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Titel: Merkel sagt: Täglich wandern 1000 Arbeitsplätze ins Ausland. Morgan Stanley belegt: „Offshoring – More a Myth Than a Matter“

Datum: 5. November 2004 um 15:47 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Täglich wanderten 1000 Arbeitsplätze ins Ausland ab, verkündet Angela Merkel landauf, landab. „Deutschland Exportweltmeister (von Arbeitsplätzen)“ titelt „Der Spiegel“. Eines der weltweit größten Finanzberatungsunternehmen Morgan Stanley analysiert: Verglichen mit anderen europäischen Staaten und den USA sei der Anteil der aus Deutschland ins Ausland verlagerten Stellen relativ klein und die Auswirkungen des „Offshorings“ auf den deutschen Arbeitsmarkt seien gering.

Auf seinem Neujahresempfang 2004 behauptete Edmund Stoiber monatlich wanderten 50.000 Arbeitsplätze aus Deutschland ab – das wären 600.000 im Jahr. Albrecht Müller ist auf den NachDenkSeiten dieser Behauptung nachgegangen. Ergebnis: Weder die bayerische Staatskanzlei, noch das dortige Wirtschaftsministerium, noch das Bundeswirtschaftsministerium, noch sonst eine mit dem Arbeitsmarkt befasste Institution konnten die Zahl bestätigen. Es gab nirgendwo nachvollziehbare Zahlen, geschweige denn in der von Stoiber genannten Größenordnung (Vgl. Stoibers amtliche Panikmache, NachDenkSeiten vom 27.01.04;siehe auch Albrecht Müller, Die Reformlüge, München 2004, S. 189ff.)
Seit Wochen gibt es etwa im Fernsehen kaum einen Bericht über die Reden von Angelika Merkel, in dem nicht deren „Stehsatz“ zitiert wird, dass täglich 1000 Arbeitsplätze ins Ausland abwanderten. Wieder haben wir intensiv recherchiert und nachgefragt. Nirgendwo fanden wir eine Bestätigung dieser Behauptung.

Einer unserer NachDenkSeiten-Leser hat uns auf eine Studie des weltweit agierenden und durchaus renommierten Finanzberatungsunternehmens Morgan Stanley DW Inc. hingewiesen, in der dem Arbeitsmarkteffekt des „Offshoring“ in Deutschland nachgegangen wird. Elga Bartsch (London), die für die Studie verantwortlich zeichnet, kommt zum Ergebnis, dass die negativen Auswirkungen von Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland auf den deutschen Arbeitsmarkt gering und ziemlich begrenzt seien, jedenfalls kleiner als für die USA und Großbritannien. Alle erhobenen Daten wiesen darauf hin, dass „Offshoring“ in Deutschland eher ein Mythos als eine Tatsache sei.

Wie wir selbst auch, war Elga Bartsch auch ziemlich überrascht, dass keinerlei offizielle Daten über die Zahl der verlagerten Jobs zu bekommen sind. „Starting from an statistical black hole“ behilft sich die Autorin in einer ersten Annäherung mit einem Vergleich mit den USA. Die Statistik des amerikanischen „Bureau of Labor Statistics“ zeige, dass dort 2% der Massenentlassungen im ersten Viertel dieses Jahres Betriebsverlagerungen ins Ausland geschuldet seien. Das wären 5000 Entlassungen. Verglichen mit 147 Millionen Beschäftigten und 8 Millionen Job-Suchenden, erscheine diese Zahl sehr klein.
Übertragen auf Deutschland schätzt Elga Bartsch, dass die durch die Informationstechnik ermöglichte Verlagerung im Dienstleistungsbereich, wegen der Sprachbarrieren eine sehr viel geringere Rolle spiele, außerdem begrenze der kleinere Anteil von Niedrig-Lohn-Jobs in Deutschland das Verlagerungspotential gegenüber den USA. Viele Jobs, die aus den USA verlagert worden seien, existierten in Deutschland nicht und hätten nie existiert. Hinzu käme, dass die Kosten einer Betriebsschließung in Deutschland und einer Verlagerung ins Ausland wegen der strengeren Regelungen höher lägen als in den US.

Fazit des Vergleichs:
Im Gegensatz zu den USA gibt es in Deutschland keine Zahlen über Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland, die Zahl für unser Land dürften aber relativ niedriger liegen als in den USA, wo sie aber gleichfalls nur geringe Bedeutung für die Beschäftigung haben. In USA redet kaum einer darüber, in Deutschland ist das Thema in aller Munde, obwohl keiner genau weiß, worüber er redet.

