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Titel: Merkels Geheimplan – sind wir Zeugen einer historischen Zeitenwende?
Datum: 29. Mai 2017 um 14:25 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Europapolitik
Verantwortlich: Jens Berger
Wer in diesen Tagen die deutschen Leitmedien verfolgt, bekommt dort eine sehr deutsche Interpretation der jüngsten weltpolitischen Ereignisse präsentiert: Ein leicht verrückter Macho hat das Weiße Haus erobert und ist nun drauf und dran, die Welt zu ruinieren. Derart in die Ecke getrieben, ergreift Kanzlerin Merkel die ihr aufgezwungene Führungsrolle und nimmt das Heft des Handelns in die eigenen Hände, um ein neues, starkes Europa ohne die USA und Großbritannien zu formen. So hat Angela Merkel es in einer Bierzeltrede verkündet und so stellen es die Medien seit geraumer Zeit dar. Nur wie passt „Merkels Geheimplan für Europa“ in dieses Bild, über den die FAS am Wochenende groß berichtete? Ein offenbar bereits seit Längerem ausgeklügelter „Geheimplan“, der nun als „Spontanreaktion“ auf tagesaktuelle Ereignisse präsentiert wird? Spätestens hier sollte man doch Fragen stellen. Kann es nicht auch sein, dass das diplomatische „Trumpeltier“ der Kanzlerin eigentlich ganz gelegen kommt, um Deutschland zur Hegemonialmacht in Kontinentaleuropa zu machen? Das wäre die andere denkbare Interpretation der jüngeren Ereignisse, die ich hier zur Diskussion stellen will. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Eine der Hauptaufgaben der NATO war es, Deutschland in ein internationales Rahmenwerk einzubinden, das verhindert, dass Deutschland wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg wieder eine Bedrohung für den Europäischen Frieden wird. In den Worten des ersten NATO-Generalsekretärs war die NATO dafür da „die Russen raus, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten“. Und nun erweckt Merkel den Eindruck, als seien die Amerikaner nicht mehr wirklich drinnen, und zusätzlich werden wohl Deutschland und Europa eine wesentlich substanziellere und unabhängige Rolle spielen als in den letzten 70 Jahren.
Henry Farrell in der Washington Post von heute
Die Washington Post und die New York Times, die von einer „tektonischen Verschiebung“ spricht, sind sich in ihrer Bewertung der jüngsten Äußerungen der Kanzlerin einig. Merkel hat am Sonntag in einem Münchner Bierzelt in einer Rede die transatlantischen Beziehungen erst einmal begraben. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei“, „wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“ Damit spielte sie auch den angeblich so missverständlich verlaufenen NATO-Gipfel in Brüssel und den G7-Gipfel in Taormina an, der zuvor ja bereits von den Medien ausführlich als Fehlschlag verkauft wurde.
Warum eigentlich? Dass Trump weiterhin auf höhere Militärausgaben der Europäer pochen und einem offenbar im Vorfeld überhaupt nicht abgestimmten Passus zur Klimapolitik nicht zustimmen würde, war klar. Beides ist vor allem innenpolitisch bedingt. Der Rest war Kosmetik. Zuerst rempelte Trump in Brüssel den Präsidenten eines Landes an, das in Deutschland kein Mensch kennt, und dann sickerte noch der inhaltlich vollkommen korrekte Ausspruch durch, nach dem die deutschen Exportüberschüsse schlecht seien … unsere Medienvertreter machten daraus theatralisch überzogen die Formulierung, nach der „Deutschland sehr böse sei“, aber auch das gehört wohl zum Drehbuch.
