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Titel: Was ist ein gerechter Lohn?

Datum: 12. August 2017 um 11:00 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, Markt und Staat, Soziale Gerechtigkeit
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Jens Berger

Während der Wahlkampf vor sich hin plätschert, setzt die Linkspartei mit ihrer Kampagne für gerechte Löhne inhaltliche Akzente. Gut so. Das Thema „gerechte Löhne“ ist heute relevanter denn je. Doch was ist ein gerechter Lohn? Darf es sein, dass ein Konzernchef für seine Dienste 300mal soviel Geld bekommt wie einer seiner Mitarbeiter? Warum liegt das Gehalt eines Ingenieurs in der Industrie so viel höher als das Gehalt eines Pädagogen? Gibt es Gründe dafür, dass Friseusen meist zu Niedriglöhnen arbeiten, während Industrieschlosser bei großen Konzernen oft mehr Geld bekommen als Jungakademiker? Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Marktmechanismen, Traditionen und neoliberale Reformen sorgen dafür, dass sich die Gehälter in Deutschland immer stärker auseinanderentwickeln und selbst Tätigkeiten mit vergleichbarer Qualifikation sehr unterschiedlich entlohnt werden. So funktioniert eine Marktwirtschaft und das ist auch gut so. Für Gerechtigkeit ist nicht der Markt, sondern der Staat verantwortlich. Ihm steht mit dem Steuer- und Transfersystem ein mächtiges Schwert zur Verfügung, um Gerechtigkeit ins Lohnsystem zu bringen.

Die Wertschöpfung ist kein guter Indikator für Gerechtigkeit

Ein stark verkürzter Ansatz, Lohnunterschiede zu erklären, ist die Wertschöpfung, die mit der Tätigkeit verbunden ist. Wie will man eine solche Wertschöpfung aber bemessen? Der Endpreis eines Produkts hat nicht immer etwas mit Arbeit zu tun, wie es die klassische Arbeitswerttheorie postuliert. Warum sonst kostet das gleiche Poloshirt das Vielfache, wenn man ein Markenlabel aufnäht? Das Arbeitsentgelt an der Wertschöpfung zu orientieren, wäre ohnehin nur bei Produkten und Dienstleistungen sinnvoll möglich, deren Endpreis sich am Markt orientiert. Welche Wertschöpfung liegt beispielsweise in der Altenpflege, der Kinderbetreuung oder der häuslichen Arbeit?

Daher hat sich in der Praxis eine Zweiteilung der Lohnfestlegung herausgebildet. Im industriellen und gewerblichen Bereich bestimmt eine Mischung aus Angebot und Nachfrage, Qualifikation und finanzieller Lage des Arbeitgebers den Lohn. Brancheninterne Unterschiede werden dabei über Rahmentarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geglättet. In den Bereichen ohne echten Markt orientiert sich der Lohn im Idealfall an vergleichbaren Löhnen in der freien Wirtschaft. Doch dieser Idealfall tritt in der Realität so gut wie nie ein und das hat seinen guten Grund.

Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will

Gewerbliche Arbeit hat nicht nur eine längere Tradition des Arbeitskampfes, sondern ist auch in weitaus größerem Maße von der Wirkmächtigkeit organisierter Arbeitnehmervertretungen beeinflusst. Der relativ hohe Haustarif des Automobilherstellers Volkswagen ist somit indirekt auch eine Folge jahrzehntelangen Arbeitskampfes vor dem Hintergrund, dass ein Streik den Konzern Millionen kostet. Was kostet es aber eine Kommune, wenn die Kita-Mitarbeiter streiken? Haben Grundschullehrer die Möglichkeit, ihren Arbeitgeber mittels eines Arbeitskampfes in die Knie zu zwingen? Auch andere traditionell schlecht bezahlte Berufsgruppen eint meist eins: Sie haben kaum die Möglichkeit, einen effektiven Arbeitskampf zu führen und meist auch einen sehr niedrigen Organisationsgrad. Wer nichts in der Hand hat, wird bei Verhandlungen aber gerne über den Tisch gezogen.

