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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: De mortuis nihil nisi bene. – Über die Toten nur Gutes sprechen?
Datum: 19. Juni 2017 um 12:21 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Albrecht Müller
Helmut Kohl wird gefeiert. Er wird als Kanzler der Einheit und sogar als der bisher überragende Bundeskanzler hochgejubelt. Jetzt soll es sogar zum ersten Mal und einzigartig einen europäischen Staatsakt für ihn geben. Eines der Ziele dieser Jubelei ist offenkundig: die CDU soll dreieinhalb Monate vor der Bundestagswahl als die Staatspartei erscheinen. Dass Vertreter anderer Parteien an diesen Jubelgesängen mitmachen, ist deshalb besonders abstrus. In diesen Tagen findet damit eine große Geschichtsfälschung statt. Um dies nicht glatt durchgehen zu lassen, muss an gravierende Schattenseiten des Wirkens von Helmut Kohl erinnert werden. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Bevor ich diese Schattenseiten beleuchte, will ich in der ersten Anmerkung an eine positive Seite des Wirkens von Helmut Kohl erinnern:
1989 und 1990, also zu Zeiten des Endes des West-Ost-Konfliktes, war ich mit dem Bonner Korrespondenten meiner Regionalzeitung, der „Rheinpfalz“, befreundet. Klaus Hofmann war auch mit Helmut Kohl befreundet. Er warnte mich damals vor der gängigen Fehleinschätzung im fortschrittlichen Lager von Politik und Medien. Es gab dort, zum Beispiel auch im Spiegel, die auch unter Sozialdemokraten und Grünen übliche Lästerei über Helmut Kohl. Nicht sehr liebevoll und durchaus abwertend sprach man von Kohl als von der „Birne“ – damit war auch der Unterton einer gewissen geistigen Mittelmäßigkeit verbunden. Klaus Hofmann überzeugte mich davon, dass dahinter gravierende Fehleinschätzungen stecken. Kohl mache sich sehr langfristige und umfassende Gedanken. Das betraf in der damaligen Zeit vor allem die Entwicklung in der Sowjetunion nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes.
So jemanden wie diesen Kohl könnte man heute in der Politik gebrauchen. Denn was der Westen und auch die Bundesrepublik Deutschland im Umgang mit Russland tun, lässt darauf schließen, dass die heute handelnden Personen sich keine Gedanken darüber machen, welche Wirkung ihre Agitation und ihre Entscheidungen auf die innere Entwicklung Russlands haben.
Dies war eine Ergänzung der vielen positiven Würdigungen des früheren Bundeskanzlers. Und jetzt zu den Schattenseiten und zu notwendigen Korrekturen der üblichen Einlassungen:
Der Abbau der Konfrontation zwischen West und Ost und die deutsche Einheit wären ohne die Entspannungspolitik der Regierungen Brandt und Schmidt nicht möglich gewesen. Diese Entspannungspolitik wurde gegen die CDU/CSU eingeführt und von dieser dann im weiteren Verlauf zunächst nur halbherzig begleitet.
Kanzler Kohl hat sich dann in dieser Funktion um die Vereinigung verdient gemacht, aber hat keineswegs die Grundlagen dafür erarbeitet.
Die Entscheidungen dafür wurden unmittelbar nach der Regierungsübernahme Kohls im Herbst 1982 getroffen. 1984 begannen die ersten kommerziellen Sender. In der Konkurrenz um die Einschaltquoten zwischen kommerziellen Sendern und öffentlich-rechtlichen ist dann das eingetreten, was die Kritiker dieser Entscheidung vorhergesagt haben: es gab nicht mehr Vielfalt, sondern mehr Einfalt. Die öffentlich-rechtlichen Programme haben sich den kommerziellen angepasst.
Das alles konnte man wissen: Bundeskanzler Helmut Schmidt hat sich bis zum Ende seiner Regierung im September 1982 dagegen gewehrt. Dabei ging es ihm nicht um Verbote oder etwas ähnliches, sondern nur darum, kein öffentliches Geld in die Vermehrung der Fernsehprogramme und in ihre Kommerzialisierung zu stecken. Die Regierung Kohl hat das dann massiv getan.
