Titel: Geschichtsfälschung über die 68er mit Hilfe penetranter Meinungsmache. Der Spiegel wird immer dreister.
Mit der Spiegel-Titelgeschichte dieser Woche wird versucht, das Bild der Studentenbewegung und der sonstigen Reformbewegung der Sechzigerjahre umzuschreiben.
Wenn Sie diese Titelgeschichte ähnlich grotesk finden, dann gehen Sie bitte mal wieder auf Spiegelleser zu. Wenn diese glauben, sie läsen ein aufklärendes Magazin, dann täuschen sie sich sehr. Der Spiegel, das muss man einfach wiederholen, ist ähnlich manipulativ wie die Bild-Zeitung. Und man kann nicht einmal behaupten, das geschähe bei ihm auf höherem Niveau. Niveauloser geht es kaum: Das Niveau wird ersetzt durch die konsequente Agitation.
Wenn Sie helfen wollen beim Aufbau von Gegenöffentlichkeit, dann drucken Sie diesen Text aus und geben Sie ihn weiter – z.B. an Spiegelleser und ehemalige 68er. Albrecht Müller.
Die Anmoderation im Inhaltsverzeichnis für die auf Seite 42 des gedruckten Spiegel beginnende Titelgeschichte lautet:
„Die verfehlte Rebellion?
Der Todesschuss auf den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 markiert den Beginn der Studentenbewegung, die den Akteuren bis heute als eine Art zweite Staatsgründung gilt. Jetzt zeigt ein Aktenfund, dass der Schütze Karl-Heinz Kurras kein faschistoider Kopf, sondern Kommunist und Agent der Stasi war. Viele Beteiligte fragen sich nun, wogegen sie eigentlich revoltiert haben.“
Dazu noch ein paar Zitate aus dem Text der Titelgeschichte selbst:
- „Karl-Heinz Kurras hat am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen. Damals begann die Revolte, die unter der Chiffre „68“ zusammengefasst wird. (…)
- Karl-Heinz Kurras, in dem die 68er den typischen Charakter eines bundesrepublikanischen Faschismus gesehen hatten, war bei der Stasi, war Mitglied der SED. Der Mann, der vermutlich unbedroht auf einen harmlosen Demonstranten geschossen hatte, war beseelt von sozialistischen Ideen.
Plötzlich fragen sich eine Menge Leute, ob sie das falsche Leben gelebt haben. Ob sie genauso gehandelt hätten, wäre ihnen bewusst gewesen, dass Kurras nicht braunen Träumen nachhing, sondern roten? (…)
- Der 2. Juni 1967 markiert nicht nur den Beginn von 68, (…)
- Aber der 2. Juni ist auch der Tag, mit dem eine Renovierung der Bundesrepublik verknüpft wird, mehr Demokratie, mehr Rechte für Frauen, mehr Freiheiten. Und an diesem Tag klebt nun das hässliche Wort Stasi. (…)
- Als der spektakuläre Fund am Donnerstag vergangener Woche im „heute-journal“ des ZDF und dann auf der Internetseite der „Frankfurter Allgemeinen“ publik wurde, begann eine Revision der jüngsten Geschichte. (…)
- Auch wenn Kurras keinen Mordauftrag hatte, wird die Bundesrepublik neu über sich nachdenken. (…)
- Und dann ist da noch die schöne Frage: Was wäre gewesen, hätten die Studenten bald erfahren, dass Kurras in der SED und bei der Stasi war? Wäre ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte ausgefallen? Kein 68, keine studentische Rebellion, kein Terror der „Bewegung 2. Juni“ und der RAF? (…)
- Nun geht schon die nächste Debatte los, und es wird schwerer für die Anhänger eines „guten“ 68, soviel ist gewiss. Mit der Enthüllung über Kurras haben sie einen wichtigen Baustein ihrer Begründung für die Rebellion verloren. Er war nicht der, der er praktischerweise sein sollte.“
An dieser Stelle habe ich aufgehört, im Spiegel zu lesen, weil ich die penetrante Art der absichtlichen Manipulation der Spiegelleser nicht mehr ausgehalten habe. Nahezu nichts stimmt an den zitierten Interpretationen und Wertungen.
