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Titel: Großbritannien wählt und es wird noch einmal richtig spannend

Datum: 8. Juni 2017 um 12:44 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demoskopie/Umfragen, Wahlen
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Als Theresa May im April Neuwahlen ausgerufen hat, hat niemand – auch ich nicht – einen Pfifferling auf Jeremy Corbyn und seine Labour Party gegeben. In wenigen Wochen hat sich die Lage jedoch gedreht – Corbyn schaffte es, vor allem junge Menschen mit klassisch sozialdemokratischen Positionen für Labour zu begeistern, während Theresa May von einem Fettnapf in den anderen stapfte. Die Umfragen liegen weit auseinander und sagen einen Sieg der Tories zwischen einem und zwölf Punkten voraus. Wegen des Mehrheitswahlrechts lässt sich daraus jedoch nur indirekt auf die Mandate schließen. Labour muss nicht zwingend vor den Tories liegen, um am Ende als Sieger in Westminster einzuziehen. Ein momentan recht wahrscheinliches Szenario könnte beispielsweise so aussehen, dass die Tories trotz eines knappen Vorsprungs keine absolute Mehrheit im Parlament haben und keinen Koalitionspartner finden. Am Ende könnte daher Jeremy Corbyn in dieser Nacht als Sieger vom Platz gehen, obwohl Mays Tories die meisten Stimmen geholt haben. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

An Überraschungen arm war der britische Wahlkampf garantiert nicht. Für mich bestand die größte Überraschung darin, dass es in der heutigen Mediengesellschaft tatsächlich möglich ist, einen inhaltlichen Wahlkampf gegen den Mainstream und gegen die absolute Mehrheit der klassischen Medien zu machen und damit die Menschen für sich zu gewinnen. Wenn Jeremy Corbyn nämlich eines nicht ist, dann ist es ein „Populist“ – auch wenn dies bei vielen Kommentatoren noch nicht angekommen ist. Das Wahlprogramm von Labour trägt den Titel „For the many, not the few“ (für die Vielen, nicht für die Wenigen) und hat es in sich. Es ist sowohl klassisch sozialdemokratisch, als auch realpolitisch und für die Wähler verständlich. Alle mir bekannten Analysten sind sich in dem Punkt einig, dass vor allem die Inhalte maßgeblich zum „Wiederauferstehen“ von Labour beigetragen haben.

Inhalte zählen wieder!

Um was geht es Labour? Für Deutsche ist es nicht immer leicht, den britischen Wahlkampf zu verstehen, da er durch viele nationale Punkte gekennzeichnet ist, zu denen wir keine Schnittpunkte haben. So betont Corbyn beispielsweise in fast jeder Wahlkampfrede, dass er den Krankenhäusern untersagen will, Parkgebühren zu erheben. Parkgebühren? In den öffentlichen britischen Krankenhäusern sind diese Gebühren, die bis zu 30 Euro pro Schicht ausmachen, eine beliebte Art der Arbeitgeber, sich einen Teil des ohnehin schon schlechten Lohns der Mitarbeiter zurückzuholen. Für Krankenschwestern, die im teuren London um die 3.000 Euro pro Monat verdienen, sind 600 Euro Parkgebühren schon eine Hausnummer. So wurden die Parkgebühren – stellvertretend für viele indirekte Kosten, die den Mitarbeitern aufgebürdet werden – zu einem der vielen Inhalte des Labour-Wahlkampfs.

Die Hauptthemen sind freilich Politikfelder, die auch in Deutschland sehr gut verstanden werden:

  • Privatisierungen: Labour tritt für eine Rückführung der privatisierten Unternehmen aus den Sektoren Gesundheit, Energie, Wasser, Verkehr und Post in die öffentliche Hand ein.
  • Gesundheitspolitik: Labour will den öffentlichen NHS besser finanzieren und die Mitarbeiter besser entlohnen.
  • Wohnungsbau: Labour will eine Millionen Wohnungen bauen, davon die Hälfte in öffentlicher Hand; zusätzlich soll es eine Mietpreiskontrolle geben.
  • Bildung: Labour will die Studiengebühren abschaffen, 6,3 Mrd. Pfund in die Schulen investieren, freie Mahlzeiten für Grundschüler einführen und die Klassengrößen senken.
  • Arbeit: Labour will gegen prekäre Arbeitsverhältnisse vorgehen und den Mindestlohn erhöhen.
  • Finanzen: Labour will die Bankenaufsicht stärken und Steuerschlupflöcher schließen.
  • Steuern: Labour will Unternehmen stärker besteuern und den Steuersatz für Menschen, die mehr als 80.000 Pfund pro Jahr verdienen, anheben.
  • Soziales: Labour will eine kostenlose Kinderbetreuung einführen.
  • Altersvorsorge: Labour will die Mindestrente jährlich nach einem nach oben offenen flexiblen System steigen lassen.

