NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Stärkung von Binnenmarkt und Sozialstaat nötig – sechs Sündenfälle der „Reformpolitik“

Datum: 12. Dezember 2008 um 9:53 Uhr
Rubrik: Finanzkrise, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Seit Beginn der Politik des Sozialabbaus in der Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre nimmt die Spaltung der Gesellschaft zu. Öffentliche Sparpolitik zu Lasten der Arbeitnehmer, der Arbeitslosen und der Rentner wurde zum Credo der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierungen. Das Ergebnis ist für eine immer größere Zahl der Menschen verheerend: Zunehmende Armut und ein im europäischen Vergleich aufgelaufenes riesiges Defizit bei der öffentlichen Infrastruktur und bei wichtigen Zukunftsinvestitionen, die Zunahme der Massenarbeitslosigkeit bis 2005; die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit auf im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hohem Niveau bis heute, die explosionsartige Ausweitung prekärer Beschäftigung. Die Mitte unserer Gesellschaft schrumpft – aber nicht durch Aufstieg, sondern durch Abstieg. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen Angst vor der Zukunft haben und ihr Vertrauen in die Politiker und deren Politik in Besorgnis erregender Weise abnimmt. Gerade angesichts der Finanzkrise und der wirtschaftlichen Rezession sind nicht nur Milliarden-Rettungsschirme für die Banken und für notleidende Branchen nötig sondern ein stabiler Schutzschirm für auskömmliche Arbeit, für soziale Sicherheit und für Zukunftsperspektiven ist dringlicher denn je. Von Ursula Engelen-Kefer

Von Ursula Engelen-Kefer
(Mitglied im Parteivorstand der SPD)

Was die Gewerkschaften und Globalisierungskritiker wie Attac mit unzähligen Protestaktionen nicht geschafft haben, das erledigt jetzt die internationale Finanzbranche eigenhändig. Die Zerstörungskraft des nationalen wie globalen Marktradikalismus und die existenzielle Bedeutung einer sozialen Gestaltung der Globalisierung wird mit aller Dramatik vor Augen geführt.

Kaum jemals zuvor haben wir so nahe am weltweiten Zusammenbruch eines immer enger vernetzten Finanzsystems gestanden; eines Weltfinanzsystems, das durch radikale, politisch geförderte Deregulierung für die enthemmte, ja sogar betrügerische Profitmaximierung an der New Yorker Wall Street wie der Londoner City geöffnet wurde. Denn dort wurden die Milliarden-Gewinne in der toxischen Verbriefung und im außerbörslichen Handel mit Kreditderivaten gemacht. Und von dort aus wurde – mit bisher unvorstellbarer Zerstörung von Vermögen in vielen Ländern – ein immer stärker integriertes Weltfinanzsystem an den Rand des Kollaps geführt.

Kaum jemals zuvor haben Profiteure aus Gier und Verantwortungslosigkeit die Finanzmärkte und die angesammelten Vermögen in solchem Umfang mit vergifteten Produkten kontaminiert. Noch nie mussten Staaten in der Rolle des Retters in der Not so bisher unvorstellbar hohe Kreditgarantien übernehmen und Kapitalhilfen leisten. Und noch nie ist die Notwendigkeit einer wirksamen Re-Regulierung der nicht mehr funktionierenden nationalen wie internationalen Finanzmärkte und Finanzsysteme so deutlich zu Tage getreten. Hunderte von Millionen Menschen in allen Teilen der Welt müssen über Jahre hinaus am eigenen Leibe erfahren was es heißt: Privatisierung von exorbitanten Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten in unvorstellbaren Dimensionen.

Politiker und Regierungen auf nationaler, europäischer wie internationaler Ebene sind mehr als je zuvor gefordert, eine weltweite gefährliche Wirtschaftskrise und einen Rückfall in Protektionismus und Nationalismus zu verhindern. Dazu müssen sie nicht nur Rettungsschirme für die Banken bereitstellen sondern auch den Schutzschirm auch für auskömmliche Arbeit, für soziale Sicherheit und für Zukunftsperspektiven ausreichend weit spannen. In atemberaubendem Tempo hat die von den großen Parteien getragene Bundesregierung einen 500 Milliarden Euro teuren Schutzschirm für die Not leidende Finanzbranche aufgespannt. Die Menschen im Lande, die dafür mit ihren Steuergeldern gerade stehen müssen, haben ein Recht darauf, dass die Regierenden nun mit gleicher Schnelligkeit und Entschlossenheit zur Sicherung von Arbeitsplätzen und für den Erhalt ihres Lebensstandards handeln.

Höhere Arbeitslosigkeit und Einkommensunterschiede

Denn wieder sind es die unteren bis mittleren sozialen Schichten, die in der auch in Deutschland begonnenen Wirtschafts-Rezession mit einem weiteren Absinken ihres Lebensstandards die Zeche zahlen müssen. Dabei waren es gerade die Arbeitnehmer und die Rentner, die in den zurückliegenden Jahren des Wirtschafts- und Finanzaufschwungs am wenigsten profitieren konnten.

Wegen der weltweiten Wirtschaftskrise sagt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bis 2010 in Deutschland einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um 700 000 Menschen voraus. „Hart getroffen“ werde die deutsche Volkswirtschaft von einbrechenden Exporten, was im Jahr 2009 entscheidend zu einer Schrumpfung der gesamtwirtschaftlichen Leistung um 0,9 Prozent beitragen werde. Die aktuelle Ifo-Prognose geht sogar von einem Rückgang von 2,2 Prozent und einem Anstieg der Arbeitslosen um 540.000 aus.

