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Titel: Sadiq al-Azem, der große syrische Philosoph, ist in Berlin verstorben. Ein Nachruf von Heiko Flottau.
Datum: 14. Dezember 2016 um 10:38 Uhr
Rubrik: Ideologiekritik, Kirchen/Religionen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Der frühere Nahostkorrespondent und Kenner der Szene, Heiko Flottau, hat für die NachDenkSeiten den syrischen Philosophen gewürdigt. Danke für diesen Text. Manche Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten mögen solche Texte für ausgefallen halten. Die NachDenkSeiten füllen aber damit bewusst eine Lücke. Albrecht Müller.
Der Nachruf
So tapfer er im Leben für seine Überzeugungen gekämpft hat, so tapfer ist er gestorben. Sadik al-Azem, Syrer, der arabischen Welt berühmtester Philosoph, erlag am 11.Dezember in Berlin im Alter von 82 Jahren einem Krebsleiden. Eine weitere Behandlung der tödlichen Krankheit hatte er abgelehnt, gefaßt hatte er die letzten Wochen seines Lebens verbracht.
Gefaßt und kämpferisch war Al-Azem auch allen Anfeindungen seiner Gegner aus dem traditionellen islamischen Lager begegnet.
Es war, zum Beispiel, eine Sensation – und für das muslimische Establishment ein Skandal –, als Sadik al-Azm im Dezember 1969 in der libanesischen Hauptstadt Beirut sein Werk Naqd al-Fikr ad-Dini – Critique of Religious Thought – veröffentlichte. Der Mufti des Libanon setzte das Werk sofort auf den Index, der Autor kam vorübergehend ins Gefängnis. Überall, außer im Libanon, wurde die Abhandlung offiziell verboten. Dennoch, schreibt Sadik al-Azm im Vorwort der englischen Übersetzung, welche 2015 bei Gerlach-Press in Berlin herauskam, sei das Buch überall in der arabischen Welt erhältlich – für jene, «die es lesen und für jene, die es verbrennen» wollten.
Lesen wollten es, trotz der offiziellen Verbannung, viele. Und schon zur Zeit der Erstveröffentlichung gab es im Libanon wenigstens ein paar vernünftige Leute, die dazu rieten, sich mit dem Werk auseinanderzusetzen. Eine der anerkanntesten Persönlichkeiten der arabischen Welt, Drusenführer Kamal Jumblatt (damals Innenminister des Landes, später, 1978, vermutlich von syrischen Agenten ermordet) schützte Sadik al-Azm davor, aus dem Libanon deportiert zu werden. Und der vielmalige Premier Saeb Salam riet dazu, sich mit dem Buch ernsthaft zu beschäftigen, statt unnötige und unfruchtbare Aufregung zu verbreiten.
Schließlich und, besonders aus heutiger Sicht, am bedeutendsten: das schiitische Establishment des Libanon äußerte sich gegenüber dem Sunniten Sadik al-Azem «wohlkalibriert mit einer maßvollen Position der Toleranz», wie Sadik al-Azm im Vorwort der englischen Ausgabe schreibt. So erklärte der am meisten verehrte schiitische Geistliche der Epoche, Mohammed Jawad Moughniyya, er lehne zwar alle Thesen des Buches ab; aber er fügte hinzu, der Islam werde der Verlierer sein, wenn er es versäume, sich mit den Themen, Dilemmata und Problemen zu beschäftigen, die Sadiq al-Azm angesprochen habe. – Prophetische Worte. Heute, 47 Jahre später, sind sie von unerhörter Aktualität.
Dennoch kam es im Frühjahr 1970 zum Prozeß gegen Sadik al-Azm. Mit Hilfe der besten Rechtsanwälte des Landes, die kaum Honorar verlangten, wurde der Autor freigesprochen. Da es sich bei dem Werk des Angeklagten um ein Buch handle, das eine wissenschaftliche und philosophische Studie darstelle, die nicht beabsichtige, konfessionellen und rassischen Zank zu provozieren, sei die Anklage, so urteilte das Gericht, gegen den Autor fallenzulassen.
Im Zeitalter des «Islamischen Staates», der Taliban, des durch die Familie Al-Saud geförderten Ideologie-Exports des Salafismus und des restaurierten Staatsislams, so steht zu befürchten, würde die Veröffentlichung eines ähnlichen Werkes heute für den Autor kaum so glimpflich ablaufen. Beispiel dafür ist das Schicksal des Ägypters Nasr Hamed Abu Zaid, der für sein Buch «Kritik des religiösen Diskurses» (1992) praktisch von muslimischen Hardlinern exkommuniziert wurde und Ägypten verlassen mußte.
