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Titel: „Diktator Erdogan“ – so nun haben wir uns genug aufgeregt
Datum: 18. April 2017 um 9:58 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demokratie, Länderberichte, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Jens Berger
Wer am Osterwochenende die deutschen Medien verfolgt hat, musste glatt den Eindruck gewinnen, Recep Erdogan hätte in der Türkei die Demokratie abgeschafft und sich zum Alleinherrscher erklärt. Dabei nutzten die Medien die volle Klaviatur der Meinungsmache: Inhalte wurden verkürzt dargestellt, ein Schwarz-Weiß-Bild gezeichnet. Befürworter der Verfassungsreform wurden als konservative Hinterwäldler dargestellt, die Männer mit Schnurrbart, die Frauen mit Kopftuch, meist mit vergleichsweise schlechten Deutschkenntnissen. Die Gegner wurden indes als aufgeklärt und westlich geprägt dargestellt. Klar, mit wem sich die meisten Zuschauer identifiziert haben. Doch so einfach verhält es sich mit der Demokratie nicht. Es ist halt bigott, im Namen der Demokratie ein demokratisches Votum abzulehnen, nur weil man selbst anderer Meinung ist. Interessanter wäre es doch, einmal die Frage zu stellen, warum die meisten Türken dem Lockruf des Westens nicht mehr folgen wollen. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Nüchtern betrachtet, haben die Türken sich in einem demokratischen Referendum am Wochenende dafür entschieden, von einem parlamentarischen auf ein präsidiales Regierungssystem umzusteigen. Ein System, das beispielsweise auch die USA, Südkorea und beinahe alle Staaten Lateinamerikas haben, ohne dass es in Europa Bedenken über die demokratische Verfassung dieser Länder gäbe. Warum auch? Auch der französische Präsident hat kaum weniger Befugnisse. Erdogan ist jetzt Oberbefehlshaber des Militärs? Das sind Trump und Hollande auch. Der türkische Präsident darf künftig die obersten Richter ernennen? Das dürfen die US-Präsidenten schon seit Ewigkeiten. Richtig ist jedoch auch, dass viele Präsidialsysteme schärfere Kontrollrechte (Checks & Balances) haben als das neue türkische System. Von einer Diktatur zu sprechen, ist dennoch komplett abwegig. Denn die Verfassungsreform hat auch ihre guten Seiten. So schafft sie beispielsweise endlich Gesetze und Sonderregelungen ab, die das traditionell starke und politische türkische Militär hinterlassen hat – so die Militärgerichtsbarkeit und die Befugnisse der Militärs im Notstandsrecht, die geradezu maßgeschneidert für einen „verfassungskonformen“ Militärputsch waren.
Der Punkt, warum das Referendum auch in Deutschland derart intensiv begleitet wurde, scheint eher zu sein, dass „wir“ Erdogan nicht mögen. Das ist natürlich „unser“ gutes Recht. Es ist jedoch auch das gute demokratische Recht der Türken, in einem Verfassungsreferendum über das Regierungssystem ihres Landes zu bestimmen. Selbstverständlich kann man das Ergebnis aus sehr guten Gründen kritisieren. Erdogan steht für ein autoritäres Gesellschaftssystem, er steht für Vetternwirtschaft, seine Kurden-Politik ist mehr als fragwürdig, er setzt vor allem auf militärische Stärke, mischt sich aktiv in den Krieg in Syrien ein und auch wirtschafts- und sozialpolitisch zählt er ganz sicher nicht zu den progressiven Kräften. All das sind gute Gründe, Erdogan nicht zu mögen und sich vor allem während seiner Amtszeit ein möglichst starkes Parlament zu wünschen.
Der in den deutschen Medien stets vorgebrachte Grund, das Ergebnis aus „demokratischen Gründen“ – also vor allem formal – zu kritisieren, ist jedoch bigott. Wenn andere Völker mehrheitlich anderer Meinung sind als „wir“, empfinden „wir“ das sonderbarerweise oft als undemokratisch. Der Sieg der islamischen Heilsfront bei den Wahlen 1992 in Algerien? Die Wahlsiege der Hamas in Gaza und im Westjordanland? Der Sieg der Muslimbrüder in Ägypten und der darauf folgende Militärputsch gegen die demokratisch gewählte Regierung?
