismus exzentrisch ausleben, auch in Form von Gier, in Form von schamloser Bereicherung, das ist ein Teil der Oberschicht, das sind Leute an der Spitze von Banken, an der Spitze von Autokonzernen – beweisen einen völligen Verfall von Moral, der dahinter steht und diesen Verfall findet die Mehrheit unserer Gesellschaft auch nicht gut.
Eine Schlüsselsituation Ihrer Politisierung?
Im Grunde gibt’s da zwei. Zunächst einmal war ich als Jugendliche eigentlich mehr mathematisch-naturwissenschaftlich interessiert und gar nicht politisch. Ich habe dann aber mit 16 Jahren angefangen, Goethe zu lesen, klassische Literatur zu lesen, und da habe ich mir zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt die Frage gestellt, warum sind Gesellschaften so, wie sie sind, warum beispielsweise, damals für mich, ist die DDR so ein versteinertes System geworden, obwohl sie doch eigentlich mal andere Ansprüche hatte oder andere Ideale dahinterstanden. Und da habe ich angefangen, über gesellschaftliche Fragen nachzudenken und habe dann natürlich auch später sehr viel Marx gelesen und Rosa Luxemburg, aber dass ich mich wirklich politisch engagiere, das war erst das Ergebnis der Wendezeit, also als ich plötzlich in der Bundesrepublik gelebt habe. Ich wollte immer eine andere DDR, ich war nie besonders glücklich mit den Verhältnissen, die ich in der DDR hatte. Aber ich wollte auch nicht im Kapitalismus leben. Und als ich mich dann nach der Wende auf einmal in eben dieser Bundesrepublik wiederfand, stand natürlich für mich die Frage im Raum, welchen Lebensweg gehe ich jetzt. Vorher wollte ich eigentlich Philosophin werden, wollte an einer Universität arbeiten und dann dachte ich, nee, also irgendwo, wenn ich ehrlich sein will zu mir selbst, muss ich mich auch politisch engagieren und deswegen habe ich schließlich 1990/91 damit angefangen.
Was können wir heute noch von Goethe lernen?
Goethe war einer der frühesten Kapitalismuskritiker. Wenn man den „Faust“, vor allen Dingen „Faust II“ liest, entdeckt man, dass das ein unglaublich prophetisches Werk ist. Goethe hat auf der einen Seite natürlich die Potenziale des Kapitalismus gesehen, Reichtum zu schaffen, Wohlstand zu schaffen, aber eben auch die ganzen Gefahren dahinter. Faust ist ja zum Schluss quasi der Gebieter über einen Weltkonzern und dieser Weltkonzern expandiert weiter und Faust hält es nicht aus, dass ein kleiner Hügel nicht zu seinem Besitz gehört. Weil er aber eben alles beherrschen will, wird er am Ende dadurch zum Verbrecher: Er schickt Mephistopheles und lässt die alten Leute, Philemon und Baucis, verbrennen. Und Goethes „Faust“ enthält auch die prophetische Beschreibung: „Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig sind sie, nicht zu trennen“. Also Welthandel und kriegerische Konflikte um Rohstoffe, das gehört schon für Goethe alles zum Kapitalismus dazu. Also, da steckt unheimlich viel drin, was man entdecken kann und entdecken sollte.
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