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Titel: ESC 2017 in Kiew – Zäune errichten, statt Brücken zu bauen

Datum: 9. Mai 2017 um 12:30 Uhr
Rubrik: Europapolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Kultur und Kulturpolitik
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Wenn heute Abend der Eurovision Song Contest in Kiew mit dem ersten Halbfinale und großem Getöse vor Millionen Fernsehzuschauern aus der ganzen Welt eröffnet wird, wird Julija Samoilowa vor wesentlich kleinerem Publikum in Sewastopol auftreten. Dabei hatte Samoilowa, die seit früher Kindheit auf einen Rollstuhl angewiesen ist, den russischen Vorentscheid gewonnen und war damit eigentlich als Interpretin für den ESC gesetzt. Doch die Ukraine hat die Russin eigenmächtig vom Wettbewerb ausgeschlossen – offiziell, weil sie ukrainisches Gesetz verletzt hat, da sie 2015 auf einem Galakonzert auf der Krim teilgenommen hat. Die veranstaltenden Rundfunkanstalten tragen für diese Eskalation ein gehöriges Maß an Mitverantwortung – viel zu lange hat man die Eskapaden der immer chauvinistischer agierenden ukrainischen Offiziellen hingenommen und so der Völkerverständigung einen Bärendienst erwiesen. Von Jens Berger.

Stellen Sie sich einmal vor, wie groß die kollektive Empörung wäre, wenn Katar als Veranstalter der Fußball-WM 2022 der israelischen Nationalmannschaft die Teilnahme am Turnier verweigern würde. Es ist schließlich gängige Praxis, dass Katar sogar Touristen die Einreise verweigert, die ein israelisches Visum in ihrem Reisepass haben. Die BILD-Zeitung würde vor lauter Protest wahrscheinlich vollends durchdrehen und der DFB das Turnier aus Solidarität boykottieren. Bei so etwas verstehen DFB und BILD schließlich keinen Spaß, wie der aufgesetzte Sturm im Wasserglas wegen angeblicher Akkreditierungsunregelmäßigkeiten beim Confed-Cup in der letzten Woche vortrefflich demonstrierte. Dass die Ukraine gleich reihenweise Journalisten, die für den ESC akkreditiert sind, keine Einreisegenehmigung erteilt, stört die BILD hingegen nicht sonderlich und ohnehin scheint es in Deutschland niemanden zu interessieren, solange die Opfer nur Russen sind.

ESC als Spielwiese für antirussische Propaganda

Der ESC ist in den letzten Jahren geradezu zur Plattform für antirussische Propaganda geworden. 2014 wurden die russischen Interpreten in Kopenhagen vom Publikum lautstark ausgebuht – nachdem es u.a. von BILD vorher aufgehetzt wurde. Dies veranlasste 2015 den Stern dazu, seine Leser ganz offen dazu aufzufordern, die russische Künstlerin auszubuhen – das Publikum in Wien blieb jedoch vergleichsweise fair. 2016 ging die Ukraine in die Offensive und nominierte ein Lied der Sängerin „Jamala“, das die Vertreibung der Krimtataren 1944 durch Stalin zum Thema hatte und nach den Regeln des ESC eigentlich gar nicht hätte aufgeführt werden dürfen, da es vor allem im aktuellen Kontext ein klares politisches Statement gegen die Völkerverständigung ist. Zu allem Überfluss gewann dieser Beitrag auch noch – und dies aufgrund des politischen Votums der westeuropäischen Jurys, die 50% der Gesamtpunkte liefern, während das gesamteuropäische Publikum relativ klar den russischen Sänger gewählt hatte. Wenn Jamala nicht auf großer ESC-Bühne unterwegs ist, trällert sie ihr „1944“ übrigens mit Vorliebe auf ukrainischen Neonazi-Festivals wie dem „Banderstadt“ in Luzk, das dem Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher Stephan Bandera gewidmet ist. Man stelle sich nur einmal vor, Deutschland würde eine Band aus dem rechten politischen Spektrum zum ESC schicken, die dort musikalisch an die Vertreibung der Schlesier durch die Polen erinnert.

Diese aggressive politische Instrumentalisierung des ESC durch die Ukraine hätte die Europäische Rundfunkunion (EBU) als Veranstalter schon früh deeskalieren müssen. Ein Song wie „1944“ hätte nie beim ESC starten dürfen. Mittlerweile bezeichnet sogar der alles andere als russlandfreundliche taz-Redakteur Jan Feddersen das Lied als „gesungenen Affront gegen Russland“. In diesem Jahr tritt übrigens die Rockband „O.Torvald“ für die Ukraine an, deren Sänger sich gerne patriotisch gibt und sich beim Vorentscheid durch zwei Platzpatronen rote Flecken auf seine Brust „schießen“ ließ … mit den Brücken und ein bisschen Frieden scheinen die Verantwortlichen in der Ukraine nicht viel anfangen zu können.

