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Titel: Chiles Menschenrechts-Katastrophe in der Demokratie: Über 1.300 Kinder starben in den Händen des Staats, privater und katholischer Kinderheime
Datum: 13. August 2017 um 11:00 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Länderberichte, Wertedebatte
Verantwortlich: Jens Berger
Zur falschen Zeit, beim Auftakt des Präsidentschaftswahlkampfs, platzte vor wenigen Wochen in Chile die schwerste Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen durch den chilenischen Staat seit Ende der Militärdiktatur im Jahr 1990. Eine Untersuchungskommission des Parlaments in Valparaíso warf dem Nationalen Dienst für Minderjährige (SENAME) und den chilenischen Regierungen seit 2005 vor, für den Tod von mindestens 1.300 Kindern und Jugendlichen im Verlauf der vergangenen 11 Jahre verantwortlich zu sein. Als Todesursachen benennt der Untersuchungsbericht die systematische Verletzung der Aufsichtspflicht, Verwahrlosung, lebensbedrohliche medikamentöse Behandlungen, Gewaltanwendung, Bildung von Prostitutionsringen und Vergewaltigungen hunderter Minderjähriger, auch durch Leiter beauftragter katholischer Kinderheime. Unter den schon vor Jahren schwer belasteten Sexual-Straftätern befindet sich der ehemalige Bischof von La Serena und Chillán, Francisco José Cox Huneeus. Um den Justizbehörden zu entkommen, zogen Vatikan und die chilenische Kirche den “Würdenträger” aus dem Verkehr und verordneten ihm „Buß- und Bet-Arbeit” im Vaterhaus der Schönstatt-Bewegung, im pfälzischen Vallendar. Von Frederico Füllgraf.
„Neue Infamie” – und niemand fühlt sich schuldig
„Die Namen der verschwundenen politischen Gefangenen werden allesamt an einem Mahnmal auf dem Allgemeinen Friedhof Santiagos genannt, damit die Erinnerung an jene schreckliche Schandtat lebendig bleibt. Wird es jedoch auf dem gleichen Friedhof ein vergleichbares Mahnmal zur Ehrung der 1.313 toten Kinder geben? Ich schlage folgenden Text vor: `Hier wird mit Datum, Vor- und Zunamen an die 1.313 Kinder erinnert, die in der Obhut des SENAME während des Übergangs zur Demokratie umgekommen sind. Wahrheit und Gerechtigkeit für sie!´”.
Mit diesen harten Worten ging die an der Universität Aachen promovierte chilenische Soziologin Eda Cleary mit der Regierung der Sozialistin Michelle Bachelet und ihren Vorgängern ins Gericht. In einem Zeitungsartikel empörte sich die Professorin über die Drückebergerei von Regierungs-Instanzen vor der Verantwortung für den Tod der über 1.300 Kinder und Jugendlichen, die in staatlichen und vom Staat subventionierten, privaten – auch katholischen – Kinderheimen, aus haarsträubenden Gründen umgekommen sind.
Die Abrechnung Clearys mit den politischen Führungen der Mitte-Links-Koalition Bachelets und der ultrarechten Opposition ist kompromisslos. „Der Tod von 1.300 Kindern in den Händen des chilenischen Staates, die gefoltert, vergewaltigt, prostituiert, missbraucht und in den Händen von skrupellosen, politischen Akteuren des SENAME ihrem Schicksal überlassen wurden, wird als die größte Infamie in Zeiten der Demokratie in die Geschichte eingehen”, schrieb die Wissenschaftlerin.
Ob die selbst ehemals inhaftierte und exilierte, sozialistische Staatschefin sich noch an eines ihrer Glaubensbekenntnisse erinnerte? Hatte sie doch anlässlich des 40. Jahrestags des Militärputsches im Hinblick auf die Aufarbeitung der blutigen Pinochet-Diktatur noch 2013 erklärt, „die vorrangige Verantwortung ist die Treue zu unserer Wahrheit und unserem Gedächtnis. Chile ist ein Land, das sich nicht scheut, sich selbst auf ehrliche Weise zu betrachten.“
Die Öffentlichkeit sieht das jetzt anders. Der Gipfel, so Cleary, sei jene „erschreckende und brutale Lobby” gewesen, wie der regierungstreue Abgeordnete Ramón Farías den Druck mehrerer Minister auf Parlamentarier der Regierungskoalition bezeichnete, um diese während der Abstimmung über den Untersuchungsbericht – genannt „SENAME II“ – Anfang Juli „bei der Stange zu halten“, und die für den Schutz von Minderjährigen zuständige, ehemalige, christdemokratische Justizministerin Javiera Blanco gegen Angriffe „zu panzern“. Einzelne Medien hatten an die abfälligen Worte – „stock and flow“ – der gegenwärtigen Angehörigen des Rates für den Staatsschutz (CDE) erinnert, womit die Politikerin einst tausende schutzbedürftige Kinder und Jugendliche Chiles zu kalten „Lagerbeständen“ erklärte.