Und: die These des Autors, wonach sich die herrschenden Eliten in der arabischen Welt den starr, konservativ und buchstabengetreu interpretierten Ur-Islam zu eigen gemacht hätten und damit bis heute ihren Herrschaftsanspruch begründeten, ist nach wie vor gültig. Stets wurden Neuauslegungen des Islam von einer Allianz aus Königen, Sultanen, staatlich ernannten Großmuftis und reaktionären Klerikern als häretisch verurteilt. Die marokkanische Autorin Fatima Mernissi spricht in ihrem 1992 erschienenen Buch «Islam and Democracy – Fear of the Modern World» vom «Islam der Paläste», wenn sie die intellektuelle Kapitulation vor einer Auseinandersetzung mit dem Text des Korans beschreibt.
Sadik al-Azm, in der arabischen Welt weitgehend verfemt, im Westen als Erleuchtung aus dem Orient begrüßt, wurde 1934 in Damaskus geboren. Er stammt aus einer alteingesessenen syrischen Familie, deren wunderbarer Palast in Friedenszeiten in der Damaszener Altstadt zu besichtigen ist. Er lehrte weltweit, etwa in den USA als Fellow in Princeton und am Berliner Wissenschaftskollege (um nur einige seiner Stationen zu nennen). In seinem Buch «Critique of Religious Thought» setzt er sich in erster Linie mit dem Verhältnis von Glauben und Wissenschaft auseinander.
In einem historisch-ideologischen Rückblick geht der Autor zunächst auf den Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft in Europa ein. Sadik al-Azm schreibt, daß Religion in Europa ein Verbündeter der feudalen Organisation sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen gewesen sei. Diese Rolle spiele die Religion weiterhin in zurückgebliebenen Gesellschaften. Tatsächlich sei der Islam «die offizielle Ideologie der reaktionären, rückwärts gerichteten Kräfte in und außerhalb der arabischen Welt (Saudi-Arabien, Indonesien, Pakistan)» geworden. Offen und sehr direkt sei er verbunden mit dem Neo-Kolonialismus, der von den USA gesteuert werde.
«Religion ist auch», schreibt der Autor weiter, «die Hauptquelle der Legitimierung monarchischer Regime, da die Religion Regeln verbreitet habe, wonach das Recht der Monarchen, die Völker zu regieren, vom Himmel komme und nicht von der Erde.» Wie gesagt, diese Worte stammen aus dem Jahre 1969. Die heutige Situation treffen sie aber immer noch ziemlich genau.
Sadik al-Azm schreibt, ein normaler Muslim, ein Mr. X, wie er ihn nennt, stehe vor folgendem Problem: Wie könne dieser Mr. X, der im Rahmen traditioneller muslimischer Doktrinen aufgewachsen und erzogen sei, diese religiösen Doktrinen mit der modernen Wissenschaft in Einklang bringen? Die Völker des Mittelmeerraumes, also auch jene muslimischen Glaubens, und deren Nachbarn seien mit folgenden Entwicklungen konfrontiert worden:
Gewollt oder ungewollt – diese Entwicklungen seien letztlich ein Frontalangriff auf die Dogmen der im Mittelmeerraum verbreiteten Religionen gewesen. Was den Islam betreffe, argumentiert Sadik al-Azm, so stünden dessen Doktrinen über die Entwicklung, die Struktur und die Natur des Universums sowie über den Ursprung und die Geschichte menschlichen Lebens zweifellos im Gegensatz zu wissenschaftlichen Kenntnissen.
Und der Alltagsislam? Sadik al-Azem unterscheidet drei Gruppen. Da sei einmal der «Staatsislam» – repräsentiert durch Regierungen und religiöse Institutionen. In Saudi-Arabien herrsche ein, wie er es nennt, Petro-Islam, ein islamisches System, gestützt durch Petro-Dollars.
Das andere Extrem des Islam bilde heute eine «Plethora» islamistischer Gruppen, die aus dem Dschihad heraus geboren worden seien. Ein Ursprung dieser Gruppen liege bei jenen Dschihadisten, welche im Jahre 1979 die Kaaba in Mekka besetzt und damit gegen die ausschweifende Lebensweise der regierenden Familie Saud protestiert hätten.