Gleichzeitig wirft die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in ihrem Bericht über die internationale Lohnentwicklung ein alarmierendes Schlaglicht auf die Gefährdung der Arbeitnehmer gerade auch auf Deutschland: Unter den Industrieländern zählen die Bundesrepublik , Polen und die USA zu jenen Staaten, in denen der Abstand zwischen hohen und niedrigen Einkommen am höchsten ist und sich die Kluft am raschesten vertieft habe. Nach dem ILO-Bericht sind die Reallöhne in Deutschland zwischen 2001 und 2007 jährlich nur um durchschnittlich lediglich 0,51 Prozent gestiegen, der geringe Anstieg ist nicht zuletzt auch auf die besonders starke Ausweitung der Niedriglohnsektoren zurückzuführen ist.

Politikwechsel: Binnennachfrage stärken

Einmal mehr zeigt sich aktuell die Kehrseite einer zu stark auf den Export und zu wenig auf die Stärkung der Binnennachfrage ausgerichteten deutschen Wirtschaftspolitik. Wenn nicht angesichts der heutigen Krise, wann denn sonst muss in Deutschland die Frage nach der Neu-Positionierung seiner Volkswirtschaft in Europa wie global und im Weltfinanzsystem ernsthaft diskutiert werden? Muss die politische Klasse in einem Land, das sich seit Jahren mit dem zweifelhaften Titel des „Exportweltmeisters“ schmückte, nicht aus der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Generationen endlich ihre Lehren ziehen?

Die Arbeitnehmer in Deutschland sowie unsere Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt stünden heute erheblich besser da, wäre über die letzten Jahrzehnte im Inland investiert und nicht ein immer größerer Teil der Ersparnisse und der Überschüsse auf den internationalen Finanzmärkten verzockt worden. Die Politik hätte besser daran getan, statt bei Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Rentnern und Kranken drastisch zu sparen, mehr in die Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, in die Bildung und die Modernisierung der Infrastruktur zu investieren, statt durch „Strukturreformen“ die Schere zwischen arm und reich immer mehr zu öffnen. Wären nicht im letzten Jahrzehnt die Löhne breiter Schichten von Arbeitnehmern immer weiter nach unten gedrückt und den Rentnern das Geld aus der Tasche gezogen worden, bräuchte sich Deutschland um seine Binnennachfrage nicht so große Sorgen machen.

Die politisch Verantwortlichen aller Länder mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen müssen genauso wie die Staaten mit chronischen Defiziten die zukünftige Ausrichtung ihrer Wirtschaftsstrukturen überdenken. Große Defizitländer wie die USA stoßen nach den gigantischen Rettungsoperationen für den kollabierenden Finanzsektor noch bedrohlicher an ihre finanziellen Grenzen. Umgekehrt fließen in der chinesischen Volkswirtschaft, in der 800 Millionen Menschen – davon hunderte Millionen entrechtete Wanderarbeiter – in Armut leben, nicht einmal die Hälfte der gesamtwirtschaftlichen Leistung (BIP) in den Konsum und die soziale Sicherung. Stattdessen lenken Pekings kommunistisch-kapitalistische Machthaber einen erheblichen Teil der Export- und Devisenüberschüsse in die Finanzierung der US-amerikanischen-Leistungsbilanzdefizite. Das Volumen der von China gehaltenen US-Schatzpapiere dürfte in diesem Jahr die 500 Milliarden Dollar übersteigen.

Damit praktizieren die Chinesen im Zuge der Globalisierung ein exportorientiertes Entwicklungs- und Wachstumsmodell, das seit den Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg auch andere führende Industrieländer verfolgten: Japan als inzwischen zweitgrößte Volkswirtschaft und – mit besonderer Ausrichtung auf den europäischen Binnenmarkt – der „Exportweltmeister“ Deutschland. Während in den asiatischen Überschussländern Devisenmarktinterventionen eine Währungsaufwertung zum Abbau des Außenhandelsüberschusses verhindern, besorgen dies im Fall des Überschusslandes Deutschland die Mitgliedsländer in Euroland. Hohe Außenhandelsdefiziten solcher Euroländer wie Italien, Spanien oder Griechenland, nicht zuletzt verursacht durch hohe Lohnsteigerungen und eine hohe Binnennachfrage, führten für den Euroraum (EU 27) inzwischen gegenüber dem Rest der Welt zu einer insgesamt negativen Leistungsbilanz.

Mit einer im Vergleich zu anderen Industrieländern sehr hohen Sparrate von über elf Prozent und seinen besonders hohen Überschüssen gegenüber seinen Nachbarländern im EU-Binnenmarkt können deutsche Banken international ein großes Rad drehen.

Die Deutsche Bundesbank und der Internationalen Währungsfonds (IWF) weisen darauf hin, dass sich die deutsche Ersparnis in den fünf Jahren seit 2003 auf 897 Mrd. Euro angehäuft hat. Dieser Ersparnis standen für den gleichen Zeitraum Nettoinvestitionen (Bruttoanlageninvestitionen minus Abschreibung) von nur 352 Mrd. Euro gegenüber. Daraus ergibt sich ein Überhang zu der in Investitionen umgesetzten Ersparnis von 545 Mrd. Euro. Ähnlich lauten die Daten des IWF, der darauf hinweist, dass seit der Jahrtausendwende die Differenz zwischen Ersparnis und Investitionen als Anteil an der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung von – 1,7 Prozent auf 7,6 Prozent gesprungen sei. Auch nach den Zahlen des IWF ergibt sich seit 2003 kumuliert eine ähnliche Größenordnung der Unterinvestition in Deutschland von 589 Mrd. Euro. Diese Entwicklung ging mit einer immer größeren Diskrepanz zwischen Unternehmens-und Vermögenseinkommen einerseits und Arbeitnehmerentgelts andererseits einher. Deshalb müssten sich die Verantwortlichen die Frage stellen, wie viel von den fast 600 Mrd. Euro des deutschen Sparaufkommen der letzten Jahre letztlich auf den internationalen Finanzmärkten angelegt und wie hoch die Wertverluste durch die Finanzkrise sind.