Noch schamloser versuchte die konservative Opposition zu intervenieren. Ihre Führer drängten darauf, die Zeitspanne 2014-2017 – die Regierungsjahre Sebastián Piñeras – aus dem Bericht zu entfernen. Allerdings wurden in dem Untersuchungsbericht die Personaldaten der ehemals zuständigen SENAME-Geschäftsführerinnen Marcela Labraña und Solange Huerta sowie die Namen der Ihnen hierarchisch übergeordneten, ehemaligen Justizminister José Antonio Gómez und Javiera Blanco gelöscht. Das Kalkül ist klar: die Verantwortlichen versuchen sich in die Straflosigkeit hinüber zu retten.
Obwohl die Untersuchung eine dramatische Bilanz gezogen und einen Katalog mit 64 Sofortmaßnahmen empfohlen hatte, wurde der arg verstümmelte Text schließlich mit 47 gegen 36 Stimmen und 13 Enthaltungen abgelehnt.
Zwar empfiehlt der Bericht eine Wahrheitskommission zur lückenlosen Bestandsaufnahme des Kinder-Massentodes, wie es die Soziologin Eda Cleary fordert, erteilte jedoch den zumeist ärmlichen und rechtlich ungeschützten Opfer-Angehörigen einen Wink mit dem Zaunspfahl: Reparations-Ansprüche seien von vornherein ausgeschlossen.
Heimkinder in Chile
Längst bekannte, doch seit Jahren verschleppte Diagnose von UNICEF
Als unwidersprochenen, scharfen Tadel mussten allerdings die Regierungen Sebastián Piñera und Michelle Bachelet hinnehmen, dass sie im vergangenen Jahrzehnt wiederholt wegen der skandalösen Zustände im SENAME alarmiert worden, doch untätig geblieben seien. Der Alarm wurde zum ersten Mal ausgelöst, als 2013 die sogenannte “Kommission Jeldres” – ein 0,5 Millionen Euro teures Untersuchungsprojekt des Kinderwerks der Vereinten Nationen (UNICEF) in Zusammenarbeit mit der chilenischen Justiz, koordiniert von der Richterin Mónica Jeldres – ihren Abschlussbericht zur Lage der chilenischen Heimkinder vorlegte.
Von welchen Kindern ist die Rede?
Es handelt sich um Kinder und Jugendliche, die sogenannten „zerrütteten“ und armen Familienverhältnissen entstammen, die verlassen wurden oder als Opfer von Gewaltanwendung und sexuellen Missbrauchs gelten und in zahlreichen Fällen unter starken emotionalen Entzugserscheinungen, Depressionen, Traumata und körperlichen Beschwerden leiden, deshalb ordentlich ernährt, geborgen und der Schulausbildung zugeführt werden müssen.
Der Jeldres-Bericht war ein Schlag ins Gesicht der Kinderfürsorge-Politik der Regierung Piñera und des ersten Präsidentschaftsmandats (2006-2010) seiner Vorgängerin Michelle Bachelet.
Als erstes bescheinigte Jeldres dem chilenischen Staat, dass er überhaupt nicht wisse, wie viele Kinder in seiner Obhut sind. Vier Jahre später soll es sich nach ungenauen Schätzungen um 15.000 schutzbedürftige Kinder und Jugendliche handeln.
