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Titel: „Europagegner“ – ein neues Totschlagargument macht Karriere

Datum: 27. April 2017 um 14:14 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Europäische Union, Europäische Verträge, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Strategien der Meinungsmache
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Dass in politischen Debatten gerne Totschlagargumente verwendet werden, ist nicht eben neu. Lange Zeit wurde beispielsweise fast jegliche Kritik an der Politik Israels mit dem Totschlagargument bekämpft, wer Israel kritisiere, sei eigentlich ein „Antisemit“. Damit war die Debatte beendet. Heute wird diese rhetorische Finte in einem ganz anderen Zusammenhang schon beinahe inflationär benutzt: Wer die EU, die Politik der EU-Kommission oder den Einfluss der deutschen Regierung auf die europäischen Institutionen kritisiert, läuft Gefahr, als „Europagegner“ gebrandmarkt zu werden. Aktuell ist dieses Phänomen vor allem im Umfeld der französischen Präsidentschaftswahlen und der Pulse-of-Europe-Demonstrationen zu beobachten. Populismus in Reinkultur, der benutzt wird, um angebliche Populisten zu diskreditieren. Dabei sind oft die vermeintlichen Verteidiger Europas dessen eigentliche Gegner. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Manchmal sind es die überhaupt nicht wohlwollenden Leserzuschriften, die einem helfen, zu erahnen, wie Meinungsmache funktioniert. Da schrieb uns beispielsweise ein aufgebrachter Leser seine nicht immer freundlichen Gedanken zum von uns positiv dargestellten französischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon. Der sei – so unser Leser – doch ein „Europagegner“, der „zusammen mit Marine Le Pen gegen Europa wettert“. Ein kleiner Satz, der gleich mehrere Elemente der Meinungsmache verinnerlicht hat. Der Begriff „kritisieren“ wird durch den wertenden Begriff „wettern“ ersetzt. Achten Sie mal darauf – auch die klassischen Medien benutzen diesen Trick sehr oft, wenn es um Sahra Wagenknecht oder andere progressive Kritiker geht. Das betrifft freilich nicht Frau Le Pen, die sicher nicht progressiv ist, wobei wir beim zweiten Trick sind: Wenn Mélenchon und Le Pen etwas angeblich „gemeinsam“ kritisieren, läuft man, wenn man Mélenchon verteidigen will und das Konstrukt nicht vorher auflöst, natürlich immer Gefahr, indirekt auch Frau Le Pen zu verteidigen. Das will niemand, also lässt man auch die Verteidigung Mélenchons. Aber heute soll es nicht um diese Tricks, sondern um den dritten Kunstgriff in diesem Satz gehen: Mélenchon wird als „Europagegner“ bezeichnet, der „gegen Europa wettert“.

Was genau soll ein „Europagegner“ eigentlich sein?

Nun ist der Begriff „Europa“ vor allem in der breiten Mitte unserer Gesellschaft sehr positiv besetzt. Wer was gegen Europa hat, hat sicher auch was gegen Liebe, Einigkeit, Friede, Freude, Eierkuchen und verspeist kleine Katzenbabys zum Frühstück. Ich kenne selbst unter den mir bekannten Zeitgenossen, mit denen ich sonst nicht viel anfangen kann, niemanden, den man ernsthaft als „Europagegner“ bezeichnen kann. Was soll das auch sein? Wer hat schon was gegen einen Kontinent? Niemand und das wissen auch diejenigen, die dieses Totschlagargument immer benutzen.

Es geht nicht um eine Gegnerschaft zu Europa, sondern um eine unterstellte Gegnerschaft zu den Dingen und Werten, die wir positiv mit Europa verbinden: Also Frieden, Völkerverständigung, Zusammenhalt, kulturelle Vielfalt, Modernität, das Leben im 21. Jahrhundert, in dem die alten „Ismen“, die die fürchterliche erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben, überwunden scheinen. Wer als „Europagegner“ gilt, will also im übertragenen Sinne zurück in diese dunkle Zeit. Nur: Wer will das? Jean-Luc Mélenchon? Sahra Wagenknecht? Jeremy Corbyn? Natürlich nicht. Die drei Genannten eint jedoch, dass sie grundlegende Änderungen an den europäischen Verträgen fordern, also die EU reformieren wollen, bzw. im Falle Corbyns wollten.

