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Titel: Brasilien: Mit mangelnden Beweisen und zwielichtigen Begründungen – Altpräsident Lula zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt

Datum: 15. Juli 2017 um 9:30 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption
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Es war die Chronik eines angekündigten Schauprozesses. Sie begann im Jahr 2014 mit “Operação Lavajato” (“Unternehmen Waschanlage”) und gipfelt in der Kriminalisierung des erfolgreichsten und populärsten Präsidenten Brasiliens der vergangenen 50 Jahre. Am vergangenen 12. Juli verurteilte der Bundesrichter in erster Instanz, Sergio Moro, den brasilianischen Altpräsidenten Luis Inácio Lula da Silva (71) zu 9 Jahren und 6 Monaten Haft, einer millionenschweren Geldstrafe und der Aussetzung seiner politischen Rechte für die kommenden 19 Jahre. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Mit der aufgesetzten Begründung, er habe „nichts Persönliches” gegen den Angeklagten und weil er „traumatische Auswirkungen” verhindern wolle, solle der Ex-Präsident auch nicht verhaftet werden, sondern dürfe in Freiheit gegen das Urteil in erster Instanz in Einspruch gehen. Mit der zweiten Instanz, so schätzen brasilianische Rechtsexperten, dürfe kaum vor Mitte 2018 gerechnet werden.

Schon wenige Stunden danach, am späten Mittwochabend, war Lulas Verurteilung mit 68.000 zumeist kritischen und mitleidenden Erwähnungen das weltweit trending topic auf Twitter und das beherrschende Thema auf den Internet-Plattformen der New York Times und der Washington Post, des Guardian, Le Monde, der Süddeutschen und der Neuen Zürcher Zeitung.

Der Londoner Guardian erinnerte, der Angeklagte sei doch jener respektierliche Staatschef, der sich vor sechs Jahren mit einer Popularitätsrate von 83 Prozent von seiner achtjährigen Amtszeit verabschiedete. Einst habe ihn Präsident Barack Obama auf einem politischen Gipfel unter seinen Arm eingehakt und ihn verspielt einer Runde weiterer Staatsmänner mit den Worten vorgestellt, „he is the guy – er ist der Typ!”. Und nun dieser „schlimme Absturz”, so der Guardian.

Aus Brasilien konterte Jânio de Freitas, einsame Feder des korrekten und couragierten Journalismus in der ultrakonservativen und mit Michel Temer verbündeten Tageszeitung Folha de São Paulo, mit einem fulminanten Satz:

„Es ist leichter, die eigentlichen Gründe für die Verurteilung Lulas außerhalb der Gerichtsakten als in den Akten selbst zu finden. Die Rede ist von überzeugenden und einwandfreien Beweisen, wie es die geregelte Urteilsfindung und das Wesen der Justiz erwarten lassen”.

Politischer Schauprozess

Wie von den Nachdenkseiten bereits ausführlich im vergangenen Mai berichtet, wurden seit Ende 2015 fünf unterschiedliche Verfahren gegen den ehemaligen brasilianischen Präsidenten eingeleitet, drei davon im Rahmen der Korruptionsermittlungen im Fall Petrobras.

Das jetzige Urteil Richter Moros gegen Lula da Silva will einen Schauplatz der Petrobras-Affäre benennen, es gelingt ihm jedoch kaum mehr als eine billige Schmierenkomödie. Nach des Richters Überzeugung sei von dem Baukonzern OAS eine Wohnung im 100 Kilometer von São Paulo entfernten Strandort Guarujá aufwendig für den Ex-Präsidenten als kaschierte „Bestechung” für seine angebliche Vermittlung bei der unzulässigen Beschaffung von Aufträgen des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras renoviert worden.

Die Geschichte um das Apartment hat das Zeug für eine typisch brasilianische Telenovela mit ihren 200 Folgen – ein unrealistisches, an den Haaren herbeigezogenes und langatmiges Justiz-Narrativ.