Der kleine Unterschied

Ein weiterer Grund für die unterschiedliche Entlohnung liegt in der Tradition der Berufe und dem Geschlecht der Mitarbeiter. Schlecht bezahlte Berufe, wie beispielsweise das Friseurhandwerk, die Alten- und Krankenpflege sowie die Kinderbetreuung oder der Grundschuldienst weisen einen sehr hohen Anteil weiblicher Angestellter auf. Diese Berufe wurden früher oft als Zuverdienst zur besser bezahlten gewerblichen Arbeit des männlichen „Hauptverdieners“ ergriffen. In der heutigen Welt ist diese Form des Zuverdiensts zwar seltener anzutreffen, den strukturellen Lohnunterschied zu traditionellen „Männerberufen“ in der Industrie oder bei den Finanzdienstleistungen konnten diese Berufe jedoch nie aufholen – im Gegenteil, durch den schlechteren Organisationsgrad nimmt der Unterschied sogar von Jahr zu Jahr weiter zu.

Wenn immer wieder die Rede von einem 21-prozentigen Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen ist, vergleicht man natürlich Äpfel und Birnen. Der Anteil weiblicher Teilzeitarbeitskräfte ist signifikant höher – im Jahr 2015 waren beispielsweise 47% aller abhängig beschäftigten Frauen in Teilzeit beschäftigt, während die Teilzeitquote bei Männern lediglich neun Prozent betrug. Selbst wenn man den Teilzeitfaktor herausrechnet, gibt es jedoch immer noch einen kleinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, der sich hauptsächlich aus dem Berufsbild ergibt. Wer den Einkommensunterschied zwischen den Geschlechtern abseits der Teilzeitproblematik nivellieren will, sollte also dafür sorgen, dass mehr Männer Kindergärtner und mehr Frauen Ingenieurinnen werden. Ob das dem Wunsch der Menschen entspricht, steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Leiharbeit = Arbeit zweiter Klasse?

Wie kann es sein, dass ein Mitarbeiter, der den linken Kotflügel anschweißt, den doppelten Stundenlohn wie sein Kollege bekommt, der den rechten Kotflügel anschweißt? Die gleiche Arbeit wird in Deutschland seit Einführung der Schröderschen Agenda-Reformen nicht mehr gleich entlohnt. Anstatt reguläre Arbeitnehmer einzustellen, sind die Arbeitgeber verstärkt dazu übergegangen, Leiharbeiter zu beschäftigen. Dabei ist bekannt, dass ein stehendes Heer auf die Dauer preiswerter ist als eine Söldnerarmee, wenn man stetig eine Mindestzahl von Soldaten vorhalten muss. Ein Söldner ist pro Tag deutlich teurer als ein normaler Soldat. Normalerweise müsste ein Leiharbeiter auch deutlich teurer als ein normaler Arbeiter sein. In anderen Ländern ist dies auch so – in Frankreich bekommt ein Leiharbeiter beispielsweise einen Flexibilitätsaufschlag von 15% auf den tariflichen Lohn. Deutschland nimmt im OECD-Vergleich jedoch eine arbeitgeberfreundliche Sonderrolle ein.

Dabei kostet der Leiharbeiter, der den rechten Kotflügel für die Hälfte des Haustarifs anschweißt, den Automobilhersteller meist genauso viel wie ein regulär Beschäftigter – nur, dass ein Zeitarbeiter bei Bedarf fristlos entlassen werden kann. Zeitarbeit ist ein lukrativer Markt und die Marketender menschlicher Arbeitskraft verdienen fürstlich. Dabei gestatten selbst die aktuellen Gesetze, dass die Leiharbeit in Deutschland durch die Gewerkschaften entschärft werden könnte. Unter dem Schlagwort „Equal Pay“ hatten die Gewerkschaften zeitweise offen für gleiche Löhne bei Stammbelegschaft und Leiharbeitern geworben. Da Gewerkschaftsmitglieder jedoch in der Regel eher der Stammbelegschaft und nicht dem Heer der Leiharbeiter angehören, verfolgen die Gewerkschaften diese eigentlich löbliche Initiative leider nicht mehr mit dem nötigen Nachdruck und die Politik zeigt auch kein Interesse an einem fairen Ausgleich.

Die Müllers im Gehaltsolymp

Deutschland diskutiert jedoch nur sehr selten über Mini-, dafür umso häufiger und emotionaler über Maxilöhne. Darf VW-Chef Matthias Müller trotz Dieselaffäre 9,6 Millionen Euro im Jahr verdienen? Ja, warum denn auch nicht? Während das untere Ende der Lohnspirale aus gutem Grund gesetzlich reglementiert werden muss, ist das obere Ende eine Frage des Verhandlungsgeschicks. Wenn die Aktionäre, also die Besitzer eines Unternehmens, der Meinung sind, Matthias Müllers Dienste seien fast 10 Millionen wert, so ist es ihr gutes Recht, dieses Geld zu bezahlen. Genauso wie es das gute Recht des FC Bayern München ist, mehr als 20.000 Euro pro Tag für den jungen Ballathleten Thomas Müller auszugeben. Hohe Gehälter sind kein Problem einer mangelnden Gerechtigkeit, sondern ein Problem eines dysfunktionalen Steuersystems. Gäbe es in Deutschland einen Spitzensteuersatz in Höhe von 80% für Einkommen über eine Million Euro pro Jahr, könnten sich nicht nur die beiden Müllers, sondern wir alle über diese Top-Gehälter freuen.

