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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Der zweifache Schock: Schulz soll Kanzlerkandidat und obendrein Parteivorsitzender werden.
Datum: 25. Januar 2017 um 9:46 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demoskopie/Umfragen, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, SPD, Wahlen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Die gestern bekannt gewordenen Entscheidungen der SPD-Führung wurden in Medien und von den meisten interviewten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten begrüßt. In meinem Umfeld war man eher schockiert. Es folgen Fragen und Ergebnisse des Nachdenkens über diesen Vorgang. Das vorläufige Fazit: Martin Schulz wird uns leider keine Alternative zu Frau Merkel bringen. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Anmerkung: Zu diesem Beitrag haben uns interessante Leserbriefe erreicht, die wir hier veröffentlicht haben.
Podcast: Play in new window | Download
Wo sind Unterschiede zu Merkels Politik und ihren Linien erkennbar?
Als gestern die Entscheidung für Kanzlerkandidat und Parteivorsitz der SPD verkündet wurden, war des Öfteren und in Variation zu hören, mit Schulz seien die Chancen für die SPD und auch für einen Wechsel im Kanzleramt höher als mit Gabriel. In den Tagesthemen wurde sogar verlautbart, Gabriel selbst meine, Schulz habe bessere Chancen. Die Kommentatorin der ARD berichtete, Schulz sei viel beliebter. Da muss ich und viele meiner Freundinnen und Freunde eine Wahrnehmungspanne haben. Wir halten Schulz weder für beliebter noch für telegener und insgesamt nicht für attraktiver – nicht einmal attraktiver als Gabriel, obwohl dieser Vergleich schon eine Herausforderung ist.
Die Frage danach, wie einer rüberkommt, mögen manche unserer Leserinnen und Leser für unwichtig und auch für unerlaubt halten. Das ist sogar verständlich, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass in einer Zeit der visuellen Wahrnehmung und Urteilsbildung danach, was man gesehen hat, auch diese Gesichtspunkte wichtig sind.
Zur Einschätzung der Wahlchancen sind möglicherweise ein paar Zahlen relevanter:
Ich weiß, gegenüber Umfragen muss man kritisch sein. Die Ergebnisse sind allenfalls Anhaltspunkte. Da aber die echten Wahlergebnisse der letzten Zeit (2016) in Sachsen Anhalt und Baden-Württemberg mit 10,6 und 12,7 sogar noch deutlich unter den 20 % lagen – die Ausnahme war Rheinland-Pfalz mit 36,2 – , kann man eine gewisse Schlüssigkeit der neuerlichen Umfragen nicht von der Hand weisen.
Die daraus folgende naheliegende Frage: Ist von Martin Schulz zu erwarten, dass er die Entscheidungen, die aus der Sicht vieler Wählerinnen und Wähler Fehlentscheidungen waren, zu korrigieren bereit und fähig ist? Führt er die SPD zurück auf den Pfad der Friedenspolitik und Verständigung zwischen West und Ost?
Ist er bereit, die Fehler der Agenda 2010 zu bedauern und die Sozialstaatlichkeit Europas zum großen Thema zu machen?
Wird er die Sozialministerin Nahles dazu bringen, ihre Kraft auf die Stärkung der Gesetzlichen Rente zu setzen und sie und öffentliches Geld nicht in staatlich geförderter betrieblicher Altersvorsorge zu verplempern?
Die Chancen, zumindest den Anteil der SPD bei den Bundestagswahlen 2017 zu erhöhen, würden steigen, wenn es Schulz gelänge, Wählerinnen und Wähler von den anderen Parteien abzuziehen.
Aber ist Schulz die Person, die die linken Wählergruppen in den beiden genannten Parteien wieder an die SPD binden könnte? Eher ist das Gegenteil anzunehmen. Martin Schulz ist für diese Gruppen nicht sonderlich attraktiv.
Mit seiner Nominierung ist noch etwas anderes, für die SPD und für alle, die den Wechsel weg von Angela Merkel wollen, ziemlich Gefährliches näher gerückt: der Schritt zu Schwarz-Grün ist ausgesprochen leicht geworden, weil leicht zu begründen gegenüber den linksorientierten Anhängern der Grünen, wenn die Alternative „Merkel oder Schulz“ heißt. Wer will wegen Schulz von den Grünen zur SPD wechseln?