Was hier fehlt, sind sicherheits- und außenpolitische Themen. Hier hat die Parteibasis sich durchgesetzt. So ist Jeremy Corbyn zwar ein Befürworter der sofortigen Verschrottung der britischen Atomwaffen, die Labour-Basis ist in diesem Punkt jedoch anderer Meinung. Und da Corbyn immer wieder betont, dass die Partei das Wahlprogramm ohne Wenn und Aber gemeinsam verabschiedet, musste er sich in einigen Punkten überstimmen lassen. So geht Demokratie!

Corbyns Wahlkampfstrategie bestand vor allem darin, seine Inhalte zu thematisieren und damit die Debatte in sein Spielfeld zu holen. Das war nicht immer leicht. Anfangs ging es vor allem um zahlreiche Aussagen von ihm, die zwar sicher im Kontext verständlich, jedoch nicht mehrheitsfähig sind. So wurde er vielfach wegen kritischer Äußerungen zu Israel als Antisemit bezeichnet. Das war jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Sein „Verhältnis“ zu Hamas, zur IRA und generell zu sicherheits- und militärpolitischen Themen waren und sind für seine Gegner natürlich ein gefundenes Fressen. Mit solchen Schikanen muss ein Kandidat mit pazifistischem und antiimperialistischem Hintergrund aber leben. Corbyn verstand es dann auch schnell, diesen Vorwürfe damit zu begegnen, indem er die Aussagen in den Kontext rückte. Klar ist aber auch, dass viel von dem Dreck, mit dem er vom politischen Gegner – auch innerhalb der Labour Partei – beworfen wurde, an ihm hängenblieb. Für viele traditionelle eher konservative Labour-Wähler im Norden ist und bleibt Corbyn unwählbar. Dafür ist sein Erfolg bei jungen Städtern phänomenal.

Fuchsjagd, Demenzsteuer und eine Wende nach der anderen

Theresa May ist im Vergleich eher eine Lachnummer. Die Dame, die stets betont, „stark und prinzipientreu“ zu sein (strong and stable), ist während des gesamten Wahlkampfs durch eine Wende nach der anderen aufgefallen. Das fängt schon beim Wahltermin an. Zunächst wollte sie gar keine vorgezogenen Neuwahlen, dann rief sie sie doch aus. Früher kämpfte May gegen das unsoziale Image der Tories an, heute ist sie vor allem bei der Einwanderungsfrage an den rechten Rand gerückt. Sie war Mitglied der Kampagne gegen den Brexit und tut nun so, als sei der Brexit ihr innigster Wunsch. Im Wahlkampf kündigte sie erst Steuererhöhungen für Selbstständige und eine stärkere Beteiligung von Demenzkranken an deren Behandlungskosten an und ruderte dann nach vier Tagen Widerstand zurück. „Stark und prinzipientreu“? Nur sie kann Großbritannien in Brüssel vertreten? Nun ja. Was im Wahlprogramm der Tories überblieb, war die Forderung, die Fuchsjagd wieder zu erlauben. Wahlkampftechnisch – und vollkommen losgelöst vom Inhalt – ist dies freilich eine Torheit ersten Grades, da die Freunde der Fuchsjagd ohnehin die Tories wählen und Wechselwähler durch die Forderung eher abgeschreckt werden. Nichtsdestotrotz hat May immer noch den Rückhalt der meisten Medien … vor allem deshalb, weil die Zeitungsbesitzer den linken Corbyn auf-Teufel-komm-raus verhindern wollen. May ist da nur ein Mittel zum Zweck. Nicht wenige Analysten bezweifeln daher auch bereits jetzt, dass May selbst im Falle eines Wahlsieges tatsächlich Premierministerin wird. In der Partei wetzt man unter der Toga bereits die Dolche.

