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Titel: Vom Recht auf Stille

Datum: 13. Mai 2017 um 11:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Wertedebatte
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Endlich mal ein sonniger Frühlingstag, dachte ich, und trug mein Frühstück auf einem Tablett auf den Balkon. Zur Feier des Tages hatte ich Brötchen geholt und öffnete ein Glas Johannisbeermarmelade, das eine Cousine mir im Herbst geschenkt hatte. Kaum saß ich auf dem Balkon und freute mich, dass die Mauersegler um den Block schwirrten und dabei ihr fröhliches srieh-srieh ausstießen, begann unten ein Nachbar den Rasen zu mähen. Kurz darauf warf jemand seinen Laubbläser an und schließlich wurde schräg gegenüber bei geöffneten Fenstern Staub gesaugt. Die diversen Maschinen-Geräusche verbanden sich mit dem städtischen Grundlärm zu einer schrillen Kakophonie. Ich zog mich fluchtartig ins Innere der Wohnung zurück. Was nützt die schönste Frühlingssonne, wenn man von allen Seiten mit Lärm traktiert wird? Im alten China hat man Kriminelle, die sich eines besonders schweren Verbrechens schuldig gemacht hatten, durch Lärm hingerichtet. Der Verurteilte wurde unter eine große Glocke gelegt, die anschließend vom Henker geschlagen wurde. Es soll der qualvollste Tod sein, den ein Mensch erleiden kann. Ungefähr so fühle ich mich manchmal in dieser Wohnung, in dieser Stadt, in dieser Gesellschaft – wie unter einer chinesischen Hinrichtungsglocke. Von Götz Eisenberg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Zusammen mit der Zeit wird aber auch Stille zu einem raren Gut.“
(Lothar Baier)

Ständiger Lärm löst Alarm im Körper aus und wird zu einer Quelle von Gereiztheit und ohnmächtiger Wut. Um diese zu sublimieren, beginne ich im Internet unter dem Stichwort „Lärm“ zu recherchieren und stoße auf einen Aufsatz des Philosophen Theodor Lessing aus dem Jahre 1908. Es handelt sich um einen programmatischen Text für „Den ersten deutschen Antilärmverein“, der in jenem Jahr in Hannover gegründet wurde und dessen Vereinsorgan „Der Antirüpel“ hieß. Verein und Zeitschrift traten für ein „Recht auf Stille“ ein und wandten sich gegen „Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben“. Im Zentrum der Lessingschen akustischen Qualen standen das „Teppich-, Polster- und Bettenklopfen“, das Peitschenknallen der Kutscher, das Kreischen der beschlagenen Wagenräder auf dem Pflaster und die „grauenhafte Unsitte“ öffentlichen musikalischen Dilettierens. Die von Lessing aufgelisteten und vor ihm schon von Schopenhauer beklagten Lärmquellen muten uns heute wie die Geräuschkulisse eines romantischen Films an.

Die Lektüre der Lessingschen Kampfschrift hat mir zu einer Distanz zur unmittelbaren Unerträglichkeit des Lärms verholfen und die Unmöglichkeit des Lebens unter solchen Bedingungen vorübergehend aufgehoben. „Wohin“, fragte Lessing 1908, „sollen wir Träumer entfliehen? Vielleicht zu den Sternen hinauf?“ Wir Heutigen liefen Gefahr, bereits auf dem Weg Zeugen eines Satelliten-Zusammenstoßen zu werden und nach unserer Ankunft selbst dort auf Bohrmaschinen, Dampframmen und andere Insignien der Zivilisation zu stoßen.

Die Lektüre von Theodor Lessings Aufsatz hat mich inspiriert, in meiner mitten in der Stadt gelegenen Wohnung eine Art Lärmprotokoll von einer beliebigen halben Stunde zu erstellen. Beim Rechtsanwalt gegenüber werden quietschend die metallenen Rollläden hochgezogen. Zwei Häuser weiter wird ein Gerüst aufgebaut. Metallstangen fallen scheppernd zu Boden. Laute Zurufe und gellende Kommandos. In der Wohnung über mir zieht jemand einen Stuhl übers Linoleum, was ein kreischendes Geräusch erzeugt, das durch Mark und Bein dringt. Stampfende Schritte von hier nach dort. Eine Tür wird krachend zugeschlagen. „Es gibt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen. Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich den Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen. Dieses Wesen ist der Nachbar“, heißt es bei Imre Kertész.

Im Garten gegenüber wird ein Baum abgesägt und das Geäst geschreddert. Unten auf der Straße fahren zwei Jungen auf ihren Skateboards vorüber. Wie kann ein so kleines, harmloses Gefährt so einen Lärm erzeugen? Ein Motorradfahrer lässt die Maschine aufröhren. Beim Nachbarhaus fällt das Hoftor krachend ins Schloss. Aus vorbeifahrenden Autos dringt wummernde Musik nach oben. Autos als regelrechte Klang-Bomben. Ein Autofahrer tritt, obwohl ein paar hundert Meter weiter die Ampel rot ist, noch einmal das Gaspedal voll durch, um dann quietschend zu bremsen. Der Deckel eines Müllcontainers wird scheppernd fallengelassen. Ein hupender Autokonvoi auf dem Anlagenring zeugt davon, dass irgendwelche Menschen in die Ehefalle gegangen sind, aus der sie sich mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit in ein paar Jahren unter Schmerzen und großen Kosten, aber wenigstens ohne öffentlichen Lärm, wieder befreien werden. In der Wohnung über mir beginnt die Waschmaschine ihren Schleudergang. Minutenlang dröhnt, wackelt und klirrt alles.