Nach den Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) wurden deutsche Banken zur Jahresmitte 2008 mit 4, 6 Billionen Dollar (3,7 Billionen Euro) mit als die größten Finanziers der Welt geführt.

Diese globale Positionierung Deutschlands geht auf eine Wirtschafts- und Finanzpolitik zurück, die – weitgehend unabhängig von der politischen Farbenlehre – den Glaubenssatz postulierte: Erhöhung der Produktivität durch Rationalisierung sowie Senkung der Arbeitskosten und Abbau der Sozial- und Arbeitsstandards, so dass die Unternehmen auf dem europäischen Binnenmarkt wie auf dem Weltmarkt ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit ausbauen können. Damit sollte – so die Erwartung – die Bereitschaft zu privaten Investitionen verbessert und letztlich Beschäftigung und Wohlstand gesichert werden.

Diesem Credo huldigten über Jahrzehnte der „Mainstream“ der Experten und alle Regierungsparteien in wechselnden Regierungskoalitionen, aber auch einflussreiche gesellschaftliche Gruppen, einschließlich der Tarifparteien, mit der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit. Eine Zeit lang hatte diese Exportstrategie auch für große Teile der Bevölkerung einen im internationalen Vergleich achtbaren Wohlstand gebracht. Doch im zurückliegenden Jahrzehnt – und besonders augenfällig in dem nun durch die Finanzkrise jäh abgebremsten Wirtschaftsaufschwung – tritt die Kehrseite einer jahrzehntelangen Vernachlässigung der Binnenwirtschaft, der Infrastruktur und wesentlicher Dienstleistungen für unsere gesellschaftlichen Entwicklung in aller Dramatik zu Tage: große Defizite in Bildung, Forschung, Wissenschaft sowie sonstigen Dienstleistungen für die allgemeine Wohlfahrt. Diese Fehlentwicklungen werden jetzt in Anbetracht der abstürzenden Weltkonjunktur durch die Finanz- und Wirtschaftskrise zusehends sichtbar. Dabei stehen wir erst am Anfang des weltweiten Wachstumseinbruchs und damit des deutschen Exports als bisherige Wachstumslokomotive.

Schutzschirm für Arbeitnehmer weiter spannen

In dieser bedrohlichen Situation ist es sich im Schutzinteresse großer Schichten der Bevölkerung geradezu fahrlässig, wenn die Bundesregierung sich nach wochenlangem Gezerre zu einem Konjunkturprogramm in Höhe von – optimistisch gerechnet – 10 Mrd. Euro für zwei Jahre durchringt. Es steht in den Sternen, ob die Ankündigung, dass damit Investitionen von 50 Mrd. Euro angestoßen werden könnten, jemals eintritt. Als „trotzig“ muss man die Feststellung der Kanzlerin bezeichnen, dass mit der Entscheidung der EU über ein Konjunkturprogramm – das ein Gesamtvolumen von 200 Mrd. Euro mobilisieren soll – keine weiteren Maßnahmen für die Bundesrepublik erforderlich seien. Offenbar erwartet die Bundesregierung, dass die europäischen Nachbarländer, den deutschen Karren durch ihre Nachfrage nach deutschen Waren aus dem Dreck ziehen sollen.

Selbst der „Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung“ (SVR), der in der Vergangenheit überwiegend Vorschläge zur Verbesserung der „internationalen Wettbewerbsfähigkeit“ vorgelegt hat und alles dran setzte, normale Lohnzuwächse zu verhindern, hat nun endlich eingesehen, dass der Konsum seine „erhoffte Rolle als Wachstumstreiber nicht erfüllen kann“ und fordert (viel zu spät) staatliche Investitionen in Infrastruktur und Bildung als Konjunkturprogramm. Natürlich darf das Geld nicht mit der Gießkanne ausgeschüttet werden. Natürlich müssen ökologische und soziale Ziele mit derartigen öffentlichen Ausgabenprogrammen verbunden sein. Dazu gibt es genügend praktikable Vorschläge in den Schubladen von Bund, Ländern und Kommunen. Der öffentliche Schlagabtausch über die Kfz-Steuer sowie die Begrenzung des CO2 Ausstoßes lässt allerdings nichts „Gutes“ erwarten. Nur noch Kopfschütteln wird bei vielen Menschen der Polit-Streit über eine mögliche Senkung der Mehrwertsteuer hervorrufen. Wie viele kleine Betriebe und Selbständige müssen denn erst zur Aufgabe ihrer Beschäftigung und Existenz gezwungen sein, bevor die Politik in ihrem Elfenbeinturm endlich begreift: Die Bundesrepublik ist nur von einem schlimmeren Abgleiten in die Rezession zu bewahren, wenn die Binnenwirtschaft wirksam und schnell gefördert wird.

Selbst das neoliberale Musterland Großbritannien hat sich bereits für eine Senkung der Mehrwertsteuer entschieden. Und das Schwellenland China hat sich gerade zu einem hoch dimensionierten Konjunkturprogramm von beinahe 500 Mrd. Dollar durchgerungen. In Deutschland wurde zwar ein 500 Mrd. Euro –Mega-Schutzschirm für die Finanzbranche in wenigen Wochen über die politische Bühne gebracht wurde, doch für die Arbeitnehmer, ihre Arbeitsplätze, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen wird nur ein Mini- Scherchen aufgespannt, und dies nur nach langem politischen Gezerre. Die schnelle Rettungsaktion für den Finanzsektor und – im Kontrast dazu – die zögerliche Behandlung der anstehenden Herausforderungen am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen, laufen auf eine traurige Demonstration der derzeitigen Machtverhältnisse in Deutschland hinaus.