Auch bei der zweiten eingesetzten Methode, der Literaturrecherche, stellt Morgan Stanley zunächst einmal fest, dass es in Deutschland nur wenige Studien über Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland gebe. In einer jüngeren Studie des Osteuropa-Instituts, in der die deutschen Direktinvestitionen nach Mittel- und Osteuropa und ihre Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt untersucht wurden (siehe Working Papers, Nr. 229) werde resümiert, dass der Einfluss der Verlagerungen auf den deutschen Arbeitsmarkt ziemlich gering ist. Und das deshalb, weil dreiviertel der Firmen, die dort investieren, das eher tun, weil sie neue Märkte suchen, und weniger aus Gründen der Kostenreduzierung.
Es wird geschätzt, dass durch Auslandsdirektinvestitionen nach Osten über die gesamten neunziger Jahre etwa 300.000 Jobs über die Grenze verlagert wurden, was – verglichen mit den 3,2 Millionen Industriearbeitsplätzen, die seit 1991 in Gesamtdeutschland verloren gegangen seien – eine geringe Zahl sei. (Kurzinformationen und Analysen, Nr. 3, 2002).

Schaue man drittens auf die Beschäftigungsentwicklung der in Niedriglohnländer ausgelagerten Firmen, so würde diese sich nur zu einem kleinen Teil auf die Arbeitsmarktdynamik niederschlagen. Es zeige sich vielmehr in den letzten fünf Jahren eine enge positive Korrelation zwischen Auslands- und Inlandsbeschäftigung in einer Größenordnung von rund 85%. D.h. die Auslandsinvestitionen wirken anders als noch in der ersten Hälfte der 90er Jahre inzwischen sogar positiv auf den deutschen Arbeitsmarkt zurück.

Selbst wenn man – viertens – die statistisch nicht erfassten Auslandsinvestitionen kleinere und mittlerer Unternehmen und die höhere Kapitalintensität in den mittel- und osteuropäischen Ländern noch mit einkalkuliere, läge die Zahl der durch die geringeren Lohnkosten ausgelösten Verlagerungen von Arbeitsplätzen allenfalls bei 600.000 in der letzten Dekade. (Zur Erinnerung: Das schafft Stoiber in einem Jahr.)

In einer weiteren Erhebungsquelle, dem European Restructuring Monitor (ERM) – der Firmenumstrukturierungen aus Veröffentlichungen der Betriebe und aus Zeitschriften auswertet – seien seit Januar 2002 117.000 Job-Verluste erwähnt. Davon seien 3% durch Betriebsverlagerungen und weitere 0,3% durch „outsourcing“ verloren gegangen. Verglichen mit anderen europäischen Staaten sei der Anteil der verlagerten Stellen aus Deutschland relativ klein und die negativen Auswirkungen des „Offshorings“ auf den deutschen Arbeitsmarkt seien relativ gering. Im Vereinigten Königreich und in den USA seien die Auswirkungen jedenfalls größer.

Fazit:
Wir wollen auch die Studie eines Finanzberatungsunternehmens nicht „als das letzte Wort“ zum Problem von Arbeitsplatzverlagerungen nehmen. Im Gegensatz aber zur bei uns üblichen Panikmache mittels Verallgemeinerungen von Einzelfällen oder in dem man Arbeitsplatzverluste verursacht durch den ganz normalen Strukturwandel oder durch konjunkturelle Schwankungen einfach Betriebsverlagerungen ins Ausland zuschiebt, wie das in den Medien (exemplarisch im SPIEGEL vom 25.10.04) geschieht, wurde in der Studie von Morgan Stanley wenigstens das zur Verfügung stehende Wissen zusammengeführt.
Dieses Wissens mag nicht ausreichend sein. Aber das einzugestehen ist immer noch besser als begründungs- und verantwortungslose Behauptungen in die Welt zu setzen, wie das Merkel und Stoiber und mit ihnen viele Medien tun. Man darf das Problem von Betriebsverlagerungen nicht verharmlosen. Aber man darf schon gar nicht durch gezielte Propaganda oder durch gewollte Verunsicherung einen Trend herbei reden und – was noch schlimmer ist – damit eine politische Erpressung begehen.

Erpressung wird im Strafrecht als eine Tat umschrieben, durch die der Täter Mittels Bedrohung einen anderen zu einer Vermögensverfügung bestimmt und diesem dadurch einen Schaden zufügt.
Nichts anderes betreiben Merkel und Stoiber auf politischer Ebene: Sie verbinden mit der bedrohlichen Behauptung über die Abwanderung von Arbeitsplätzen ins Ausland die Forderung nach Senkung der Unternehmenssteuern (zum Schaden für die Staatsfinanzen und damit für die Allgemeinheit) und sie wollen damit die Gewerkschaften nötigen Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen hinzunehmen (zum Schaden für die Arbeitnehmer und deren Anteil an der Wertschöpfung)

Quelle: Morgan Stanley »


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