Kritik an der EU ist – das sollte bei kritisch denkenden Menschen Konsens sein – dringend nötig. Mit dieser Kritik müssen jedoch die positiven Dinge verbunden sein, die wir mit Europa assoziieren. Wir kritisieren bestimmte Unzulänglichkeiten an der EU, weil wir an den europäischen Traum glauben und mit allen Mitteln verhindern wollen, dass der Kontinent wieder in ein dunkles Zeitalter driftet. Progressive Kritik an der EU ist also das diametrale Gegenteil von dem, was man landläufig mit dem Begriff „Europagegner“ assoziieren würde. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer die mangelhaften EU-Strukturen und EU-Verträge gegen konstruktive Kritik verteidigt, sorgt vorsätzlich oder fahrlässig dafür, dass der europäische Traum zu einem europäischen Albtraum wird. Denn ein Europa, in dem sich die Volkswirtschaften in einem Rattenrennen um die wettbewerbsfähigsten Bedingungen befinden, ist ganz sicher nicht erstrebenswert.

Freiheit, Frieden, Populismus

Ähnlich sieht es mit der vielzitierten europäischen Freiheit aus. Wenn man den Begriff Freiheit nur im Kontext der Förderung des freien Wettbewerbs interpretiert, beleidigt man die Geschichte durch einen Mangel an Phantasie. Denn dass Freiheit nicht nur ein positiv besetzter Begriff ist, wissen wir spätestens seit Kris Kristoffersons Country-Hymne „Me and Bobby McGee“ – „Freedom´s just another word for nothin´ left to lose“ (auf Deutsch: „Freiheit bedeutet nichts anderes, als dass man nichts mehr zu verlieren hat“). Von dieser Art von Freiheit können auch die Griechen Hymnen singen, aber in einem progressiven Europa sollte Freiheit doch vor allem die Freiheit vor Angst und die Freiheit vor Armut sein. Wer diese Freiheiten einfordert, ist doch kein Europagegner.

Die EU ist auch nicht Europa. Es ist ja schon auffällig, dass die allermeisten der Politiker, die von den Medien als proeuropäisch und Freunde Europas charakterisiert werden, keine Probleme damit haben, dass durch die vorsätzliche Dämonisierung Russlands ein neuer Graben durch Europa gezogen wird. Man kann nicht gleichzeitig „für Europa“ sein und eine neue Politik der Aufrüstung und der Spannung innerhalb Europas herbeisehnen. Europa soll doch die Gräben überwinden und keine neuen Gräben ziehen. Seltsamerweise werden vor allem Menschen, die auf diesen Widerspruch hinweisen, immer wieder als „Europagegner“ diffamiert. In letzter Konsequenz ist dies schon grotesk: Die eigentlichen Europagegner sind meist die Absender und nicht die Empfänger dieses Totschlagarguments.

Ähnlich verhält es sich mit der Anschuldigung des Populismus, der ja meist Hand in Hand mit der angeblichen Europagegnerschaft einhergeht. Darunter wird ja im Allgemeinen eine übermäßige Vereinfachung in Tateinheit mit Polarisierung, Personalisierung, Emotionalisierung und Moralisierung verstanden. Sie ahnen es sicher bereits: Genau so lässt sich die Verwendung des Totschlagarguments „Europagegner“ charakterisieren. Natürlich soll der Begriff „Europagegner“ polarisieren, personalisieren, emotionalisieren und vor allem moralisieren … wer gegen Europa ist, gehört nicht zum zivilisierten Kern unserer Gesellschaft; vor allem dann nicht, wenn man sich als linksliberal, weltoffen und modern bezeichnet. Für einfachere Zeitgenossen könnte man das auch mit „Geh doch nach Pegida“ übersetzen; nichts anderes ist nämlich mit diesem Vorwurf gemeint. Die Verwendung des Totschlagarguments „Europagegner“ ist somit selbst Populismus in Reinkultur.