Soll die Spirale nach unten aufgehalten werden, wird dies nicht ohne eine von den gesellschaftlichen Gruppen breit getragene „Renaissance des Sozialstaates“ möglich sein.

Renaissance des Sozialstaates

Seit Beginn der Politik des Sozialabbaus in der Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre nimmt die Spaltung der Gesellschaft zu. Verstärkt wurde dies durch die falsche Finanzierung der Deutschen Einheit über die sozialen Sicherungssysteme sowie die auf Intervention der Bundesregierung betriebene Verschärfung des Europäischen Stabilitätspaktes als Begleitung der Einführung des Euro und nicht zuletzt durch Hartz IV und wesentliche Teile der Agenda 2010. Seither ist die öffentliche Sparpolitik zu Lasten der Arbeitnehmer, der Arbeitslosen und der Rentner zum Credo der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung erklärt worden. Das Ergebnis für die große Mehrheit der Menschen ist verheerend: ein im Zeitablauf und europäischen Vergleich riesiges Defizit bei der öffentlichen Infrastruktur einschließlich wesentlicher Zukunftsinvestitionen; die Zunahme der Massenarbeitslosigkeit bis 2005; die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit auf im europäischen Vergleich überdurchschnittlichem Niveau bis heute; die explosionsartige Ausweitung prekärer Beschäftigung. Die Mitte unserer Gesellschaft schrumpft – aber nicht durch Aufstieg, sondern durch Abstieg. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen Angst vor der Zukunft haben und ihr Vertrauen in die Politiker und deren Politik in Besorgnis erregender Weise abnimmt.

Sündenfall 1: Armut im Alter

Inzwischen schlagen auch die amtlichen Rentenberichte der Deutschen Rentenversicherung Bund und auch der Bundesregierung selbst Alarm. In den nächsten Jahrzehnten droht Altersarmut für Millionen Rentner, wenn nichts geschieht. Hierbei besteht ein enger Zusammenhang zwischen den „Reformen“ der Alterssicherung und auf dem Arbeitsmarkt, die sich in ihren negativen Wirkungen für die betroffenen Menschen gegenseitig verstärken. An erster Stelle zu nennen ist der Sündenfall der Aushöhlung der gesetzlichen Alterssicherung mit der Riesterreform von 2001 verbunden mit einer erheblichen Absenkung des Rentenniveaus. Die massive öffentliche Förderung der Einführung einer privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge ging zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Riesterreform bewirkte ausschließlich eine Entlastung der Arbeitgeber von ihren Beiträgen für die umlagebasierte paritätisch finanzierte gesetzliche Rentenversicherung und eine zusätzliche Belastung der Arbeitnehmerhaushalte. Die Finanzkrise zeigt nur zu deutlich, dass die kapitalgedeckte Zusatzversorgung keinesfalls ein Ersatz für die gesetzliche Altersrente bleiben kann und darf – sondern allenfalls eine Ergänzung bleiben muss. Der 2008 ausgesetzte Riesterfaktor, der das Rentenniveau massiv nach unten gebracht hat, muss abgeschafft werden. Ansonsten werden die Rentner auf Jahre keine Rentenerhöhung mehr haben. Ihre Kaufkraft wird sich massiv verringern infolge der steigenden Kosten und Beiträge für die Gesundheitsversorgung, die Pflege und aufgrund der Inflation. Da der Anteil der Rentner in Deutschland etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen wird, bedeutet dies gleichzeitig eine erhebliche Schwächung der Binnenkonjunktur.

Genauso wichtig sind die Verbesserung des Zugangs und eine Erhöhung des Niveaus der Erwerbsminderungsrenten. Vor allem sind die 2001 eingeführten Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme wieder abzuschaffen. Der Eintritt in die Erwerbsminderungsrente beruht schließlich nicht auf freiwilligen Entscheidungen der Betroffenen.

Besonders eng ist der Zusammenhang zwischen Arbeit und Rente bei der beschlossenen Heraufsetzung des Eintrittsalters in die gesetzliche Altersrente von 65 auf 67 Jahre zwischen 2012 und 2029. Wichtig ist die vom Gesetzgeber verlangte Überprüfung 2010, ob die Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre aus Sicht des Arbeitsmarktes und der gesundheitlichen Situation der älteren Arbeitnehmer überhaupt möglich ist. Dies ist ein gesetzlicher Auftrag. Nach allen bisher bekannten Entwicklungen und Untersuchungen sind die Voraussetzungen keinesfalls gegeben. Seit 2005 ist es zwar, die Erwerbsbeteiligung der älteren Arbeitnehmer in Deutschland zu wieder etwas angestiegen. Auch die Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit unter den Älteren ist zurückgegangen – vor allem für die Jüngeren unter den Älteren. Nach wie vor ist die Erwerbstätigkeit der über 60-jährigen mit durchschnittlich einem Drittel unterdurchschnittlich niedrig. Auch der Anstieg des Renteneintrittsalters auf etwa im Schnitt 63 Jahre bedeutet keinesfalls, dass die über 60-Jährigen länger im Erwerbsleben verbleiben. Vielmehr wird infolge der Reduzierung der gesetzlichen Möglichkeiten zum vorzeitigen Eintritt in die Altersrente sowie der hohen Rentenabschläge der Anteil der Älteren, die vom ALGII in die Armutsrente gehen müssen, in den nächsten Jahren erheblich ansteigen. In den Betrieben werden die über 50-Jährigen bei Einstellungen nach wie vor diskriminiert. Betriebliche Maßnahmen der beruflichen Entwicklung und Qualifizierung älterer und älter werdender Belegschaften sowie ein ausreichendes Arbeitsschutz- und Gesundheitssicherungsmanagement sind mit Ausnahme weniger Leuchttürme vor allem in kleineren Betrieben völlig unzureichend und haben sich in den letzten Jahren auch nicht verbessert.