Zusammengefasst: Im Jahr 2005 inspizierte das Ehepaar Marisa und Luis Inácio Lula da Silva ein im Bau befindliches Apartment im gleichen Wohnhaus, das dem damaligen Präsidenten aber nicht gefiel und wofür das Ehepaar nach wenigen Ratenzahlungen seine Beiträge stornierte. Die Wohnung war durch den Baukonzern OAS angeboten worden, der sie jedoch durch eine Hypothek schließlich der staatlichen Sparkasse Caixa Econômica übereignete. Die Eigentumslage ist eindeutig, es wurden 72 Zeugen vorgeladen, von denen kein einziger die Behauptung der Staatsanwaltschaft bestätigte, die Wohnung sei eine angebliche „geheime Abfindung” von OAS an den Präsidenten.

Hunderte von Falschmeldungen über den angeblichen Besitz wurden während der Zeugenvernehmung von der Staatsanwaltschaft und Richter Moro gesetzwidrig an die Medien geleakt und eine – man muss es so nennen – hysterische Kampagne mit der Behauptung inszeniert, Lula da Silva betreibe Eigentums-Verheimlichung. Als die Kriminalisierungstaktik zusammenzubrechen drohte, überredeten Staatsanwaltschaft und Richter Moro Anfang 2017 den seit zwei Jahren inhaftierten OAS-CEO Léo Pinheiro zu einer Aussage-Regelung mit Strafmaßreduzierung. Der sichtlich verunsicherte Pinheiro erklärte nun auf Bestellung, er sei von Lula dazu angehalten worden, sämtliche Besitzunterlagen zu vernichten, doch beweisen könne er das nicht… Prompt wurde das Strafmaß des Managers dankend von 30 (!) auf 2,5 Jahre Haft heruntergedrosselt und der „schlagende Beweis” sofort den Medien zugespielt.

Mit ähnlich tückischen Mitteln versuchten Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter Moro – die im südbrasilianischen Curitiba in der Einsatzgruppe Lava Jato („Unternehmen Waschanlage”) zusammengefasst sind – Beweise zur Überführung des Ex-Präsidenten in weiteren drei Verfahren, darunter das der angeblichen „Justizbehinderung”, zu erzwingen.

Regelverstöße, Diskrepanzen, Ungereimtheiten

„Die Beweise sind dünn”, bestätigte selbst Thomas Milz für die konservative Neue Zürcher Zeitung (“Brasiliens ehemaliger Präsident zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt” – 12.07.2017).

Der brasilianische Historiker Fernando Horta durchforstete Moros 200-seitigen Prozessakten und rechnete auf, dass der Richter höchstens 24 Seiten (12 Prozent) der tatsächlichen, materiellen Beweisführung widmet, doch ganze 134 Seiten (67 Prozent) für sogenannte „mündliche Beweise” ausschlachte; in Wahrheit ein Mix aus Berichten und Kronzeugen-Aussagen, bar jeder konkreten Beweisführung.

Schlimmer noch: Als „Beweis” für den angeblichen Besitz der Wohnung zitiert Sergio Moro 9-mal einen dubiosen Bericht aus der Tageszeitung O Globo, im Besitz der größten Mediengruppe und der reichsten Familie Brasiliens, die zusammen mit Folha de São Paulo und der Wochenzeitschrift Veja führend am parlamentarischen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff beteiligt war und den Richter in den vergangenen drei Jahren zweimal zum „Mann des Jahres” festlich auszeichnete.

Historiker Horta bestätigt den seit mindestens zwei Jahren von zahlreichen brasilianischen Juristen und ihren Verbänden scharf kritisierten Umgang – oder sollte man sagen, das Geschäft? – der Staatsanwaltschaft und Richter Moros mit der Kronzeugen-Regelung zur Strafmaßreduzierung.