Der Staat als Hüter der Gerechtigkeit

Der freien Wirtschaft Gerechtigkeit abzuverlangen, ist bestenfalls naiv, schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv. Natürlich könnte man fordern, dass Unternehmen im Sinne gesellschaftlicher Ideale beispielsweise junge Mütter besser bezahlen als kinderlose Männer. Dass solche Gesetze kontraproduktiv wären, ist jedoch offensichtlich – warum sollte ein Arbeitgeber in einem solchen Fall überhaupt noch junge Mütter einstellen? Mit Ausnahme des untersten Lohnbereichs sollte der Staat sich daher aus Gehaltsfragen weitestgehend heraushalten. Der Staat hat mit dem Steuer- und Transfersystem ein weitaus mächtigeres Schwert in der Hand. Wenn der begehrte Ingenieur oder der Facharbeiter bei Volkswagen denn nun so viel mehr Gehalt bekommen als die Kindergärtnerin oder die Grundschullehrerin, dann kann man dieses Missverhältnis ohne Probleme über Steuern und das Transfersystem ausgleichen.

In gewissem Maße gibt es ein solches Umverteilungssystem schon heute. Bei der Einkommenssteuer zahlen beispielsweise Haushalte mit einem Einkommen unter 50.000 Euro pro Jahr relativ zum Einkommensanteil am Volkseinkommen weniger in das Transfersystem ein, Haushalte mit einem Einkommen ab 125.000 Euro relativ mehr. Die einkommensabhängigen Effekte im deutschen Steuer- und Sozialsystem sind jedoch flach und man sollte auch nicht vergessen, dass vor allem Geringverdiener über die indirekten Steuern überproportional zur Kasse gebeten werden.

Es ist politisch durchaus gewollt, dass der Eingangssteuersatz relativ hoch und der Spitzensteuersatz einerseits relativ niedrig ist, andererseits bereits bei einem überschaubaren Einkommen greift. Das war nicht immer so. Bis zum Jahr 2000 waren in der Bundesrepublik Spitzensteuersätze von 53 bzw. 56% die Regel. Die historisch einmalige dreistufige Senkung des Spitzensteuersatzes war ein Geschenk der Regierung Schröder an die Besserverdienenden im Lande. Vergleicht man die Steuersätze der Vergangenheit, fällt jedoch vor allem die fast unveränderte Bemessungsgrundlage des Spitzensteuersatzes auf. Während man heute bereits ab einem Einkommen von 54.000 Euro mit dem Spitzensteuersatz besteuert wird, musste man 1958 schon 60.000 Euro (nicht inflationsbereinigt!) bekommen, um mit dem Spitzensteuersatz besteuert zu werden. Was heute also schon für gutbezahlte Facharbeiter zutrifft, war früher eine echte „Reichensteuer“ – 1958 hatten nicht sonderlich viele Bürger ein Einkommen von mehr als 120.000 D-Mark im Jahr.

Die Soziale Marktwirtschaft war stets als Korrektiv für Einkommensunterschiede gedacht. Spätestens seit der rot-grünen Regierungszeit wurde dieses Korrektiv jedoch ohne Not Schritt für Schritt außer Dienst gestellt. Die Debatte über einen gerechten Lohn ist zwar nicht neu, die Bedeutung dieser Debatte sollte heute jedoch größer denn je sein. Der Umstand, dass unterschiedliche Löhne heute als ungerecht empfunden werden, ist keine Frage der Marktwirtschaft, sondern eine Frage der Sozialen Marktwirtschaft und des Siegeszuges des Neoliberalismus. Die Politik hat – wenn sie es denn nur wollte – alle Möglichkeiten in der Hand, dafür zu sorgen, dass die Einkommen nach Steuern und nach Transferleistungen wieder gerecht werden. Stark ungleiche Löhne sind weder ein Naturgesetz noch unausweichlich. Das sind sie nur, wenn man sie hinnimmt. Es besteht jedoch kein nachvollziehbarer Grund, warum man dies hinnehmen sollte.


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