Dementsprechend würde die pauschale Heraufsetzung der gesetzlichen Altersgrenze nur zu einer weiteren Minderung des Rentenniveaus führen und die Gefahr der Altersarmut weiter erhöhen. Es ist daher dringend erforderlich, die Solidaritätsbasis der gesetzlichen Rentenversicherung durch die Einführung der Erwerbstätigenversicherung und damit die Einbeziehung zunächst von Selbständigen und Politikern zu verbreitern. Dann ist auch die Verbesserung der gesetzlichen Alterssicherung ohne bzw. ohne unzumutbare Anhebung der Beiträge zu ermöglichen.

Statt weiter Werbung für die Riesterrente zu betreiben, wäre es auch angesichts des inzwischen um sich greifenden Vertrauensverlustes von höchster Priorität, dass die Bundesregierung die Auswirkungen der Finanzkrise auf den Wertbestand der kapitalgedeckten Alterssicherung ermitteln ließe. Ein Blick über die Grenzen zeigt nämlich, dass in Ländern mit Kapitaldeckung durch den massiven Verfall der Vermögenswerte an den Weltpapiermärkten Hunderttausende, wenn nicht Millionen ihre Alterssicherung verloren haben. Experten der OECD haben für die zurückliegenden 12 Monate Marktverluste bei Pensionsfonds und Alterssicherungsplänen von über 5 Billionen Dollar geschätzt. (Siehe dazu den heutigen Eintrag)

Nach einer anderen Schätzung des „Center for Retirement Research des Boston College“ vom November 2008 muss davon ausgegangen werden, dass die durch Anlagen an den Finanzmärkten dotierten Alterssicherungspläne im Zeitraum vom Oktober 2007 (bei einem damaligen geschätzten Vermögenswert der Alterssicherungssysteme von 15,3 Billionen Dollar) bis Oktober 2008 alleine in den USA eine Wertminderung von fast 4 Billionen Dollar (4000 Mrd. Dollar) hinnehmen mussten.

Nach Einschätzung der OECD sind gerade jene Länder von den Wertverlusten durch die Finanzkrise am meisten betroffen, in denen ein großer Teil der Alterseinkommen heutiger Arbeitnehmer von privaten Rentenplänen abhängt, also etwa die USA, Chile, Dänemark, Island, Mexiko, den Niederlanden, der Slowakei oder Großbritannien.

Die OECD geht davon aus, dass sich der politische Druck verstärkten dürfte, älteren Arbeitnehmern, die aufgrund der Finanzkrise wesentlich niedrigere Alterseinkommen zu erwarten haben, auf befristeter Basis durch zusätzliche staatliche Leistungen unter die Arme zu greifen.

Doch in Deutschland wird weiter so getan, als ginge die Finanzkrise die kapitalgedeckten Alterssicherungssysteme nichts an.

Sündenfall 2: Niedrig- und Armutslöhne

Überfällig ist weiterhin die Durchsetzung ausreichender Mindestlöhne. Dies wäre in der Bundesrepublik im Rahmen des Arbeitnehmerentsendegesetzes sowie des aktualisierten Gesetzes über Mindestarbeitsbedingungen möglich. Nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz soll über Mindestlöhne in bundesweit wirksamen Tarifbereichen für in- und ausländische Arbeitnehmer Lohndumping verhindert werden. Derartige Mindestlöhne gelten bereits für die Baubranche und das Reinigungsgewerbe. Bei der Bundesregierung liegen seit März dieses Jahres weitere Anträge für ausgehandelte tarifliche Mindestlöhne in 8 zusätzlichen Branchen vor. Damit könnten insgesamt über 3 Millionen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik unter dem Schutzschild allgemeinverbindlicher tariflicher Mindestlöhne vor Lohndumping bewahrt werden. Die Bundesregierung ist dringend gefordert, die bereits vorliegenden Anträge tariflicher Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz zu genehmigen und diese Mindestlöhne für allgemeinverbindlich zu erklären. Die CDU/CSU muss endlich ihre Blockade aufgeben, die seit über zwei Jahren vorliegenden gesetzlichen Mindestlöhne für die Leiharbeitnehmer, die von den DGB Gewerkschaften für etwa zwei Drittel der betroffenen Arbeitnehmer ausgehandelt wurden, in die Allgemeinverbindlichkeit aufzunehmen. Etwa 8 Prozent der Leiharbeitnehmer müssen zusätzlich Hartz IV beantragen, da sie von ihrem Leiharbeiterlohn ihre Lebensexistenz nicht sichern können.

Sowohl das Arbeitnehmerentsendegesetz wie auch das Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen mit den vereinbarten Verfahren zur Allgemeinverbindlichkeit der von den Tarifparteien ausgehandelten Mindestlöhne reicht bei weitem nicht aus, die Arbeitnehmer in den sich ausbreitenden Niedriglohnsektoren ausreichend zu schützen. In verschiedenen Branchen gibt es keine tariffähigen Arbeitgeberverbände, so dass die Gewerkschaften überhaupt keine Mindestlöhne aushandeln können. Teilweise haben die Gewerkschaften auch nicht die Tarifmacht, um die Verhandlungen von Mindestlöhnen zu durchzusetzen. Zudem gibt es Branchen mit sehr niedrigen Tarifvergütungen zwischen 7.05 Euro für die Systemgastronomie im Westen und 2.75 Euro für das Friseurhandwerk im Osten. Daher ist die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohnes unerlässlich.

