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Titel: Es gibt kaum noch kritische Medien. Deshalb muss mit Sorge erfüllen, was bei den „Blättern“ geschieht.

Datum: 6. September 2017 um 14:59 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Globalisierung, Innere Sicherheit, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich:

Eine der beachtenswerten Methoden der Manipulation geht so: Wenn du eine Botschaft glaubwürdig überbringen willst, dann sorge dafür, dass sie von verschiedenen Ecken ausgesandt wird. Konkreter: Wenn du erreichen willst, dass die konservativen und neoliberalen Kräfte an der Macht bleiben, dann sorge dafür, dass sich Personen und Medien, die dem fortschrittlichen Spektrum zugeordnet werden, kritisch über alles Linke äußern. Kritik an Links in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ oder in der Frankfurter Rundschau oder in der TAZ trägt mehr zur Wirksamkeit dieser Kritik bei als 25 Artikel in Springers Welt oder in der FAZ. – Ein NachDenkSeiten-Leser machte jetzt auf einen einschlägigen Artikel in den „Blättern“ aufmerksam. Er hat daraufhin dem Autor von Lucke einen Offenen Brief geschrieben und uns diesen Brief zugänglich gemacht. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Beides dokumentieren wir hier:

Hier finden Sie den Artikel von Albrecht von Lucke

Die neue Linke und die alte Gewaltfrage“, Blätter 8/17

„Die Rauchschwaden über Hamburg haben sich verzogen, aber die politische Deutungsschlacht ist in vollem Gange. Eines steht fest: Der G20-Gipfel markiert eine Zäsur. Er hat das Thema linker Gewalt mit aller Macht zurück auf die politische Agenda gebracht, mit bereits heute verheerenden Konsequenzen.

Am klarsten zeigt dies ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, der G20-Gipfel wäre nach der ersten Demonstration am Donnerstag zu bilanzieren gewesen. Dann sprächen wir heute über den unverhältnismäßigen Einsatz der Polizei, eine Stadt im polizeilichen Ausnahmezustand durch den Schutz des Gipfels sowie über dessen dürftige Ergebnisse – aber nicht über die Verwüstung eines ganzen Straßenzuges durch völlig außer Rand und Band geratene Gewalttäter.

Kurzum: Die Ausschreitungen haben die Bewertung des Gipfels in ihr Gegenteil verkehrt. Faktisch war im Schanzenviertel das staatliche Gewaltmonopol über Stunden aufgehoben, mit der Folge massiver Brandstiftungen und Plünderungen. Dass der alles andere als deeskalierende Polizeieinsatz im Vorfeld dabei eine Rolle gespielt hat, steht außer Frage. Daher bleibt es richtig, weiterhin auch auf das Versagen der politischen wie polizeilichen Führung hinzuweisen, und es ist absurd, wenn Hamburgs Oberbürgermeister Olaf Scholz jegliche Polizeigewalt leugnet und als Denunziation zurückweist.

Wer aber in der Polizeigewalt die Ursache der folgenden Gewaltorgie im Schanzenviertel ausmacht, geht am Kern der Auseinandersetzung vorbei. Denn von einer zwangsläufigen „Logik der Gewalt“ kann keine Rede sein, insoweit muss man die geistige Unabhängigkeit der „Autonomen“ oder „Postautonomen“ schon ernst nehmen. Das aber heißt: Zentrale Aufgabe der Diskussion muss – gerade unter Linken und Liberalen – die Auseinandersetzung mit der linken Gewalt sein.“

… usw. über mehrere Seiten.

Hier folgt der Offene Brief des NachDenkSeiten-Lesers Rammer an Albrecht von Lucke:

Guten Tag, Herr von Lucke!

Ihr engagierter Artikel zur „linken Gewalt“ anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg bedarf einer kritischen Gegenrede. Nicht, weil ich Gewalt befürworten würde – ganz im Gegenteil: Die brutale Polizeigewalt, die ich erlebt habe, hat in mir genauso Bestürzung hervorgerufen wie die destruktive Randale irgendwelcher Leute, die ihre Wut auf diese Weise ausagierten. Aber Ausagieren ist eben keine politische Strategie und so setzte es sich über Anliegen und Ziele der meisten G20-GegnerInnen hinweg.

Über diese grundlegende Einschätzung können wir vielleicht Einvernehmen erzielen. Aber nicht über Ihre Begründungen und Schlussfolgerungen: Diese halte ich für einseitig und gefährlich. Ja, gefährlich, da Sie m.E. von einem vollkommen unrealistischen Idealbild politisch-wirtschaftlicher Machtverhältnisse ausgehen und diese damit verfestigen helfen.