Aber auch abseits von islamistischen Parteien haben „wir“ und vor allem die deutschen Medien so ihre Probleme mit demokratischen Entscheidungen. Der Brexit? Trump? Da haben die „unzufriedenen, ungebildeten Alten auf dem Land“ sich gegen die „schlauen Jungen in der Stadt“ durchgesetzt, so die in den deutschen Medien gerne kolportierte Deutung, die auch gerne aus dem Hut gezaubert wird, wenn es um Erdogan und seine AKP geht. Komischerweise hört man diese Erklärung nie, wenn von Merkel und der CDU die Rede ist, obgleich auch sie ihre Macht aus demoskopischer Sicht vor allem den ungebildeten Alten auf dem Lande zu verdanken hat. So funktioniert Demokratie nun einmal. Wären wir Demokraten, würden wir das auch so akzeptieren.
Und wenn wir das Votum der Türken akzeptiert haben und die Hysterie sich wieder gelegt hat, können wir vielleicht einmal zu den eigentlich interessanten Fragen vorstoßen. Dann könnte die EU sich beispielsweise mal überlegen, was sie in der Vergangenheit getan hat, um die Türken so weit zu bringen, dass sie nicht in der Integration in die europäischen Institutionen, sondern in einem politischen System mit einem starken Mann an der Spitze ihre Zukunft sehen. Wie kommt ein laizistisches, aufstrebendes und mitten im Modernisierungsprozess befindliches Schwellenland wie die Türkei dazu, in den letzten Jahren eine 180-Grad-Wende zu vollziehen? Die Antworten dürften „uns“ jedoch nicht so gut gefallen.
Seit dem Ankara-Abkommen 1963 verhandelte erst die EWG, dann die EG, dann die EU mit der Türkei über einen Beitritt. Während so ziemlich jeder andere Interessent mit Kusshand aufgenommen wurde, ließ man die Türkei jedoch immer und immer wieder am ausgestreckten Arm verhungern. Parallel dazu führen die USA und ihre NATO-Verbündeten seit mehr als einem Jahrzehnt in der Region zahlreiche Kriege, die von den Einheimischen – nicht immer zu Unrecht – auch als Kriege gegen den Islam gedeutet werden. Dass es unter solchen Rahmenbedingungen liberale Pro-Europäer in der türkischen Politik nicht eben leicht haben, versteht sich von selbst.
Im Mai 2007 konnte Nicolas Sarkozy die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnen und stoppte mit einer seiner ersten Amtshandlungen erst mal die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in der Türkei holte Erdogans AKP im Juli 2007 47% der Stimmen (2002 waren es nur 34%). Einen Monat später ruderte Sarkozy bereits wieder zurück. Ohne die genauso rechten wie aufrechten Christen in den französischen und deutschen Regierungen der letzten Jahrzehnte, die der Türkei immer wieder klarmachten, dass sie nicht zu Europa gehört und auch nie zu Europa gehören wird, wäre ein Recep Erdogan wohl nie Präsident geworden.
Und wer war Erdogans beste Partnerin in der Frühphase des Wahlkampfs zum Verfassungsreferendum? Angela Merkel, die den Kotau vor Erdogan machte, damit der ihr die syrischen Flüchtlinge und damit die AfD vom Leibe hält. Eine aktive Unterstützung – und sei sie nur moralischer Natur – der türkischen Opposition hat es von der deutschen Regierung nie wirklich gegeben. Auch wenn es die Medien so nie sagen würden: Eigentlich sind „wir“ doch heilfroh, dass „die Türken“ nun ihren „despotischen Sultan“ haben und nicht mehr an unsere Türen klopfen. Die momentan stattfindende Dämonisierung gehört zu dieser Strategie.
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