Damit könnte auch der Sündenfall der Zumutbarkeitsregelung in Hartz IV korrigiert werden. Dabei wurde die Bindung der von Arbeitslosen anzunehmenden Tätigkeiten an Tariflöhne und ortsübliche Löhne vollständig aufgegeben. Danach kann ein Langzeitarbeitsloser zur Aufnahme jeglicher Tätigkeit zu jedem Preis gezwungen werden. Die einzige Untergrenze ist die „Unsittlichkeit“ der Entlohnung. Nach der Rechtsprechung bedeutet dies eine untere „Schmerzgrenze“ von bis zu 30 Prozent unter Tarif oder ortsüblicher Entlohnung. In der Realität sind dies vielfach un- oder angelernte Tätigkeiten als 400- oder 1- Eurojobs bzw. über Leiharbeitsagenturen für wenige Monate, mit Hungerlöhnen und schlechten Arbeitsbedingungen – oft mit wechselnden Einsatzorten und weiten Anfahrtswegen. Arbeit für jeden Preis ist mit dafür verantwortlich, dass in Deutschland der Niedriglohnsektor in den vergangenen Jahren stärker zugenommen hat, als in allen anderen westeuropäischen Nachbarländern.

Das von den Gegnern gesetzlicher Mindestlöhne immer wieder vorgebrachte Argument, damit würden Arbeitsplätzen verloren gehen, ist empirisch widerlegt. In 25 der 27 Mitgliedsländer der EU gibt es gesetzliche Mindestlöhne. Bei unseren Nachbarn – Großbritannien, Frankreich, Irland, Luxemburg und den Niederlanden – sind diese sogar höher als die bisher in der Bundesrepublik von den Gewerkschaften genannten Stundenlöhne von 7.50 Euro. Bei einer Orientierung gesetzlicher Mindestlöhne an Hartz IV (Regelsatz plus Kosten der Unterkunft und Freibeträge) müsste der Brutto-Mindestlohn pro Stunde für einen Alleinstehenden 8.14 Euro betragen; bei Orientierung an der Pfändungsfreigrenze 8.19 Euro; bei Orientierung an der Armutsschwelle von 50 Prozent des Durchschnittsstundenlohnes 10,00 Euro und nach der Europäischen Sozialcharta (Recht auf gerechtes Arbeitsentgelt) sogar 12.01 Euro.

Das vom Sachverständigenrat in seinem jüngsten Gutachten vorgeschlagene Kombilohnmodell ist keine Alternative zum Mindestlohn. Der Kombilohn würde für die Arbeitgeber geradezu einen Anreiz liefern, die Löhne unterhalb des Existenzminimums zu halten, das Überleben müsste dann aus öffentlichen Mitteln gesichert werden. Damit würde ein Fass ohne Boden aufgemacht. Immer mehr Arbeitnehmer würden in dauerhafte Abhängigkeit von öffentlichen Subventionen geraten.

Ein ausreichender gesetzlicher Mindestlohn ist auch eine wesentliche Voraussetzung für existenzsichernde Altersrenten und für die Stabilisierung der Nachfrage.

Sündenfall 3: Prekäre Beschäftigung

Die Arbeitsmarktprobleme haben sich auch dadurch verschärft, dass die Spaltung auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft seit Jahren gefährlich zunimmt. Etwa die Hälfte des Zugangs zu einer Beschäftigung und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit in den vergangenen beiden Jahren geht auf das Konto sog. prekärer Arbeit mit niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und geringer sozialer Sicherheit.

Eines der gravierendsten Probleme ist die explosionsartige Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung in den letzten Jahren. Inzwischen gibt es etwa 6,7 Millionen solcher Mini-Arbeitsverhältnisse. Der Anteil der Frauen beträgt mit 64 Prozent praktisch zwei Drittel. Den 6,7 Millionen Mini-Jobs neu entstandenen stehen nur 4,8 Millionen reguläre Teilzeitarbeitsverhältnisse gegenüber.

Besorgniserregend ist auch der hohe Anteil der Beschäftigung Langzeitarbeitsloser in Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (1 Euro-Jobs). Diese stellen nach wie vor den bei weitem höchsten Anteil aller arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II – mit über 300 000 Fällen im Jahresdurchschnitt und mit Neueintritten von 683 000 im Jahr 2007. Dass „Arbeitsgelegenheiten“ keine Lösung darstellen, zeigt sich darin, dass die Langzeitarbeitslosen in einer „ALG II-Falle“ bleiben. Darüber hinaus hat der Bundesrechnungshof schon in mehreren Gutachten einen erheblichen Missbrauch dieser „Maßnahmen“ festgestellt. Etwa die Hälfte der Teilnehmer an solchen Maßnahmen wird für Tätigkeiten eingesetzt, die eigentlich von den Trägern selbst regulär finanziert werden müssten. Dies gilt sogar für öffentliche Arbeitgeber, vor allem für Kommunen, die so ihre Budgets auf Kosten von 1-Euro-Jobbern und der Steuerzahler entlasten.

Ein weiterer Skandal ist, dass in Deutschland 1,3 Millionen Menschen trotz einer regulären Beschäftigung ALG-II-Leistungen beziehen müssen, um ihre Existenz zu sichern. Innerhalb von zwei Jahren hat sich die Zahl der „Aufstocker“ von 880.000 auf 1,3 Millionen erhöht. Ein großer Teil der Betroffenen ist geringfügig beschäftigt. Dies führt zu einer Abwärtsspirale prekärer Beschäftigung.