Gehen die Corbynistas zur Wahl?

Der Hype, den Jeremy Corbyn vor allem bei seinen jungen Landsleuten ausgelöst hat, ist kaum mehr in Worte zu fassen. Tausende pilgern von Wahlkampfveranstaltung zu Wahlkampfveranstaltung. In den Sozialen Medien geht eine regelrechte Corbyn-Lawine ab und vom Rapper bis zum Rocker erhält Corbyn auch von jungen Kulturschaffenden massive Unterstützung. Sein Bild prangte jüngst – auch das ist ein Novum – sogar auf zwei der angesagten Musikzeitschriften. Sogar die konservative BBC verglich die Atmosphäre auf Corbyns Wahlkampfveranstaltungen schon mit dem berühmten Glastonbury Festival. Theresa May begeistert hingegen vor allem in den Landstrichen Südenglands, die stark an das Sujet der Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen erinnern. Hier, im erzkonservativen Teil Englands, könnten die Tories freilich auch einen Kandidaten aus Pappmaché aufstellen und würden den Wahlkreis ohne Probleme gewinnen.


Eine Wahlkampfveranstaltung von Labour in Birmingham

Vor allem in diesem Punkt sind die Wahlen in Großbritannien nicht einmal im Ansatz mit deutschen Wahlen zu vergleichen. Ja, auch hierzulande haben Grüne und Linke in den jüngeren Altersschichten Vorteile, während vor allem auf dem Lande alte Menschen oft die CDU wählen. Großbritannien ist jedoch wirklich zweigeteilt: Bei den jungen Wählern liegt Labour mit 69% der Stimmen um Längen vor den Konservativen, die bei 12% liegen. Zum Vergleich – die konservative CDU liegt in Deutschland bei den Jungwählern mit 39% sogar noch einen Prozentpunkt über dem Ergebnis in der Gesamtbevölkerung. Dürften in Großbritannien nur die „Unter-50-Jährigen“ wählen, wäre Labour der unangefochtene Wahlsieger. Bei den Über-65-Jährigen liegen jedoch die Tories mit 66% vorne und auch auf der Insel ist die Wahlbeteiligung bei den Alten besonders hoch. Wahlentscheidend dürfte es daher sein, wie hoch die Wahlbeteiligung bei den jungen Briten ist. Das Referendum zum Brexit, bei dem auch die jungen Briten die Entscheidung gegen einen Austritt aus der EU hätten herbeiführen müssen, lässt da jedoch wenig Optimismus aufkommen.

Der Brexit – das große Thema, das keins sein darf

Wie ein blauer Elefant steht natürlich das übergroße Thema im Raum, über das niemand so wirklich sprechen will: Der Brexit. Theresa May will ihn ohne Wenn und Aber und will zur Not auch einen „harten Brexit“, also ohne Übereinkommen mit der EU, vollziehen – zumindest sagt sie das, glaubwürdig ist das auf keinen Fall. Jeremy Corbyn will hingegen verhandeln und plädiert für einen „weichen Brexit“. Die Schottische Nationalpartei ist generell gegen einen Brexit und strebt nun ein zweites Referendum in Schottland an, um Schottland von Großbritannien abzuspalten und in der EU zu bleiben. Die Liberaldemokraten und die Grünen waren konsequente Gegner des Brexit, können aber bei den heutigen Wahlen nicht mit Rückenwind rechnen. Der Brexit ist abgemachte Sache und niemand traut sich, das Votum aus dem letzten Jahr in Frage zu stellen.

Ein Gewinner der Wahlen steht bereits fest. Für die EU-Kommission wäre es der Albtraum gewesen, bei den noch kommenden Verhandlungen einer gestärkten Theresa May gegenüberzusitzen. Dieses Szenario ist nach heutiger Sicht jedoch fast auszuschließen. Eine geschwächte Theresa May wäre für Brüssel akzeptabel. Noch lieber säße man jedoch mit Jeremy Corbyn am Verhandlungstisch. Corbyn will auf zahlreichen Gebieten eine Partnerschaft mit der EU aushandeln und strebt Kompromisse an, die May (noch) kategorisch ausschließt. Es besteht jedoch auch die reale Gefahr, dass Brüssel wieder einmal eine linke Regierung auflaufen lässt, um den Wählern in allen EU-Ländern klarzumachen, dass es keine linke Alternative geben kann.