Jeldres und ihre Mitarbeiter gingen rigoros vor. Sie untersuchten die Zustände des staatlichen SENAME und der von ihm subventionierten, privaten Kinderheime in 10 Regionen des über 4.000 Kilometer langgestreckten Chile. Dazu gehörten offene, halb geschlossene und geschlossene Einrichtungen für straffällig gewordene Minderjährige. Die Arbeitsgruppe verteilte Fragebögen an die Verwaltungen, dokumentierte den Zustand der Heime und Anstalten und führte repräsentative Interviews mit 384 Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters in 60 verschiedenen Unterkünften durch, in denen Kleinkinder ab 2 Jahren verantwortungslos mit Jugendlichen zusammengewürfelt und ihrem Schicksal überlassen werden. Die Schreckensbilanz: 6.500 Kinder seien einem extrem hohen Risiko ausgesetzt. Zu den Mängeln der Betreuung zählte die Studie unqualifiziertes, zum Teil illegal beschäftigtes Personal, katastrophale hygienische Zustände in den Unterkünften, Vetternwirtschaft, mangelnde Finanzierung auf der einen, Mittelveruntreuung auf der anderen Seite (selbst durch subventionierte Stadtverwaltungen), und vor allem, Vertuschung dieser Zustände. Zu den alarmierenden Risiken der Kinder gehörten nichtbehandelte Erkrankungen, Verwahrlosung, Gewalttätigkeit und weitverbreiteter sexueller Missbrauch durch ältere Heimkameraden und Heimleiter.
Das unabhängige Zentrum für investigativen Journalismus (CIPER), prangerte an:
„Der Begriff ´hohes Risiko´ könnte leicht als leere Phrase missdeutet werden, doch einige der im Bericht beschriebenen Fälle lassen keinen Zweifel an dem Desaster. Ein 9 Jahre altes Mädchen behauptet, von einem Erwachsenen in einem Heim von Valparaiso sexuell missbraucht worden zu sein. Alle in einem Heim von Quillota befragten Kinder bestätigten, dass die Isolierung als Methode der Bestrafung verwendet wird. Eine 12-Jährige klagte einen Erzieher in San Antonio an, der physische und psychische Gewalt anwendet. Eine andere 12-Jährige erzählt von einem Kind, das von Heimleitern und Kameraden geschlagen und sexuell missbraucht wird. Alle Mädchen, die die Fragebögen beantworteten, berichteten von sexuellem Missbrauch durch Erzieher eines Heims in Villa Alemana. Ein 12-jähriger Junge behauptet, ein häufiges Opfer von sexuellem Missbrauch durch einen Erwachsenen im Heim von Cauquenes zu sein. Und so geschieht es in Hunderten von Fällen…“
(„Niños protegidos por el Estado: los estremecedores informes que el Poder Judicial mantiene ocultos – Vom Staat geschützte Kinder: die abscheulichen Berichte die die Justiz verheimlicht“ – CIPER, 04.07.2013)
Wie geplant wurde der Jeldres-Bericht Richter Héctor Carreño vom Obersten Gerichtshof mit der Erwartung ausgehändigt, das Hohe Gericht werde nun beim SENAME „aufräumen“. Doch was war die Folge? Es passierte nichts.
Als nun empörte Menschenrechtsorganisationen den Bericht verbreiteten und Konsequenzen forderten, setzte die Abgeordnetenkammer das Thema auf ihre Tagesordnung. So kam es 2014 zur Bildung der ersten parlamentarischen Untersuchungskommission zur Lage der chilenischen Heimkinder, genannt SENAME I.
Outsourcing: der kaltblütige Kommerz mit Kinderschicksalen
Trotz Jeldres-Bericht und den parlamentarischen Empfehlungen von SENAME I passierte drei Jahre lang wieder nichts.
Ende 2016 wurde das Parlament von einem unerwarteten Bekenntnis der SENAME-Leitung aufgerüttelt. In Wahrheit seien nicht, wie anfangs geschätzt, 185, dann 500, sondern insgesamt 1.313 Kinder und Jugendliche in staatlichen und privaten Heimen umgekommen. Das war das Signal für die Untersuchungsausschuss SENAME II.
Ausschuss-Mitglied René Saffirio, der als versierter Experte der Kinderschutz-Politik des Parlaments gilt, machte das Finanzierungs- und Verwaltungsmodell des SENAME für den Kinder-Massentod verantwortlich; insbesondere einen promisken Filz zwischen Staatsverwaltung und amtierenden Politikern in der Christdemokratischen Partei, die er wegen ihrer Interessenskonflikte und Korruption vor Jahren verlassen hat.
