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Titel: Kollektives Medienversagen oder Übertreibung?

Datum: 2. Juni 2017 um 11:04 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Medienkritik, Private Public Partnership
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Auch der Medienjournalist Stefan Niggemeier liest offenbar die NachDenkSeiten. In einem gestern veröffentlichten Artikel kritisierte er meinen Kommentar zum medialen Desinteresse über die Privatisierung der Autobahnen scharf. Niggemeier will von einem Versagen der Medien nichts wissen und belegt dies dadurch, dass er zahlreiche – zum größten Teil ältere – Artikel herauskramt, die sich kritisch mit dem Thema auseinandersetzen. Den zentralen Kritikpunkt meines Kommentars, auf den sich die Aussage vom „kollektiven Medienversagen“ bezieht, wischt er jedoch mit einer Randbemerkung weg. Aber machen Sie sich doch selbst ein Bild. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hand auf´s Herz – können Sie sich an Artikel oder Radio-/TV-Beiträge erinnern, die in dieser Woche im Vorfeld der Bundestagsdebatte darauf hingewiesen haben, dass gestern der Grundstein für eine weitreichende Privatisierung der bundeseigenen Infrastruktur gelegt wurde? Fand im Vorfeld dieser Entscheidung eine ernsthafte Debatte in den Medien statt? Eine Google-News-Suche, wie sie offenbar von Stefan Niggemeier als probates Recherchemittel eingesetzt wurde, ist da wenig hilfreich. Dass es auch kritische Artikel gab, ist doch unbestritten. Ein Großteil der älteren Artikel, die Niggemeier anführt, um seine Gegenthese zu untermauern, wurde ja auch zu Recht in unseren Hinweisen des Tages gelistet. Und es ist natürlich toll, wenn beispielsweise die Berliner Zeitung kritisch berichtet hat. Auch die Frankfurter Rundschau machte am Vorabend der Bundestagsabstimmung noch einmal eine Ausnahme. Aber die Themen der Woche waren doch andere … und das weiß auch ein Herr Niggemeier.

Thematisch bestimmend war wieder einmal Donald Trump … sein Verhalten auf dem G7-Gipfel, seine vermeintliche Unzuverlässigkeit, seine angebliche Russland-Connection und last but not least sein Vertipper bei Twitter. Wegen seiner Aufkündigung des Klimapakts gab es sogar Sondersendungen und Einblendungen in das laufende TV-Programm. Ich kann mich an keine Topmeldung zum Thema Privatisierung erinnern. Wenn Sie ein Gegenbeispiel nennen können, informieren Sie mich ruhig – ich kann mich auch gerne korrigieren. In der letzten Anne-Will-Sendung ging es um „Trump“, bei Hart aber Fair um „den Kommerz im Fußball“, bei Maischberger um „Schulz“ und bei Maybritt Illner abermals um „Trump“. Meinungsstarke Kommentare in den Leitmedien, die eine Debatte hätten auslösen können, sind mir ebenfalls nicht bekannt. Otto Normalmedienkonsument hat sicher überhaupt nichts von der Grundgesetzänderung mitbekommen. Und dies halte ich angesichts der Wichtigkeit des Themas für ein kollektives Medienversagen.

Die zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist: Darf man auch dann von einem „Schweigen“ sprechen, wenn in einer Randnotiz über die möglichen Gefahren der Gesetzesnovelle berichtet wurde? Ich denke schon, da der Nachrichtenwert nicht einmal im Ansatz berücksichtigt wurde und das ungemein wichtige Thema „Privatisierung“ in der Gewichtung der Leitmedien offenbar keine große Rolle spielt. Welche Macht die Medien vor allem durch ihre Fähigkeit, Debatten loszutreten, haben, ist doch allgemein bekannt. Gerade ein Medienjournalist sollte doch mit dem Begriff „Agenda Setting“ etwas anfangen können.

Warum gab es im Vorfeld der Grundgesetzänderung keine Debatte? Warum wurde das Thema unter ferner liefen behandelt? Am öffentlichen Interesse kann es nicht liegen. Die Petition, auf die wir verlinkt haben, wurde binnen kürzester Zeit von 125.000 Menschen gezeichnet. Wir haben es hier offenbar mit einem Vorgang zu tun, den der Medienforscher Walter Lippmann als „Gatekeeper-Effekt“ bezeichnet hat und der in etwa besagt, dass eine der Aufgaben des Journalismus darin besteht, als „Türsteher“ zu entscheiden, welche Informationen reinkommen und welche draußen bleiben. Die „Türsteher“ der Leitmedien haben – mit ganz wenigen Ausnahmen – in dieser Woche Meldungen, Kommentare und Debattenbeiträge zur Grundgesetzänderung ganz offensichtlich nicht durch die Eingangspforte gelassen. Und daran ändert der Umstand, dass beispielsweise die ZEIT im März schon einmal kritisch über das Thema berichtet hat, gar nichts.

Die zugrundeliegende Debatte ist nicht neu. Man kennt sie beispielsweise zu außen- und sicherheitspolitischen Themen. Man kann die antirussische und proamerikanische Linie der Leitmedien doch nicht dadurch in Frage stellen, weil zwei-, dreimal im Jahr zu nachtschlafender Zeit auf arte oder in der ARD kritische Dokumentationen, wie die von Hubert Seipel, ausgestrahlt werden.

Medienkritik ist nicht gleich Medienkritik. Stefan Niggemeier scheint für sich das Monopol in Sachen Medienkritik in Anspruch zu nehmen. Auch wenn er hin und wieder ja durchaus interessante Artikel schreibt, die wir dann auch in den Hinweisen des Tages verlinken, so weigert er sich doch standhaft, von einer Einzelfallkritik auf eine systemische Kritik umzuschalten. Da heißt es dann immer „das kann man so oder so sehen“ – da wird Niggemeier dann wieder ganz zum Profijournalisten, der sich selbst „neutral“ zurücklehnt.

Niggemeier und die Medien – das ist eine Symbiose. Er kritisiert mit Vorliebe unwichtige Detailfragen, vermeidet aber auf-Teufel-komm-raus einen tiefgründigen Kritikansatz, der über Erbsenzählerei und „Ich weiß was, was Du nicht weißt“ hinausgeht. Mit solcher Kritik können die Medien natürlich sehr gut umgehen, wissen sie doch, dass der publizistische Kettenhund Niggemeier zwar stets laut bellt, aber niemals zubeißen würde. Seine Beißreflexe lebt er schließlich schon woanders aus – zum Beispiel an den NachDenkSeiten.


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