Eine weitere besonders negative Entwicklung ist die explosionsartige Ausbreitung der Leiharbeit. Es gibt inzwischen bundesweit über 730.000 Leiharbeitnehmer. Leiharbeit findet sich konzentriert in einzelnen Berufsbereichen.

Gesetzliche Initiativen zur Re-Regulierung dieser im Zuge der Hartzgesetze „deregulierten“ Beschäftigungsverhältnisse sind dringend erforderlich:

  1. Die geringfügige Beschäftigung muss erheblich zurückgeführt werden. Alle gesetzlichen Anreize zur Umwandlung von Normalarbeitsverhältnissen und regulärer Teilzeit in geringfügige Beschäftigung sind aufzuheben.

    Insbesondere ist wieder die Addition von Stammarbeit und geringfügiger Beschäftigung bei der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge einzuführen. Zudem wäre es wirtschaftlich und sozial erheblich sinnvoller, Freibeträge auch bei den Sozialversicherungsbeiträgen einzuführen. Dies ist die bei weitem bessere Alternative gegenüber geringfügigen Arbeitsverhältnissen.

  2. Bei der Leiharbeit muss in jedem Fall wieder das Synchronisationsverbot (Verbot der Befristung des Arbeitsverhältnisses für die Dauer des Einsatzes beim Entleiher) gelten. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Leiharbeitsagenturen vom Entleihbetrieb oft erheblich mehr kassieren, als der Leiharbeitnehmer für seine Arbeitsleistung erhält. Diese „Gebühren“ für die Leiharbeitsagenturen sollten gerade dazu dienen, dass sie das Risiko der Beschäftigung der Leiharbeitnehmer tragen, auch wenn keine Überlassung möglich ist. Der Gesetzgeber hat diese Verpflichtung 2003 aufgehoben. Damit wurde der Arbeitskräfteverleih zu einem äußerst lukrativen Geschäft und seitdem schießen Leiharbeitsagenturen wie Pilze aus dem Boden. Dies muss beendet werden. Notwendig ist darüber hinaus eine klare gesetzliche Lösung zur Umsetzung des Prinzips „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ – ohne die heutige Möglichkeit der Unterwanderung durch unanständig niedrige Tarifverträge, wie sie z.B. von den christlichen Gewerkschaften für die Leiharbeit ausgehandelt wurden.

    Darüber hinaus ist durch zeitliche Begrenzung der Verleihdauer sicherzustellen, dass über Leiharbeit nicht auf Dauer reguläre Beschäftigung ersetzt und ein ständiger Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen ausgeübt wird.

  3. Dringend erforderlich ist die Abschaffung der Ein-Euro-Jobs für Langzeitarbeitslose. Die Arbeitsagenturen und Arbeitsgemeinschaften sowie Optionskommunen haben erheblich bessere Instrumente, etwa durch
    • Arbeitsgelegenheiten mit Entgelt,
    • dem Programm „JobPerspektive“ ( einem Beschäftigungszuschuss für langzeitarbeitslose erwerbsfähige Hilfebedürftige über 18 Jahren mit besonderen Vermittlungshemmnissen, dabei können Lohnkostenzuschüsse bis zu 75 Prozent der Lohnkosten im öffentlichen und privaten Bereich für schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose erstattet werden),
    • dem Bundesprogramm „Kommunalkombi“ für Regionen mit einer Arbeitslosenquote von über 15 Prozent.

    Diese und weitere Maßnahmen sind bei weitem bessere Alternativen zur Eingliederung Langzeitarbeitsloser als die Ein-Euro-Jobs, zumal da sie tarifliche oder ortsübliche Entlohnung und soziale Sicherung vorsehen.

Sündenfall 4:Umgang mit älteren Arbeitnehmern

Der Umgang mit älteren Arbeitnehmern ist in Deutschland alles andere als befriedigend – dies gilt auch für die Arbeitsmarktpolitik: Die moderate Verlängerung der Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld I für die über 50-Jährigen gibt älteren Arbeitnehmer wieder etwas mehr Schutz vor dem Abfall in Hartz IV, aber das Problem bleibt, dass die über 63-jährigen Langzeitarbeitslosen weiterhin in die Zwangsrente geschickt werden können, und zwar mit beträchtlichen Rentenabschlägen. Heute müssen die Älteren Abschläge von 3,6 Prozent bis zum Renteneintrittsalter von 65 Jahren hinnehmen, ab 2012 werden die Abschläge dann bis zu vier Jahresraten ausmachen – d.h. 4 x 3, 6 Prozent, also Abschläge von 15,4 Prozent bis zum Ende des Rentenbezugs.

Ebenfalls nicht nachzuvollziehen ist, dass alle über 58-Jährigen nach einem Jahr Arbeitslosigkeit aus der Statistik gestrichen werden. Das ist keine Hilfe sondern allenfalls statistische Schönfärberei.

Gerade vor dem Hintergrund der beabsichtigten Heraufsetzung der Altersgrenze ist eine Nachfolgeregelung für die auslaufende Altersteilzeit zwingend. Dabei sollte nicht nur auf das „Blockmodell“ gesetzt werden, wobei die Arbeitszeit während der Altersteilzeit nur noch 50% (Blockmodell: 1. Phase 100%, 2. Phase 0%) beträgt. Hilfreicher wäre eine stärkere Ausrichtung der finanziellen Förderung durch Steuererleichterung sowie Zuschüsse der BA auf Modelle eines gleitenden Ausscheides der Älteren aus dem Erwerbsleben sowie einer erleichterten Möglichkeit der Verknüpfung von Altersteilzeit und Teilrente.