Zum Hintergrund meiner gleich folgenden Analyse sind ein paar persönliche Anmerkungen notwendig:
Meine Freunde und ich sind zum größeren Teil schon in den fünfziger Jahren, teilweise in Auseinandersetzung mit der Wiederbewaffnung, teilweise in der Auseinandersetzung mit dem konservativen Muff in der Politik, in den Schulen, in den Hochschulen und Familien politisch sozialisiert worden. Wir verfolgten mit Spannung die Auflehnung von Politikern wie zum Beispiel Gustav Heinemanns gegen die Restauration in den Fünfzigern. Seine Reden im Deutschen Bundestag waren Angelpunkte unserer kritischen Einstellung zu den herrschenden Verhältnissen. Schon in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre machten wir uns Gedanken über soziale Reformen; die umfangreichen Grundstücksspekulationen an den Rändern unserer Städte, die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen und die unhaltbaren und unfairen Zustände in unserem Bildungswesen waren Anlass für eigene reformerische Überlegungen. Wir pochten auf eine aktive Beschäftigungspolitik zur Überwindung der Rezession von 1966/67. Und uns faszinierte die Chance, den kalten Krieg und den Hass auf Russen, Polen und alles, was östlich der Elbe lag, mit einer Politik der Versöhnung und der Verträge zu überwinden. Dies alles lag vor dem 2. Juni 1967.
Zum Hintergrund des Urteils über die erstaunlichen Einlassungen des Spiegel gehört auch eine persönliche Erfahrung. Meine heutige Frau demonstrierte als Studentin gegen den Schahbesuch in Berlin und zog mit nach Hannover. Sie kannte Benno Ohnesorg persönlich.
Vor diesen Hintergründen einige Anmerkungen zur Geschichtsfälschung des Spiegel:
- Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 war schlimm und bestärkte die Studentenbewegung. Sie markiert aber keineswegs den Beginn der Studentenbewegung und schon gar nicht den Beginn der Reformbewegung der 68er, der Vor-68er und anderer Reformkräfte. Die Studenten haben doch schon in den Stunden vor dem Todesschuss und bei vielen Gelegenheiten vorher demonstriert; die Demonstration war doch nicht ein Ergebnis des Schusses von Kurras auf Ohnesorg. Lange vorher gab es Reformforderungen in den Hochschulen. Georg Picht prägte 1964 den Begriff Bildungskatastrophe. – Die wiederholte Behauptung des Spiegel, mit dem Schuss auf Ohnesorg habe die Revolte begonnen, ist schlicht unwahr. Von „zweiter Staatsgründung“ zu sprechen ist geradezu grotesk.
- Im Text des Spiegel wird mehrmals versucht, die Studentenbewegung und die Reformbewegung insgesamt in die Nähe der damaligen DDR-Führung zu rücken. Was hatten wir Reformer der Sechziger mit der DDR-Führung zu tun? Rudi Dutschke nicht, Benno Ohnesorg sowieso nicht, die meisten Studenten in West-Berlin nicht, wir Reformer in München nicht, Georg Picht nicht, die Strategen der neuen Politik der Verständigung nicht, meine am 2. Juni in Berlin demonstrierende Frau, die 1952 mit ihren Eltern aus der Altmark/DDR „weggezogen“ war, nicht. Wer eigentlich?
- Der Spiegel schreibt, weil jetzt herausgekommen sei, Kurras sei „kein faschistoider Kopf, sondern Kommunist und Agent des Stasi“ gewesen, fragten sich jetzt „viele Beteiligte, wogegen sie (die Studentenbewegung) eigentlich revoltiert haben.“ Die „vielen Beteiligten“ möchte ich mal kennen lernen. Warum nennen die Spiegel-Redakteure keine Namen? „Plötzlich fragen sich eine Menge Leute, ob sie das falsche Leben gelebt haben“, behauptet der Spiegel. Das müssen komische Leute sein. Leute, die damals nicht dabei waren. Ich kenne niemanden, dem der damalige Protest wegen der Offenbarung eines Herrn Kurras leid tut. Die meisten der damals Demonstrierenden hätten vermutlich genauso wie gegen den Schah auch gegen Herrn Ulbricht demonstriert. Außerdem wussten viele von ihnen, dass es faschistoide Köpfe hüben wie drüben gab und gibt.
