Titel: Umdenken nach 30 Jahren Thatcherismus? Das Ende der Hegemonie der neoliberalen Kräfte?
Das wäre schön. In den letzten acht Tagen sind zwei Artikel von Autoren erschienen (siehe Anlage), die eher dem konservativen Teil unserer Gesellschaft zuzuschreiben sind, und dennoch das Scheitern der neoliberalen Bewegung sehen. Bei Spiegel Online erschien ein langes Stück mit dem Titel „Konterrevolution im Krisenkampf“ über das Ende des Neoliberalismus von Christoph Schwennicke, im Tagesspiegel schreibt Alexander Gauland über die gesellschaftliche Fehlentwicklung, die mit Margaret Thatcher begonnen habe, sie sei an allem schuld. Das sind erstaunliche Töne. Vor allem der Text in Spiegel Online ist von einer Reihe von Fehleinschätzungen gespickt. Ich werde den Verdacht nicht los, dass hier einer sein Fähnchen ein bisschen herum hängt und auf jeden Fall dabei sein möchte, wenn sich das Blatt wirklich wendet. Das Stück hat zugleich eine verschleiernde Wirkung. Tatsächlich nämlich fühlen sich die Neoliberalen nach wir vor oben auf und machen auf vielen Feldern weiter wie bisher. Albrecht Müller.
- Schwennicke schreibt, der „Kasino-Kapitalismus“ ist plötzlich passé. – Davon kann keine Rede sein. Die Banken werden von uns Steuerzahlern neu mit Geld ausgestattet und machen weiter wie bisher. In den heutigen Hinweisen ist davon im Hinweis Nummer 1 gleich anhand von zwei Beispielen berichtet.
- In Spiegel Online wird behauptet, die kommunikative Hegemonie der Arbeitgeberseite sei zu Ende, die Bosse hätten ein Imageproblem. Das haben sie, aber sie bestimmen dennoch in weiten Bereichen, was gedacht werden kann und darf. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass sogar die öffentlich-rechtlichen Medien über weite Strecken in Arbeitgeberhand sind. Davon, dass die Hegemonie zu Ende sei, merkt man nichts. Auch das Institut der deutschen Wirtschaft und sein Ökonom Hüther werden nach wie vor als objektive Informationsquellen zitiert und weitergegeben.
- Wie sehr die Arbeitgeber die Hegemonie noch inne haben, kann man im Text von Schwennicke selbst lesen. Da freut er sich darüber, dass die deutschen Gewerkschaften so vernünftig geworden sind, die Lohnabschlüsse der vergangenen Jahre seien maßvoll gewesen, die Veranstaltungen zum 1. Mai seien nicht missbraucht worden, um die Massen aufzurühren, die Lohnpolitik sei moderat. – Das ist alles andere als eine Konterrevolution. Es ist inzwischen deflatorische Politik und nicht einmal zeitgemäß.
- Die Rechtskonservativen und die Arbeitgeber besetzen weiterhin wichtige Gremien: den Sachverständigenrat, die Bundesbank, die Europäische Zentralbank, die Mehrheit der Wirtschaftsforschungsinstitute. Von Konterrevolution ist weit und breit nichts zu sehen.
- Die Privatisierung geht weiter, auch die Privatfinanzierung von Autobahnen und anderen öffentlichen Aufgaben. Die Bundesregierung hat keinen Abstand genommen von der Förderung der ÖPP-Modelle.
- Der Rettungsschirm dient vor allem der Rettung der Zocker. Die Bundesregierung tut nichts gegen die spekulativen Elemente und den Casinobetrieb.
- Der Ausverkauf der deutschen Unternehmen geht weiter. Die Bundesregierung und die regierenden Parteien haben bisher nichts unternommen, um die Steuerbefreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen zurückzunehmen.
- Bei Spiegel online wird behauptet, Angela Merkel habe vom Klassiker Steuersenkung abgelassen. Mit einer solchen Behauptung wäre ich vorsichtig. Die Erhöhung der Steuern für die kleinen Leute, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, wird publizistisch vorbereitet von den Freunden der Bundeskanzlerin. Und es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass die Senkung der Steuern für die Spezies nach der Bundestagswahl weitergeht.
- Die Agenda 2010 wird fortgeführt, Hartz IV bleibt und die Kontrolle wird verschärft. Wo ist da eine Besinnung auf das Scheitern der neoliberalen Einstellungen zu spüren?
- Bei der Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme geht es weiter wie bisher. Der Verkauf von Riester- und Rürup-Renten und die Werbung für private Modelle der betrieblichen Altersvorsorge wird eher sogar forciert, einschließlich der Beeinflussung von Schulen und Volkshochschulen.
- Auch die Entwicklung im Bereich Gesundheitspolitik ist nicht anders. Private Betreiber von Kliniken nutzen die Tatsache, dass die öffentlichen Kassen leer sind. Immer mehr Leistungen werden infrage gestellt und der Privatvorsorge überlassen.
- Überhaupt ist festzustellen, dass die bisherige politische Linie der systematischen Verarmung des Staates nicht gebrochen ist.
- Der Einbruch privater Interessen in unsere Hochschulen und Schulen geht weiter.
- Der Bologna Prozess wird zwar kritisiert, aber es gibt keine Anzeichen für eine Revision.
Diesen Katalog könnte man ohne Schwierigkeit noch weiter verlängern. Der Hinweis darauf soll Leser und Leserinnen davor bewahren, sich etwas vormachen zu lassen.
Anlage – zwei Dokumente mit der These vom Ende des Neoliberalismus
ENDE DES NEOLIBERALISMUS
Konterrevolution im Krisenkampf
Von Christoph Schwennicke
Politiker giften gegen Manager, Ökonomen gegen den ungezügelten Markt, Gewerkschaften gelten als Hort der Vernunft: Der “Kasino-Kapitalismus” ist plötzlich passé – binnen eines halben Jahres hat die Wirtschaftskrise die öffentliche Debatte radikal verändert.
Quelle: Spiegel
Margaret Thatcher ist an allem schuld
Die gesellschaftliche Fehlentwicklung hat mit Margaret Thatcher begonnen. Jetzt wird der Preis für ihren neoliberalen Weckruf – es gibt nur den Einzelnen und den Staat – sichtbar
Von Alexander Gauland
2.6.2009 0:00 Uhr
Manchmal bündeln sich tektonische gesellschaftliche Verwerfungen in einem symbolischen Akt, der dann das Maß der Veränderungen oder Zerstörungen aufdeckt. Der Rücktritt oder besser gesagt der Sturz des Speakers, der Verkörperung der Souveränität des britischen Unterhauses, zum ersten Mal seit 1695 ist nicht nur die Folge persönlichen Versagens, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung, die mit Margaret Thatcher begonnen hat. Auch in Deutschland war es bis zur Finanzkrise unter Christdemokraten und Liberalen üblich, das hohe Lob der Eisernen Lady zu singen. Sie hat das Land aufgeräumt, umgekrempelt und die Gewerkschaften entmachtet, was auch Angela Merkel gerne zur Nachahmung empfohlen wurde.
Quelle: Tagesspiegel