Der unabhängige Politiker durchforstete die Buchhaltung. Allein im ersten Halbjahr 2016, só Saffirio, seien umgerechnet 106,3 Millionen Euro vom chilenischen Staat an 387 private, sogenannte Kinderfürsorge-Organisationen verteilt worden, von denen jedoch eine kleine Gruppe von 15 Großempfängern 53 Prozent der Subventionsmittel kassiert hätten.
„Es besteht ein Netzwerk von Parteien und Institutionen, die den Kern der Tragödie bilden!“, klagte Saffirio unverblümt in einer Fernsehdebatte vom 10. Juli auf CNN und Chilevisión an. Und gab noch einen drauf: „Der SENAME ist wie eine Landparzelle, die den Christdemokraten zugeschanzt wurde, und sie leisten schlechte Arbeit.”
Senator Patricio Walker drohte Saffirio mit einer Diffamierungsklage, weil der furchtlose Abgeordnete seinem Bruder Tomás Walker als privaten Kinderheim-Betreiber und Nutznießer von millionenschweren Subventionen einen naheliegenden Interessenskonflikt bescheinigte. Senator Walker ist nämlich zufällig Mitglied des Senatsausschusses für Kinder- und Jugendliche-Politik und nur die Spitze des Eisbergs weitverbreiteter Promiskuität zwischen Parteien, Wirtschaft und dem Staat.
Die Zuschüsse und die kriminellen Handlungen der Katholische Kirche
Saffirio empörte sich besonders darüber, dass der SENAME-II-Ausschuss jede Debatte über die Kinderheim-Finanzierung verweigerte, und ersparte während seiner Medienauftritte auch der katholischen Kirchenhierarchie keine schweren Belastungen.
Santiagos Erzbischof Ricardo Ezzati wurde 2013 bereits zur Aussage vor dem SENAME-I-Ausschuss gezwungen, nachdem der Jeldres-Report nachgewiesen hatte, dass zwischen 40 und 45 Prozent der Heimkinder in subventionierten Unterkünften der Kirche sexuell missbraucht werden; darunter auch Heime des deutschen Schönstatt-Ordens, wie der im pfälzischen Vallendar straflos genießende Ex-Bischof Cox Huneeus.
Weil er es gewagt hatte, den Würdenträger Ezzati vorzuladen, war der Abgeordnete Saffirio seitdem in katholischen Kreisen verhasst. Das hinderte ihn nicht daran, Ezzati jetzt als unverschämten „Lobbyisten“ zu bezeichnen, der sich an den armen Heimkindern „gesundstoße“. In den vergangenen Jahren habe der Bischof es verstanden, insbesondere bei den Christdemokraten und den ehemaligen Pinochet-Anhängern von Chile Vamos als geübter Lobbyist aufzutreten. Saffirio nennt beachtliche Summen für ein Land wie Chile: Umgerechnet 5 Millionen Euro habe die katholische Kirche Anfang 2016 als staatliche Subventionen für ihre Kinderheime erhalten. Doch „Ezzati hat niemals ein Wort über die sexuellen Übergriffe innerhalb der Kirche oder über die Tötung innerhalb des SENAME verloren. Das Einzige, was er gut versteht, ist, sich über die angeblich niedrigen Subventionen zu beschweren…”. Mit dieser Attacke, hat sich Saffirio Feinde auf Lebenszeit besorgt.
Die Beschimpfung, die von einer Gruppe auf Facebook publik gemacht wurde, ist nicht an den Haaren herbeigezogen: „Der SENAME ist das chilenische Kinderbordell der Katholischen Kirche“.
Ezzatis Vorgänger, der heute amtierende Kardinal Santiagos, Francisco Javier Errázuriz, fand Anfang des neuen Jahrtausends distinguierte Worte für Bischof Huneeus feige Ausschweifungen. “Unangemessenes Verhalten mit Minderjährigen”, bezeichnete der Würdenträger den als unheilbar beschriebenen, kriminellen Habitus des Kollegen.
So lässt sich gut leben. Mit der Demütigung armer Kinder und dem finanziellen Segen des Staates. Gott, der Ahnungslose, drückt ja immer ein Auge zu…
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