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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Ist die Finanz- und Wirtschaftskrise eine Folge der „Entgrenzung“ und des damit verbundenen Mangels an politischer Handlungsfähigkeit?
Datum: 13. März 2009 um 16:35 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Finanzkrise, Globalisierung, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Albrecht Müller
Eigentlich hätte die Politikwissenschaft die vornehme Aufgabe, die politischen Vorgänge kritisch zu beobachten und zu hinterfragen. Wir erleben seit Jahren nun das Gegenteil. Namhafte Politikwissenschaftler helfen vor allem beim Zudecken. Einer davon ist Herfried Münkler. Er ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und regelmäßiger Kolumnist der Frankfurter Rundschau. Gestern war von ihm ein Text über „Die Kunst der Grenzziehung“ zu lesen. Auszüge sind in der Anlage wiedergegeben. Er behauptet, durch den Wegfall der Grenzen, man könnte auch sagen durch die Globalisierung, sei die Handlungsfähigkeit des Staates so stark eingeschränkt, dass „die Effekte politischen Handelns wie ungedämmte Sprengladungen“ verpuffen. „Die Politik muss den Dingen ihren Lauf lassen und darauf vertrauen, dass alles wieder ins Gleichgewicht kommt. Sie hat darauf so gut wie keinen Einfluss.“
Das ist eine Verharmlosung der Verantwortung der Politik für die Krise und zugleich eine Missachtung der Handlungsmöglichkeiten auch des Nationalstaates. Albrecht Müller
Münkler leitet seine Leser in die Irre.
Die Finanzkrise und Wirtschaftskrise ist nur zu einem kleinen Teil die Folge der internationalen „Entgrenzung“. Sie ist vor allem die Folge von unglaublichen wirtschaftlichen Entscheidungen und Vorgängen, sie ist auch die Folge krimineller Akte:
Die Kette von politischen Entscheidungen und Maßnahmen, die trotz des Fallens von Grenzen getroffen und durchgeführt hätten werden können und werden müssen, ließe sich lange fortsetzen.
Was die Gegenwart und die Zukunft betrifft: Niemand hindert uns daran, ein massives neues Konjunkturprogramm aufzulegen, im Gegenteil, unsere Partner fänden das gut und würden mitmachen. Niemand würde uns an einem gerechteren Steuersystem hindern – nicht an der Einführung der Vermögensteuer, nicht an einer Verschärfung der Erbschaftssteuer und nicht an einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes usw.
Politologen wie der erwähnte Herfried Münkler streuen den Menschen Sand in die Augen statt aufzuklären. Man fragt sich hier wie auch bei der Mehrheit der Professoren für Ökonomie, warum wir sie überhaupt noch aushalten. Wenn Wissenschaft ihren kritischen Verstand an der Garderobe abgibt und sich obendrein mit den Herrschenden verfilzt, dann hat sie ihre Funktion verloren. Dann wäre sie eigentlich ein wirklicher Fundus für Sparmaßnahmen des Staates.
Anlage
Auszüge aus Herfried Münklers Kolumne in der Frankfurter Rundschau vom 12.3.2009
„Die Kunst der Grenzziehung“
Mit dem Niederreißen der Grenzzäune an der ungarischen Westgrenze, das den Zusammenbruch des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa einleitete, kam eine euphorische Stimmung auf, die Grenzziehung nur noch als einen Willkürakt kannte, der möglichst bald rückgängig gemacht werden musste.
Diese politische Grundstimmung fand im Fall der Berliner Mauer ihren emotionalen Höhepunkt und mündete schließlich in die Perspektive eines Vereinten Europas ohne Binnengrenzen. …
Darüber ist in Vergessenheit geraten, dass Grenzziehung eine politische Kunst ist, durch die effektives politisches Handeln erst möglich wird. …
Dass die Euphorie der Grenzüberschreitung und Entgrenzung einen nicht unbeträchtlichen Preis hat, merken wir jetzt. In einer entgrenzten Welt fließen zu viele Probleme zusammen und vermischen sich miteinander. So entsteht eine unberechenbare und unbeherrschbare Interferenz.
Die Handlungsfähigkeit des Staates ist stark eingeschränkt; in entgrenzten Räumen verpuffen die Effekte politischen Handelns wie ungedämmte Sprengladungen. Die Politik muss den Dingen ihren Lauf lassen und darauf vertrauen, dass alles wieder ins Gleichgewicht kommt.
Sie hat darauf so gut wie keinen Einfluss; also tut sie so, als hätte sie welchen. Sie gebärdet sich kraftmeierisch, ohne wirklich Kraft zu besitzen. Die Beschäftigten und Zulieferer von Opel werden das schon bald erfahren. …
Aber wer von der Politik erwartet, dass sie auf Herausforderungen reagieren kann, muss über die Reichweitenbegrenzung politischen Handelns nachdenken. …
Die jetzt begonnene Debatte über Staatshilfen für Unternehmen wird schon bald eine über neue Grenzziehungen sein. …
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