Abends, wenn der allgemeine städtische Lärmpegel etwas absinkt, wird der Hausmeister von gegenüber sein Lieblingsspielzeug, den Laubbläser hervorholen. „Das gewöhnliche Unglück tritt ein“, heißt es bei Wilhelm Genazino, „wenn ein Mann und eine Maschine zueinander finden“, und er stellt die Gleichung auf: Mann + Motor = Lärm. Das gilt besonders fürs Wochenende, wenn die Zeit der rasenden Heimwerker anbricht. Überall heulen Bohr-, Schleif- und Fräsmaschinen auf, Rasenmäher, elektrische Heckenscheren und Hochdruckreiniger werden angeworfen.

Jeder zweite Passant telefoniert im Gehen mit seinem Handy und lässt einen, wenn man auf dem Balkon sitzt oder die Fenster offenstehen hat, an diesen Gesprächen teilhaben. „bin jetzt götestraße, gehe jetzt mc donald“ ist so ein typischer Handy-Stakkato-Satz, der zu mir hinaufweht. Nachts ziehen betrunkene junge Männer grölend durch die Straße, stürzen Mülltonnen und Blumenkübel um und werfen leere Flaschen gegen die Häuserwände. Radfahrer und Passanten beschallen zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Umgebung mit Bluetooth-Lautsprechern, die sie in Rucksäcken mit sich führen.

Der Lärm nimmt keinen Anfang und findet kein Ende. Wie soll man da nicht krank oder verrückt werden? Vielleicht ist mein beinahe phobisches Verhältnis zum Lärm auch eine Begleiterscheinung meiner Leidenschaft fürs Schreiben und Lesen. Beides sind monologische Tätigkeiten und gedeihen nur unter leidlich ruhigen Umständen. In einem Roman von Ralf Rothmann fand ich in der Schilderung der Lärmempfindlichkeit eines Schriftstellers eine Bestätigung:

„Er fühlte sich wie gehäutet von der Scharfkantigkeit der Geräusche und machte die banale Erfahrung, dass Sprache, in der mehr anklingt als das Alltägliche, nicht ohne Stille zu haben ist.“

Statt „monologisch“ hatte ich eben zunächst „mongolisch“ geschrieben, ein keineswegs zufälliger Verschreiber, denn tatsächlich verhalte ich mich vielen Phänomenen der so genannten Modernisierung gegenüber „mongolisch“, was auf Herbert Achternbuschs „Rede zum eigenen Land“ zurückgeht, die er irgendwann in München gehalten hat. Dort hat er gesagt:

„Die Chinesen, die ich eigentlich nur rühmend erwähnen möchte, nennen die Mongolen die Affen. Die Mongolen schauen der selbstlosen Betriebsamkeit der Chinesen blasiert zu. Die Chinesen bauen den Mongolen Schulen und Fabriken, die die Mongolen meiden. Die Mongolen machen den Eindruck, als wären sie mit etwas anderem beschäftigt, vielleicht mit nichts. Wenn die fleißigen Chinesen meine Achtung haben, so haben diese Mongolen mein, wie soll ich es nennen? Was soll ich ihr Eigenleben irgendwie noch bezeichnen? Sie haben mein Vertrauen. Ich bin ihnen irgendwie zu eigen. Die Mongolei ist das Land meiner inneren Emigration.“

Von manchen traumatisierten Menschen wird berichtet, dass sie derart geräuschempfindlich werden, dass sie bereits das Ticken einer Uhr in den Wahnsinn treiben kann und sie die berühmten Flöhe husten hören. Gelegentlich liest man von Kriegsveteranen, die auf spielende Kinder schießen, die unter ihren Fenstern lärmen. Die ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber dem Lärm reflektiert die lebensgeschichtliche Beschädigung von Ich-Funktionen, die für die Reizverarbeitung zuständig sind und normalerweise dafür sorgen, dass Lärm durch selektive Wahrnehmungsprozesse derart gefiltert wird, dass wir nur hören, was wir hören wollen.

Während der Blütezeit der Anti-Psychiatrie war folgende Geschichte in vielen verschiedenen Varianten im Umlauf: Ein Mann schaut in einem psychiatrischen Krankenhaus aus dem Fenster und sieht Männer, die mit Motorsägen Bäume fällen. „Warum werden diese wunderbaren alten Ulmen gefällt“, fragt er einen Arzt. „Wir müssen Platz schaffen für einen Erweiterungsbau“, erwidert dieser. „Warum müssen Sie anbauen?“, fragt der Besucher weiter. „Weil so viele Menschen wegen des Lärms der Motorsägen und der gefällten Ulmen verrückt werden“, erläutert der Arzt.