Denn während Angela Merkel im bayerischen Bierzelt ihre neue geostrategische Doktrin kundtat, erschien parallel im konservativen Vorzeigeblatt „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ ein recht merkwürdiger Insiderartikel, in dem es um „Merkels Vision“, ihren „Geheimplan für Europa“ ging. Einleitend mit dem angeblich geplatzten Gipfel und Merkels Bierzeltrede skizziert die FAS dann umfassende, aber teils auch immer noch unkonkrete Maßnahmen, mit denen die Kanzlerin „das Schicksal Europas“, wie es prosaisch übersteigert formuliert wird, „in die eigene Hand“ nehmen will. Angefangen bei der Flüchtlingsabwehr, einer engen militärischen Verzahnung der kontinentaleuropäischen Armeen, über ein Finanzierungsmodell, bei dem mit Geld, das offenbar aus der Mehrwertsteuer stammen soll, Staaten begünstigt werden, die „Reformen“ durchsetzen, bis hin zur Übernahme der EZB durch den Merkel-Vertrauten Jens Weidmann liefert dieser anscheinend doch nicht mehr so geheime Geheimplan zahlreiche Punkte, die durchaus kritisch zu sehen sind und in ihrer Kombination die sich bereits seit längerem andeutende Hegemonialstellung Deutschlands in Kontinentaleuropa verfestigen würde.
Dies ist dann auch die andere Interpretation der Geschichte: Nachdem Großbritannien sich aus der EU verabschiedet hat und die USA mit einem diplomatisch ungelenken und innenpolitisch massiv unter Druck stehenden Präsidenten die Initiative abgegeben haben, nutzt Deutschland die Situation, um sich zum Hegemon auf dem Kontinent zu machen. Die Chancen dafür stehen gut: Russlands Einfluss wurde zunächst marginalisiert und dann wurde das Land zur gemeinsamen Bedrohung gemacht, für die vor allem die osteuropäischen Staaten eine Schutzmacht benötigen. Südeuropa ist Deutschland indes vor allem aufgrund der Staatsverschuldung ausgeliefert. Großbritannien und die USA irrlichtern durch die Welt und Frankreich hat – wie der „Zufall“ es will – auch noch einen jungen, unerfahrenen Präsidenten, der auf Deutschland angewiesen ist und ohnehin eine gemeinsame ideologische Basis mit der neoliberalen deutschen Politik hat. So sieht eine historische Chance aus.
So gesehen ist die letzte Woche ganz nach Plan der Kanzlerin verlaufen. Teile und herrsche. Die USA und Großbritannien isolieren sich selbst von Woche zu Woche ein Stück mehr, Russland bliebt als angebliche Bedrohung außen vor und Europa wird immer deutscher. Dabei sollte Deutschland doch eigentlich europäischer werden. Während unsere Medien tagaus tagein über Trumps „America first“ schimpfen, spielt sich unter unser aller Augen eine „Deutschland-zuerst-Geschichte“ ab, die in der Tat geostrategisch als tektonische Verschiebung, als historische Zeitenwende, als Zäsur, bezeichnet werden kann. Wenn man statt der „offiziellen“ Erzählung diese Interpretation heranzieht, wird auch das eigentliche Versagen Trumps offenbar, das vor allem die transatlantischen Eliten in den USA auf die Palme bringt. Donald Trump wird womöglich als der Präsident in die Geschichte eingehen, der die Vormachtstellung der USA in Zentraleuropa nach 70 Jahren aufs Spiel gesetzt und verloren hat.
Freilich muss eine solche Verschiebung nicht zwingend ein Nachteil sein. Wenn Europa sich aus den Klauen der aggressiven amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik befreit, ist dies zunächst natürlich ein Grund zur Freude. Problematisch erscheint jedoch, dass die neue Vormachtstellung Deutschlands mit einer Konfrontation gegenüber Russland, der zweiten großen Regionalmacht auf europäischem Boden, zusammenfällt. Und dies ist sehr besorgniserregend, zumal genau diese Konstellation schon in der Vergangenheit zu Krisen und Kriegen geführt hat. Fernerhin ist es sehr problematisch, dass Europas neue „deutsche Periode“ auch mit einer Ideologie einhergeht, die den allermeisten Menschen mehr Nach- als Vorteile bringt – dem Neoliberalismus.
Wir würden Sie gerne einladen, uns Ihre Gedanken zu diesem sicher polarisierenden Thema zu schicken. Schreiben Sie uns an leserbriefe(at)nachdenkseiten.de, was Sie über diese vermeintliche geostrategische Wende denken und welche Hoffnungen und Sorgen Sie damit verbinden. Wir werden – wie gewohnt – die hilfreichsten und interessantesten Zuschriften veröffentlichen.
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