Seit einigen Wochen liegt ein Gesetzentwurf zur Neuordnung arbeitsmarktpolitischer Dienstleistungen vor. Dabei geht es auch darum die unübersehbare Vielzahl arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen und Leistungen zusammenzufassen und einen effizienteren Einsatz zu ermöglichen.

Neben vielen anderen Kritikpunkten ist besonders problematisch, dass die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), die schon jetzt nur noch für den Osten gelten, ganz aus dem Gesetz gestrichen werden. Gerade für ältere Arbeitnehmer sind ABM oft eine unersetzliche Hilfe bei der beruflichen Eingliederung. Die neu geschaffenen Instrumente zur Eingliederung schwer vermittelbarer Langzeitarbeitsloser („Job Perspektive“ und „Kommunal-Kombi“) haben gegenüber den ABM den Nachteil erheblicher Eigenleistungen der Träger. Gerade in Kommunen mit hoher Langzeitarbeitslosigkeit, die im Regelfall auch noch besonders knapp bei Kasse sind, können diese Zusatzleistungen oft nicht erbracht werden. Dies ist einer der wesentlichen Gründe für die bislang äußerst zögerlich praktische Anwendung der neuen Eingliederungsmaßnahmen. Wie die positiven Ergebnisse der Pilotprojekte der BA zur „Bürgerarbeit“ – meistens in Kommunen mit überdurchschnittlich hoher Langzeitarbeitslosigkeit im Osten – zeigen, sind ABM in solchen Fällen nach wie vor ein unverzichtbares Instrument. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Wirtschaftsrezession. Bei einem erneuten Anstieg der Arbeitslosigkeit werden gerade Langzeitarbeitslose noch schlechtere Chancen der Eingliederung in den Ersten Arbeitsmarkt haben.

Sündenfall 5: Neuordnung der Argen

Besonders problematisch ist die erneute Hängepartie bei der gesetzlichen Neuregelung bei den Zuständigkeiten zwischen den Arbeitsagenturen und den Kommunen im Rahmen von Hartz IV. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende Dezember 2007 entschieden, dass die derzeitige Konstruktion der ARGEN nicht verfassungsgemäß ist. Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz hatte sich im Juli 2008 auf eine Änderung der Verfassung verständigt. Allerdings scheinen bis heute höchst unterschiedliche Vorstellungen in Bund und Ländern über die praktische Ausführung vorzuliegen. So gibt es nach wie vor keinen praktikablen Kompromiss über die Zusammenarbeit von Arbeitsagenturen und Kommunen bei der Betreuung und Eingliederung Langzeitarbeitsloser. Diese mangelnde Klärung hat bisher schon dazu geführt, dass die berufliche Eingliederung bei weitem zu kurz gekommen ist. Wenn nicht schnell eine Lösung gefunden wird, erhöht sich die Gefahr, dass die qualifizierten Mitarbeiter den Jobcentern den Rücken kehren und nach einer anderen Tätigkeit suchen. Dies wäre ein weiterer gefährlicher Aderlass für das „Fördern“ im SGBII, weil nur erfahrene und qualifizierte Mitarbeiter diese schwierige Aufgabe erfolgreich bewältigen können. Wie die erheblichen Schwierigkeiten mit der nachhaltigen Eingliederung Langzeitarbeitsloser zeigen, ist eine klare Abgrenzung der jeweiligen Verantwortlichkeiten von Arbeitsagenturen und Kommunen dringend erforderlich. Ohne eine solche gesetzliche Klarstellung wird es keinem der beiden Träger möglich sein, ihre Verantwortung übernehmen zu können. Die Leidtragenden sind die arbeitslosen Menschen, die aus der Abhängigkeit von Hartz IV nicht herauskommen und die Steuerzahler, die immer höhere Ausgaben tragen müssen.

Sündenfall 6: Beiträge zur Bundesagentur für Arbeit

Vor dem Hintergrund der Wirtschaftsrezession und dem zu erwartenden Anstieg der Arbeitslosigkeit ist die weitere Absenkung der Beiträge zur BA höchst problematisch. Der Beitragssatz ist bereits in verschiedenen Stufen von 6,5 auf 3,3 Prozent seit 2008 abgesenkt worden. Nach dem Beschluss der Bundesregierung soll er ab 1.1.2009 bis Mitte 2010 weiter auf 2,8 Prozent verringert werden und danach 3 Prozent betragen. Die BA hat zwar aus den beiden vergangenen Jahren aufgrund der konjunkturellen Belebung auf dem Arbeitsmarkt erhebliche Finanzreserven zurückstellen können. Sollten Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit im kommenden Jahr stärker steigen als es die offiziellen Prognosen der Bundesregierung bisher vorsehen – und alles deutet darauf hin -, wären diese Reserven schnell aufgezehrt. Sowohl konjunktur- wie sozialpolitisch wäre es verheerend, wenn dann einmal mehr die Leistungen der Arbeitslosenversicherung und die Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik eingeschränkt würden. Die Regierungskoalition muss ihren Beschluss der Absenkung unter die derzeit geltenden 3,3 Prozent angesichts des zu befürchteten Anstiegs der Arbeitslosigkeit so rasch wie möglich revidieren. Gerade in einer Rezession ist es erforderlich, die finanziellen Spielräume der BA zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit, Qualifizierung und Eingliederung der benachteiligten Personengruppen – einschließlich der älteren, Behinderten und Schwerbehinderten – auszuweiten.

Dr. Ursula Engelen-Kefer ist

  • Mitglied im Parteivorstand der SPD
  • ehem. Stellvertretende Vorsitzende des DGB
  • Mitglied in der Arbeitsgruppe Sozialpolitik des Sozialverbandes


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=3661