Für Traumatisierte und andere Empfindsame hielt Kierkegaard den Rat bereit:

„Wenn ich Arzt wäre und man mich fragte: Was rätst Du? Ich würde antworten: Schaffe Schweigen.“

Ständiger Lärm, so hatte ich gesagt, versetzt den Körper in einen Alarmzustand. Damit ruft er uns die Herkunft seines Namens ins Gedächtnis. Das Wort „Lärm“ leitet sich etymologisch vom italienischen Ausruf „all’arma“ ab, der soviel bedeutete wie: „Zu den Waffen!“ Dieser Ruf war vor allem in den Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in Gebrauch, aber auch wir Heutigen werden durch Lärm zu den Waffen gerufen, alarmiert, aber zu welchen Waffen sollen wir greifen und gegen wen sie kehren? Uns bleibt gegen Lärm-Attacken nur eine hilflose Defensive: Plastik- oder Wachsstöpsel – mit begrenzter Wirksamkeit und den bekannten Nachteilen. Die Unmöglichkeit, auf eine im Grunde unerträgliche Situation mittels Angriff oder Flucht zu reagieren, wird zur Quelle von Stress, der auf Dauer krank machen kann. Zielgehemmte Aggressionen verwandeln sich in ein chiffriertes Ausdrucksgeschehen. Teilweise entspannen sie sich dabei und bleiben nach außen hin stumm oder aber sie erzwingen einen Daueralarm vegetativer Leistungen. Wegen der blockierten Handlung kommt es zu einer Aggressionsbereitschaft im physiologischen Bereich, die sich nicht mehr zurückbildet und die Form diverser Krankheiten, zum Beispiel eines chronisch gesteigerten Blutdrucks, annehmen kann.

Angesichts eines Alltags aus Überfüllung, Lärm, Hektik und Nervosität stoßen unsere aggressiven Impulse ins Leere. Die Wut dreht sich im Kreis und wendet sich – je nach Temperament und Charakter – gegen Sündenböcke im Nahbereich (Frauen, Kinder, Haustiere) oder in Gestalt von Krankheiten gegen die eigene Person. Die ins Leere laufende Wut droht sich zum Hass zu verallgemeinern, der nach einem Ausbruch nicht mehr verraucht, sondern wächst und sich versteift, sich in uns einfrisst und unser Wesen verzehrt und schließlich zerstört. Überliefert sind als extreme Reaktionen auf lärminduzierten Stress sowohl Fälle von Selbsttötung als auch raptusartige Gewaltausbrüche, die sich gegen die Lärmquelle oder zufällig gewählte Opfer wenden und die wir „Amok“ nennen. So hat im Oktober 2009 ein 55-jähriger Mann in der Nähe von Paris vier seiner Nachbarn erschossen, deren Neigung zum nächtlichen Feiern ihm offenbar schon länger auf die Nerven gegangen war. Anschließend tötete er sich selbst.

Menschen, die etwas nicht mehr aushalten, ertragen es oft noch lang, bis dann irgendein für sich genommen läppisches Ereignis die ganze gestaute Wut zur Explosion bringt. Michael Douglas hat in dem Film „Falling down“ vorgeführt, wie am Ende ein Verkehrsstau, Hitze und eine Schmeißfliege zu Auslösern eines sich entgrenzenden Hasses werden können, der alles in den eigenen Untergang mit hineinziehen möchte. Kürzlich stieß ich in der Zeitung auf die Meldung, dass ein Rentner aus dem Elsass aus Zorn über nächtlichen Lärm in eine Gruppe Jugendlicher geschossen und dabei einen von ihnen getötet und einen anderen schwer verletzt hat.

Der Durchschnitts-Lärmpegel in den Industrieländern ist seit Lessings Zeiten pro Jahr um rund ein Dezibel gestiegen. Hätten wir also nicht triftige Gründe, flächendeckend „Antilärmvereine“ ins Leben zu rufen und angesichts der grassierenden Rücksichtslosigkeit Zeitschriften mit dem Titel „Der Antirüpel“ zu gründen? Es stünde der Linken gut zu Gesicht, Begriffe wie Langsamkeit, Stille und Schweigen kritisch zu besetzen und für sich zu reklamieren.

Herbert Marcuse hielt den Lärm für die akustische Begleitung eines im Kern gewaltförmigen und destruktiven kapitalistischen Fortschritts, das Bedürfnis nach Ruhe für ein revolutionäres Ferment und Stille für eine wesentliche Qualität einer befreiten Gesellschaft. In einem 1968 geführten Gespräch „Über Revolte, Anarchismus und Einsamkeit“ sagte er:

„Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille, ohne einen inneren und äußeren Bereich der Einsamkeit, in dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann.“


Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition Georg Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Dort hat er im Herbst 2016 unter dem Titel: »Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!« auch ein Bändchen zum Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht.


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