Nachdem dann zehn Jahre später der Schaden der Kommerzialisierung für unsere Gesellschaft erkennbar war, weinte ein Politiker der CDU/CSU nach dem anderen Krokodilstränen – Günther Oettinger zum Beispiel, der für die Medienpolitik lange Zeit zuständige Bernhard Vogel und Ursula von der Leyen, damals Familienministerin. All die beklagten Schäden konnte man kennen. Helmut Schmidt hat sie in einem Beitrag für die „Zeit“ schon 1978 vorhergesagt. Siehe hier.
Die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes hat unter meiner Leitung dazu Untersuchungen gemacht und ausführlich dokumentiert, was auf unsere Gesellschaft und auf das, was wir Demokratie nennen, zukommt. Wer sich für dieses Thema und die Verantwortung der Regierung Kohl für eine gravierende Fehlentscheidung interessiert, findet im Kapitel 21 meines Buches „Meinungsmache“ weitere Informationen: „Das Verschwinden der Medien als kritische Instanz“.
Unsere Gesellschaft, unsere ohnehin fragile Demokratie und die Familien und Kinder haben unter Kohls Fehlentscheidungen gelitten. Die Kommerzialisierung der elektronischen Medien wirkt bis heute als wirkliche Katastrophe nach. Kohl aber hat von der Kommerzialisierung persönlich und politisch viel profitiert. RTL und Sat eins und Prosieben haben ihn ausgesprochen freundlich behandelt. Einer der Sender hat ihm sogar einen eigenen Sendeplatz eingeräumt.
Das Lambsdorff Papier vom 9. September 1982 enthält wichtige neoliberale Weichenstellungen. Das auch vom CDU-Politiker Hans Tietmeyer inspirierte Papier war eine Art Scheidungsurkunde der FDP für die sozialliberale Koalition. Siehe hier: Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ vom 9. September 1982 im Original.
Siehe dazu einen Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung.
Der Niedriglohnsektor hat also nicht mit der Agenda 2010 und mit Gerhard Schröder angefangen. Seine Regierung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Absinken der Reallöhne zwischen 2003 und 2007 verantwortlich. Aber eingeleitet wurde diese Entwicklung vorher. Das hat etwas mit dem nächsten Punkt zu tun:
Die deutsche Bundesregierung hätte dafür sorgen müssen, dass im Euro Raum alles getan wird, damit sich die Wettbewerbsfähigkeit, also die Lohnstückkosten einigermaßen im Gleichschritt entwickeln. Dafür hat sie nicht gesorgt. Die Regierung Kohl hat das Fundament für die unselige Politik der Leistungsbilanzüberschüsse und die Nutzung dieser Entwicklung durch seine Nachfolgerin Angela Merkel und Wolfgang Schäuble gelegt.
Wenn jetzt behauptet wird, Kohl habe sich besonders um Europa gekümmert und verdient gemacht, dann ist das schlicht die Unwahrheit. Kohl ist einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass es die heutige Bedrohung für die Europäische Union gibt. Die Krisen in Griechenland, in Spanien, in Italien haben etwas mit seiner Politik zu tun. Wenn das europäische Parlament und die Kommission der EU jetzt Helmut Kohl in einem besonderen Staatsakt ehren wollen, dann ist das zugleich eine Art Ablenkungsmanöver von der gemeinsam produzierten Schwäche der Europäischen Union.
Damit beende ich die Liste der kritischen Anmerkungen zum Wirken von Helmut Kohl als Bundeskanzler. Mit Sicherheit gibt es weitere Anmerkungen zu machen. Die obige Liste enthält jedoch so viele gravierende Einwände, dass die Verantwortlichen, die sich ja auch um den Ruf unserer Demokratie und unseres Landes zu kümmern haben, noch einmal überlegen sollten, ob sie die Kohlfeiern wie begonnen weitertreiben.
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