„Sämtliche angeblichen Beweise Moros entstammen den in den Kronzeugen-Regelungen involvierten Individuen”, denen die Attestierung von Lulas Unschuld durch sämtliche von der Verteidigung vorgeladenen Zeugen gegenübersteht, bemängelt Horta, und dreht den Spieß um: „Wie wäre es denn, wenn irgendeiner von uns normalen Sterblichen vor einem seriösen Richter behaupten würde, das Apartment gehöre ihm und als Unterlage die gleichen Scheinbeweise vorzeigen würde, wie es Richter Moro tut , um Lula zu verurteilen – würde wirklich ein Richter darauf eingehen und ihm den Besitz attestieren?”.

Eine der immer wiederholten Klagen von Lula da Silvas Chefanwalt Cristiano Zanin gegen die Prozessführung war denn auch Moros Ablehnung der Aussagen der Verteidigungszeugen mit der zweifelhaften Begründung, sie seien „irrelevant” oder „täten nichts zur Sache”.

Ganze zwei Jahre brauchte die Anklage gegen die suspekte Kronzeugen-Regelung, bis sie schließlich auch von Auslandskorrespondenten wie Thomas Milz in der NZZ aufgegriffen und die gesetzwidrigen Machenschaften von „Unternehmen Waschanlage” auch im deutschsprachigen Mainstream beim Namen genannt werden. „Hauptsächlich stützt sich Moro auf Aussagen von Kronzeugen. Diese hätten Lula auf Druck der Staatsanwaltschaft ans Messer geliefert, um sein Comeback auf der politischen Bühne zu verhindern, so Lulas Verteidigungslinie”, schrieb Milz.

Politische Hexenjagd

Frei Betto, ein Dominikaner-Pater, Freund und ehemaliger Berater Lulas, erklärte in brasilianischen Medien, das Urteil Richter Moros „sage mehr über den Richter aus als über den Angeklagten”. Das ist das stete Reden von Anwalt Zanin.

Richter Moro hat „seit langem und deutlich seine Unabhängigkeit und Unbefangenheit aufgegeben”, beklagte Zanin, der den Fall bereits Ende 2016 der Menschenrechts-Kommission der Vereinten Nationen gemeldet hat und nach wie vor darauf hofft, dass die einflussreiche internationale Institution nach der Urteilsverkündung nun eine energische Ermahnung der brasilianischen Justiz zur Causa Lula abgibt. Die ja keine bindenden Konsequenzen hat, sondern eher als moralischer Appell zu verstehen ist.

Das Gericht in zweiter Instanz, das in den kommenden Monaten über Lulas Revisionsverfahren zu befinden hat, annullierte in jüngster Zeit jedes dritte Urteil Moros zu Gunsten seiner Angeklagten. Das ist die Hoffnung vom Anwaltsbüro Zanin. Mit einem Freispruch könnte der mit über 30 Prozent in sämtlichen Szenarien für die Präsidentschaftswahl ungehindert kandidieren. Doch wie wird sich die durch und durch suspekte und undurchschaubare Justiz in den übrigen drei Anklagen gegen den Führer der Arbeiterpartei verhalten?

Nach Lula II (2003-2006; 2007-2010) beschwört die brasilianische Oligarchie sämtliche Dämonen der afrobrasilianischen Kulte zur Verhinderung eines Lula III. Die konservative Tageszeitung Folha de São Paulo versucht seit Wochen den wegen schwerer und nachweislicher Korruption angeklagten de-facto-Präsidenten Michel Temer zu retten und appellierte in ihrem Leitartikel vom 13.07. an die Richter in zweiter Instanz, „auf schnellstem Wege” mit Lula da Silva wörtlich den kurzen Prozess zu machen; „zur Aufatmung aller Brasilianer”.

Hingegen Professor Afrânio Jardim, landesweit geachteter Jurist und pensionierter Staatsanwalt, schrieb wenige Stunden nach der Urteilsverkündung: „Es lohnt sich eine Mahnung zu wiederholen: Wenn Polizei, Staatsanwaltschaft und die Justiz auf “der gleichen Seite“ operieren, wenn diese Apparate sich rühmen, Arm in Arm dieses oder jenes “gemeinsam zu bekämpfen“, dann wehe uns, denn dann ist es zu Ende mit dem Schutz des demokratischen Rechtstaats!”.


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