Koalitionen? Für die Briten eigentlich undenkbar

Die Briten lieben klare Mehrheiten. Im britischen Unterhaus gilt selbst die momentane Mehrheit von 15 Mandaten, über die Mays Konservative verfügen, als knapp. Das hat zwei Gründe: Zum einen halten es die Briten mit der Fraktionsdisziplin lockerer als wir Deutschen und zum anderen werden die Mandate von Abgeordneten, die zurückgetreten oder verstorben sind, regelmäßig durch Neuwahlen in den jeweiligen Wahlkreisen neu besetzt. Zwischen fünf und zwanzig Mandate werden also während der Legislaturperiode neu vergeben. Mit einer knappen Mehrheit eine Regierung zu bilden, ist daher ein heikles Unterfangen.

Wenn die Wahlen gemäß den Umfragen ausgehen, ist ein sogenanntes „Hung Parliament“, also ein Parlament, in dem keine einzelne Partei eine echte Mehrheit hat, am wahrscheinlichsten. Die Liberaldemokraten werden wohl um die fünf Mandate erzielen können, die Grünen haben ein Mandat in Brighton so gut wie sicher und die regionalen Parteien aus Schottland, Wales und Nordirland kommen zusammen auf rund 75 Mandate. Für eine „echte Mehrheit“ bräuchten die Tories also mindestens 80 Mandate mehr als Labour und das ist schon eine Aufgabe. Wenn wir morgen ein „Hung Parliament“ als Ergebnis haben, wird es nämlich richtig pikant. Das letzte Mal gab es 2010 ein solches Ergebnis, als die Liberaldemokraten fast 20 Prozent der Stimmen bekamen und die Tories – obgleich sie nur zweitstärkste Partei hinter Labour waren – zusammen mit ihnen eine Koalition bildeten. 2010 führte jedoch David Cameron die Tories in die Wahlen und der war im Vergleich zu Theresa May geradezu ein Linksliberaler. Es ist eigentlich auszuschließen, dass die Liberaldemokraten noch einmal mit den Tories koalieren – zumal das Thema „Brexit“ sie entzweit. Ein sehr knapper Rückstand könnte von May noch durch eine Koalition mit den Unionisten aus Nordirland ausgeglichen werden. Die verfügen aber auch nur über wenige Mandate und haben beim Thema Brexit andere Vorstellungen, die jedoch kein unüberwindbares Hindernis darstellen.

Der Traum vom breiten Mitte-Links-Bündnis

Labour könnte auf der anderen Seite – auch wenn dies heute niemand öffentlich sagen würde – eine breite Koalition zusammen mit der Schottischen Nationalpartei, den Liberaldemokraten und einigen regionalen Parteien aus Wales und Nordirland bilden. Inhaltlich gibt es zwar große Unterschiede, die jedoch ebenfalls nicht unüberwindbar sind. Heikel dürfte da nur die Sonderrolle der schottischen SNP werden. Die will schließlich ein Referendum für Schottland umsetzen und würde sich im Erfolgsfall aus dem Unterhaus verabschieden und die Koalition ohne Mehrheit dastehen lassen. Aber auch das ist Zukunftsmusik und zugegebenermaßen spekulativ.

Fest steht nur, dass es spannend wird. Fest steht auch, dass Jeremy Corbyn bereits jetzt viele Erfolge erreicht hat, die ihm kaum wer zugetraut hätte – er hat dem massiven Gegenwind der Medien widerstanden, er hat die zahlreichen Dolchstöße der Mehrheit seiner rechten Gegner innerhalb der Partei überlebt, er hat gezeigt, dass es heute auch noch um Inhalte geht und dass klassisch sozialdemokratische Inhalte die Wähler überzeugen und last but not least hat er gezeigt, dass man auch die jüngere Generation mit Authentizität und einer der Zukunft zugewandten Politik für sich gewinnen kann. Chapeau! Selbst wenn Corbyn heute krachend verliert, werden diese Erfolge unvergessen bleiben.


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