Für Sie „ist und bleibt“ das staatliche Gewaltmonopol „eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften“ (S. 8). Formale Rechte haben nach Ihrer Darlegung im bürgerlichen Rechtsstaat „ihre Verankerung erfahren“ – deshalb fordern Sie dessen Akzeptanz. Sie postulieren eine Auseinandersetzung in rechtsstaatlichen Bahnen, „solange es sich bei der Bundesrepublik um eine Demokratie handelt“. Und Sie wagen die Behauptung, nur die „linke Gewalt“ habe eine vollkommen andere öffentliche Bewertung des G20-Gipfels verhindert. Wenn das Ihr Bild von staatlicher Gewalt, den politisch-wirtschaftlichen Machtverhältnissen und dem Funktionieren der Medien ist, dann leben wir allem Anschein nach in verschiedenen Welten.

Immerhin haben nicht zuletzt die Blätter, deren Redakteur Sie sind, Analysen in großer Zahl abgedruckt – und in den täglichen Nachrichten erfahren diese eine ständige Bestätigung -, die Ihre Sicht auf die Verhältnisse erstaunlich naiv und affirmativ erscheinen lassen. Es würde diesen Rahmen sprengen, die lange Liste erschreckender Ereignisse und Entwicklungen aufzuzählen: Die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, die von der Demokratie nur noch eine Fassade übrig lassen, die Menschen- und Völkerrecht missachten, die den sozialen Rechtsstaat ad absurdum führen. Sie werfen den Antiimperialisten vor, ihnen seien Menschen egal: Ich kenne keine Entscheidung über Kriege und Rüstungsexporte, über Flüchtlingsabwehr und `Freihandels´verträge, zur Klimakatastrophe oder zur Begünstigung der Nahrungsmittel-, Chemie- oder Finanzindustrie, die den Menschen in den Mittelpunkt gestellt hätte. Sie sehen in Hamburg den „Vorschein des Schlimmeren“. Ist das wirklich die richtige Gewichtung angesichts der wachsenden Kriegsgefahr, der obszönen Ungleichheit und der Begünstigung menschenfeindlicher Ideologien?

Es gibt, Herr von Lucke, viele Menschen, die diesen Staat allenfalls für formal demokratisch halten, die (auch in den Blättern) eher von „tiefem Staat“ reden. Die Politik ist für viele nicht erst seit Präsident Trump menschenfeindlich und sie wissen, dass die Verwertung des „Humankapitals“ und die Bewertung der Menschen nach Nützlichkeit Grundlage dieses neoliberalen Kapitalismus ist und zu Verrohung und Rassismus führt. Und dieser tötet Millionen von Menschen, treibt sie in die Flucht, zermürbt sie körperlich und seelisch. Auch in Deutschland leiden viele unter diesen Verhältnissen und sie wissen keinen Ausweg aus dieser Menschen verachtenden Megamaschine. Für sie hat diese Staatsgewalt keine Glaubwürdigkeit mehr, jedes Vertrauen ist verloren gegangen.

Verzweiflung und daraus resultierende Gewalt stellen keine rationale Handlungsstrategie dar. Aber ich halte Ihre Forderung für verfehlt, wonach die zentrale Aufgabe unter Linken und Liberalen „die Auseinandersetzung mit der linken Gewalt“ (S. 5) sei. Setzen wir uns mit Hintergründen und Folgen der Riots (und der Polizeigewalt!) auseinander. Aber die zentrale Aufgabe ist nach wie vor der Widerstand gegen die Politik, die in Hamburg von den zwanzig Weltherrschern vertreten wurde. Unsere Aufgabe, Herr von Lucke, als Intellektuelle, als kritisch engagierte BürgerInnen und Aktivisten, denen Menschlichkeit und echte Demokratie viel bedeuten, sollte es sein, Formen des Widerstandes und des zivilen Ungehorsams zu entwickeln, die die Ungleichheit, die Kriege, den neuen Kolonialismus und die menschenfeindlichen Ideologien zu überwinden vermögen.

Wir machen uns mitschuldig an dieser menschenverachtenden staatlichen Gewalt, wenn es – mit unserer aktiven Beteiligung – nicht gelingt, Strategien für eine Änderung dieser Welt voller Gewalt und Menschenfeindlichkeit zu planen und durchzusetzen. Solang die „westliche Wertegemeinschaft“ im Interesse von Konzernen und Banken Länder mit Krieg überzieht, durch Freihandel und Klimazerstörung Erdteile kaputt macht, die Menschen mit zynischer Gleichgültigkeit dem Verderben überlässt, müssen wir sehr wohl Antworten finden auf die Frage, ab wann Notwehr ethisch verantwortbar und notwendig wird und wie sie angepackt werden kann. Für die Ausgegrenzten hier, für die Flüchtlinge an der EU-Grenze, die Sterbenden im Jemen, die Menschen in Griechenland oder in Libyen, Syrien, Afghanistan oder im Irak oder den ausgebluteten Ländern Afrikas. „Summer of Resistance“: Damit werben die Blätter im letzten Heft.

Georg Rammer


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