- Die meisten demonstrierenden und die meisten reformorientierten jungen und älteren Leute jener Zeit verlangten, wie der Spiegel sogar richtig schreibt, eine „Renovierung der Bundesrepublik, mehr Demokratie, mehr Rechte für Frauen, mehr Freiheiten.“ Dieses Verlangen wird doch durch die Stasitätigkeit des Herrn Kurras nicht entwertet. Und deshalb ist es ausgemachter Unsinn, wenn der Spiegel schreibt, an diesem mit dem 2. Juni verbundenen Verlangen klebe „nun das hässliche Wort Stasi“. Und auch die Behauptung, „es wird schwerer für die Anhänger eines ‚guten’ 68, soviel ist gewiss“, ist schlicht frei erfunden. Die Spiegelautoren behaupten, mit der Enthüllung über Kurras hätten die ‚guten’ 68er „einen wichtigen Baustein ihrer Begründung für die Rebellion verloren“. Das ist der helle Wahnsinn und zeigt, dass die Autoren der Titelgeschichte des Spiegel keine Ahnung von der Struktur und der Differenziertheit der Studenten- und Reformbewegung in den Sechzigerjahren haben.
- Es ging bei den Demonstrationen in Berlin doch nicht nur um Herrn Kurras und dessen Todesschuss. Die Studenten in Berlin wendeten sich gegen die Methoden der Berliner Polizei insgesamt. Wie diese strukturiert waren, habe ich als Berliner Student schon bei kleinen Demonstrationen im Sommer 1960 erfahren. Die Demonstranten der Jahre 1967 ff. haben ihre eigenen Erfahrungen damit – z.B. mit der Leberwursttaktik – gemacht. Das beschränkte sich nicht auf Herrn Kurras.
- Die Empörung über den Todesschuss bekam ihren eigentlichen Schub durch die berechtigte Empörung darüber, wie dieser Todesschütze von Polizei und Justiz, von Medien und Politik gedeckt wurde. Die Tatsache, dass er für die Stasi arbeitete und SED-Mitglied war, mindert die Berechtigung der Empörung nicht. Es sei denn, man wolle sagen, ein „ehrenwerter“ Westberliner Polizist darf einen Studenten grundlos erschießen, einer mit SED-Parteibuch hingegen nicht. In diesen obskuren Gedanken sind offensichtlich jene verfangen, die jetzt eine Neuauflage des Prozesses verlangen, weil die Stasi-Tätigkeit des Herrn Kurras offenbar geworden ist. An diesem Punkt kann man übrigens feststellen, das die vier Spalten des Interviews mit Otto Schily, die in der Titelgeschichte über den 2. Juni integriert sind, gemessen an dem Text der Titelgeschichte selbst einen Ausbund an Vernunft darstellen.
- Der Spiegel behauptet, mit der Veröffentlichung des spektakulären Fundes in den Stasi-Unterlagen habe „eine Revision der jüngsten Geschichte“ begonnen, „die Bundesrepublik (wird) neu über sich nachdenken“. Das ist schon sprachlich komisch und bietet in der Sache Stoff für Urban Priols und Georg Schramms nächste Sendung „Neues aus der Anstalt“.
Die Titelgeschichte des Spiegel ist so verfälschend und so jenseits der historischen Wirklichkeit, dass man geradezu genötigt ist zu fragen, was das eigentliche Ziel dieser Art von Schreibe ist: Offenbar sollen die 68er und damit alle Reformbewegungen der Sechzigerjahre diskreditiert werden und letztlich auch aus der Historie hinaus komplimentiert werden. Damit wird auch die bei Angela Merkel und der Union insgesamt spürbare Absicht bekräftigt, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland umzuschreiben: die Zeiten der rechtskonservativen Führung unseres Landes sollen makellos erscheinen. Das gilt auch für die Fünfzigerjahre, gegen deren Muff, Unbeweglichkeit und mangelnder Wertorientierung zu protestieren verfehlt war, so die Unterstellung. Von dort bis zur rechtskonservativen Politik des Helmut Kohl und der Angela Merkel führt dann ein direkter Weg. Was dazwischen lag, die 68er einschließlich der Reformpolitik der sozialliberalen Koalition, erscheint dann eher als ein bedauerlicher, historischer Unfall. Ein Unfall, den man hätte vermeiden können, wenn man damals schon gewusst hätte, dass Kurras von der Stasi kam.
Dazu als Hintergrund: 2008 – 40 Jahre 68er