Das Zwischenergebnis der Erwägungen über steigende Chancen mit Schulz: eher nein. Diese Einschätzung wird noch wahrscheinlicher, weil auch Martin Schulz eine entscheidende Tat zur Verbesserung der Wahlchancen der SPD und einer potentiellen Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei nicht wird vollbringen können:
Schulz ist nicht der Typ, weder von der Person noch von den Inhalten her, die eine Volksbewegung zugunsten eines Wechsels in Gang bringen kann.
Dazu eine kurze Erläuterung: Wie man jeden Tag beobachten kann, ist die heutige Bundeskanzlerin Merkel bei den etablierten Medien voll etabliert. Sie wird fast nur gelobt, nie grundsätzlich kritisiert. Und diese Lobpreisungen gehen inzwischen auch von wichtigen Medienmachern aus, die man linksliberal oder kritisch oder fortschrittlich nennen könnte. Merkel wird nicht nur von den Springer-Medien und den Bertelsmann-Medien gestützt, auch von FAZ, Tagesspiegel, Frankfurter Rundschau, der Süddeutschen Zeitung und von vielen regionalen und Lokalzeitungen – von den privaten Sendern und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Hörfunk-Betrieben sowieso.
Der konkurrierende Kandidat Schulz wird also mit einer gut gebauten und immer wieder variierten Medienbarriere zu rechnen haben.
Er wird auf jeden Fall nicht auf eine messbare Unterstützung von Seiten der etablierten Medien zählen können, im Gegenteil, auch solche Medienmacher, die ihn heute noch einigermaßen freundlich behandeln, werden im Laufe des Wahlkampfes jede Scheu verlieren und Schulz massiv kritisieren, um ihrer Präferenz für Angela Merkel gerecht zu werden.
In dieser Situation bleibt gar nichts anderes übrig, als eine Volksbewegung und eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen und die Menschen zu mobilisieren, sie aufzuklären, sie zu ermuntern mitzumachen. Sanders und Corbyn haben das vorgemacht, genauso Podemos in Spanien.
Soll Martin Schulz den Aufbau dieser Volksbewegung und der notwendigen Gegenöffentlichkeit mithilfe von Menschen schaffen? Er wird es nicht im Ansatz schaffen. Wahrscheinlich wird er es gar nicht wollen. Und Schulz hat programmatisch und inhaltlich nichts zu bieten, was eine Volksbewegung motivieren und begeistern könnte.
Das wird dann der Hauptgrund dafür sein,
Nicht in den eigenen engeren Reihen der Mandatsträger. Das stimmt. Aber der bisher amtierende SPD-Vorsitzende Gabriel hatte Zeit genug, nach unkonventionellen Lösungen zu suchen. Darauf sind wir auf den NachDenkSeiten auch früher schon zu sprechen gekommen. Ungewöhnliche Situationen machen auch ungewöhnliche Lösungen möglich und nötig. Gabriel hätte unter SPD-Mitgliedern im Land und unter Führungspersonen auch außerhalb der SPD suchen können.
Es hätte sogar nahegelegen, die Gelegenheit zu nutzen, um die Linke insgesamt wieder zusammenzubringen oder sich jedenfalls näher zu bringen Gabriel hätte vorschlagen können, die Spitzenkandidatin der Linken zur gemeinsamen Kanzlerkandidatin zu machen. Das hätte in seiner Partei einen kleinen Sturm der Entrüstung ausgelöst, aber viele Probleme gelöst. Und vor allem einen Schub für die Bundestagswahl 2017 ausgelöst, eine totale Politisierung, ein spannendes Match, die Aussicht auf eine Alternative.
Aber das ist vergossene Milch. Nicht mehr zu retten.
So wird Sigmar Gabriel als jener Vorsitzende der SPD in die Geschichte eingehen, der ihren Niedergang, der mit dem Jugoslawienkrieg und der Agenda 2010 begonnen hat, fortsetzte, nicht aufhielt und aus dieser ältesten Volkspartei eine 20 % Partei gemacht hat.
Unabhängig von dieser Entwicklung der SPD bleibt die Frage, wo und wie der fortschrittliche Teil unserer Gesellschaft – zu dem sich die NachDenkSeiten zählen – die Akzente im kommenden Wahlkampf setzen wollen. Eine offene Frage, vorerst ohne Antwort.
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