Und wie sieht es mit den „Europafreunden“ aus?

Aber es geht in diesem Zusammenhang nicht nur um die negative Diffamierung von Kritikern, sondern auch um eine zweifelhafte Herstellung eines Gemeinschaftsmerkmals für unklare Ziele. Pulse of Europe betont ja immer wieder, „Europafreunde“ und „für Europa“ zu sein. Rein intellektuell betrachtet, ist dieser Satz natürlich blanker Unsinn, der sogar für eine Sonntagsrede zu anspruchslos sein sollte. Ich bin auch für Liebe, gutes Wetter und Gesundheit … wer will mir da auch widersprechen? Die Betonung „für Europa sein” bekommt erst dann einen Sinn, wenn man ihr die Antithese gegenüberstellt. Und so richtet sich „Pulse of Europe“ im Kern gegen die hier thematisierten „Europagegner“.

Diese Abgrenzung ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal von Pulse of Europe. Auch von den Medien wird sie immer wieder gerne und stets komplett sinnfrei verwendet. So wurde der wahrscheinlich künftige französische Präsident Emmanuel Macron am Wahlabend in der Tagesschau mit den Attributen „Freund der Wirtschaft und Europas“ bezeichnet. Warum aber sollte ein Politiker, der Europa durch neoliberale Reformpolitik und eine Fortsetzung der Kaputtsparpolitik neu formen will, ein „Freund“ Europas sein? Ich würde ihn eher als Feind Europas bezeichnen, bin aber zugegebenermaßen dabei auch nicht eben neutral – im Unterschied zur Tagesschau gebe ich das aber auch gerne offen zu.

Lassen Sie solche „Freunde Europas“ daher bitte nicht mit derart billigen rhetorischen Tricksereien durchkommen. „Für Europa“ zu sein, ist wohlfeil und daher als Charakterisierung vollkommen unsinnig; ein weiteres inhaltsloses Exkrement aus dem Phrasendrescher. Mit den Kernaussagen von Pulse of Europe könnte man auch Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit, Zigaretten oder Handyverträge verkaufen. Als politisches Statement sind sie seltsam nichtssagend und dabei typisch für die „Freunde Europas“

Die entscheidende Frage ist doch: Wer will was warum?

Wichtiger wäre es daher, zu erfahren, welche konkreten Forderungen mit dieser angeblichen Freundschaft verbunden sind. Und wenn – wie bei Pulse of Europe – auch da nur wohlfeile Allgemeinplätze auf dem Niveau von „Zukunft ist gut für alle“ herauskommen, kann man sich einen groben Überblick verschaffen, wenn man einmal nachschaut, was nicht gefordert wird. So wird man bei Pulse of Europe keine Forderung nach Solidarität oder Chancengleichheit und keine Kritik an den undemokratischen Strukturen der EU-Institutionen oder gar dem Einfluss der Wirtschaft finden. Wie kann man „für Europa“ sein und gleichzeitig die drängendsten Probleme der EU überhaupt nicht ansprechen?

Sowohl das Totschlagargument „Europagegner“ als auch die Selbstcharakterisierung „Europafreund“ haben daher mittlerweile in ernsthaften Debatten nichts mehr zu suchen, da sie paradoxerweise meist das exakte Gegenteil bedeuten. Wer Menschen, die konstruktiv ein besseres Europa mitgestalten wollen und dabei auch Kritik am Status quo üben, als „Europagegner“ diffamiert, spielt damit nur den echten Europagegnern ins Blatt, die von einer Rückkehr in die dunklen Zeiten der Nationalismen, Chauvinismen und Egoismen träumen. Und wer sich selbst als „Europafreund“ bezeichnet, benutzt diese Maske leider nur all zu oft als Täuschung, um seine eigentlichen Ziele zu verstecken, die bei näherer Betrachtung ganz und gar nicht europafreundlich sind.


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