In dieselbe Kategorie zählt Sadik al-Azm auch die Attentäter des 11. September 2001 und verwandte Gruppen. Diese kämpften gegen alle islamischen Regierungen und Gesellschaften; ihr Ziel sei «die Wiederherstellung der Souveränität Gottes in der islamischen Welt». Sie verfolgten dieses Ziel unabhängig davon, dass ihnen ihre eigenen Aktionen ein total negatives Image einbrächten.
In diesem Punkt ähnelten Gruppen wie Al-Qaida der deutschen Baader-Meinhof Gruppe, der französischen «Action directe» und den italienischen «Roten Brigaden», welche den Politiker Aldo Moro ermordet hatten. Das Ziel der radikalen muslimischen Gruppen könne mit den Worten «Islam jetzt» umschrieben werden.
In seinem in Berlin im Jahre 2015 während einer Vortragsveranstaltung wieder vorgestellten Essay «On Fundamentalism» argumentiert Sadik al-Azem zudem, daß es durchaus einen triftigen Grund habe, wenn sich Fundamentalisten in Gruppen – Jamaat – vereinigten statt in «Parteien». Denn Ausdrücke wie «Koalition», «Partei» oder «Organisation» seien dem Islam fremd, seien eher ein Spaltpilz für die Umma, die allumfassende islamische Gemeinschaft. Der Ausdruck Jamaat dagegen invoziere die Erfahrungen, die vermeintlich positiven Erfahrungen der frühen muslimischen Gemeinschaften
Als dritten Zweig des Islam führt Professor al-Azem den, wie er ihn nennt «Good for Business Islam» an. Getragen werde dieser Islam von der bürgerlichen Mittelklasse, vom «Islamic Banking», von den Handelskammern, von jenen Geschäftsleuten, die mit ihrem Kapital an der Börse Geld verdienen wollten («Venture-Capital»).
Wo aber liegen die eigentlichen Gründe für die «Revitalisierung» des Islam, die sich viele der Jamaat zum Ziel gesetzt haben? In seinem Essay «Islamic Fundamentalism Reconsidered» versucht Professor al-Azm eine Antwort. Er schreibt:
«All jene Kräfte, welche die arabische Welt in den letzten 150 Jahren geformt und umgeformt haben, waren, letztlich, in jedem einzelnen Fall europäischen Ursprungs: Kapitalismus, Nationalismus, Kolonialismus, Säkularismus, Liberalismus, Populismus, Sozialismus, Kommunismus, Marxismus, Modernismus; das Ziel sei gewesen, sich entwickeln zu wollen, «die Idee des Fortschritts, wissenschaftliches Wissen, angewandte Technologie (zivil und militärisch), das moderne Nationenbauen (‚Modern Nation-Statebuilding’)“ zu fördern.
Ob es, fragt Sadik al-Azem eher rhetorisch, angesichts dieser Invasion von Begriffen und Bewegungen jemanden verwundern könne, daß es Gegenbewegungen gebe wie den islamischen Fundamentalismus? Und kein Wunder sei es auch, daß das Original aller Reform- bzw. Revitalisierungsbewegungen mit der Muslimbruderschaft in Ägypten entstanden und das Land dadurch zum «locus classicus» der islamischen Reformation geworden sei.
Das ganze Thema sei indessen, schreibt Sadik al-Azm, durch die feindlichen Blicke und Urteile, die der Islam und das Christentum gegenseitig ausgetauscht hätten, vernebelt worden. In Wahrheit aber seien beide Anschauungswelten gar nicht so weit auseinander, wie stets geglaubt. Schließlich entstammten beide Religionen und auch das Judentum ähnlichen Ursprüngen.
Sadik al-Azem: ein großer arabischer Philosoph, den Herrscher wie Baschar al-Assad, Ägyptens Abdel Fatah al-Sissi und der saudische König Salman am liebsten aus dem islamisch-arabischen Kosmos verbannen würden. In der Finsternis ihrer Welt war er ein wärmendes Feuer – von seinen muslimischen Zeitgenossen wurde es absichtlich übersehen, am liebsten aber hätten die Herrschenden dieses Feuer ausgetreten.
Gestorben ist Sadik al-Azem im westlichen Exil. Doch heimkehren will er dennoch.
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