Das kam alles nicht überraschend

Bereits im September letzten Jahres deutete sich an, dass die Ukraine den ESC zur politischen Propaganda nutzen und russische Teilnehmer ausschließen will. Damals machte eine „Schwarze Liste“ die Runde, auf die die ukrainischen Behörden russische Künstler setzten, die „[öffentlich] die Annexion der zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim durch Russland zustimmten oder gar sie bejubelten“ – unter einer „Zustimmung“ der Annexion verstehen die Behörden übrigens bereits einen Auftritt auf der Krim. Zuvor kursierten bereits schwarze Listen mit den Kontaktdaten von 4.000 Journalisten, die im Donbass akkreditiert waren und denen ebenfalls eine Einreise in die Ukraine untersagt wurde.

Am 21. September griffen auch die NachDenkSeiten das Thema auf und merkten an, dass es an der Zeit sei, dass der für Deutschland federführende ESC-Sender NDR seinen Einfluss geltend macht, um die ukrainische Regierung ultimativ aufzufordern, den Geist des ESC nicht zu verhöhnen. Sollte die Ukraine dies nicht befolgen, so schrieben wir damals, wäre es wohl besser, der Ukraine die Austragungsrechte für den ESC 2017 wieder wegzunehmen. Passiert ist bis vor wenigen Wochen relativ wenig.

Im März 2017 wurde es dann plötzlich ernst. Russland nominierte Julija Samoilowa und die Ukraine gab bereits am Tag darauf bekannt, Samoilowa die Einreise zu verweigern. Sie hatte 2015 in Kertsch an einer Galaveranstaltung teilgenommen und war nicht über die ukrainische Grenze auf die Krim eingereist … so wie jeder Besucher, der auf dem Luftweg auf die Krim reist. Nach ukrainischen Bestimmungen wird ein solches „Vergehen“ mit einem dreijährigen Einreiseverbot geahndet, wobei jedoch anzumerken ist, dass derartige Sanktionen von den ukrainischen Behörden sehr selektiv und in der Regel rein politisch verhängt werden. Ministerpräsident und Präsident hätten – so das Gesetz – der russischen Sängerin und ihrem Tross sehr wohl eine Sondergenehmigung erteilen können und genau darauf pochte auch die EBU; jedoch erfolglos. Anfang April verteidigte Petro Poroschenko erneut das Einreiseverbot für die russische Künstlerin. Einen nicht ganz ernst gemeinten Kompromissvorschlag, der besagte, dass Samoilowa über Satellit hinzugeschaltet werden solle, lehnten beide Seiten ab.

Nun tut man so, als sei man zerknirscht

Mitte April war es natürlich schon zu spät, der Ukraine jetzt noch die Veranstaltung zu entziehen – die Vorbereitungen waren abschlossen, Tausende Journalisten und Fans hatten bereits Flüge und Hotelzimmer gebucht. Freilich kam die Eskalation nicht überraschend, hatte die EBU die Ukraine doch stets an der langen Leine gewähren lassen und den Zeitpunkt, an dem eine Intervention noch möglich gewesen wäre, fahrlässig verstreichen lassen.

Deutsche Medien machen derweil Russland für das Desaster mitverantwortlich – die Nominierung einer Rollstuhlfahrerin sei volle Absicht, um Mitleid zu erregen und überhaupt sei das Ganze doch ein kalkulierter Eklat. Russland habe nie am ESC teilnehmen wollen. Das liest sich in etwa so, als mache man einem Vergewaltigungsopfer Vorwürfe. Sie sei doch selbst schuld, schließlich habe es doch einen kurzen Rock getragen. Sie habe es doch darauf abgesehen! Wenn es um Russland geht, wird offenbar jede noch so krumme Argumentation plötzlich druckreif.

Die Verantwortlichen geben sich derweil dezent zerknirscht, zeigen dabei jedoch immer noch Verständnis für die Ukraine. Die Androhung von Strafen für die Ukraine und(!) Russland wird den Ukrainern sicher keine unruhigen Nächte bereiten, da die Verantwortlichen sich ohnehin erst im Juni dazu beraten wollen. Und dann ist der Kuchen längst gegessen. Für Julija Samoilowa könnte der Traum der großen Bühne jedoch noch in Erfüllung gehen. Die russischen Verantwortlichen sagten ihr bereits zu, 2018 für Russland an den Start gehen zu dürfen. Das klappt natürlich nur, wenn die Ukraine in diesem Jahr nicht schon wieder gewinnt.


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