NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Jez he did! Jeremy Corbyn bringt uns den Optimismus zurück!

Datum: 26. September 2016 um 13:59 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Parteien und Verbände, SPD
Verantwortlich:

Jez he did! Jeremy Corbyn bringt uns den Optimismus zurück!

Noch vor wenigen Wochen hätten wohl nur eingefleischte Corbynistas einen Penny auf den Vorsitzenden der britischen Labour Partei gesetzt. In einer Nacht der langen Messer hatten Abgeordnete des rechten Parteiflügels in Zusammenarbeit mit einigen Medienvertretern einen Putsch gegen Corbyn gestartet. Zum Höhepunkt hatten 80% der Labour-Abgeordneten des Unterhauses und nahezu die komplette Parteispitze dem Vorsitzenden förmlich ihr Misstrauen ausgesprochen, während ihm gleichzeitig ein eiskalter Orkan von Seiten der Medien umtobte. Doch Jeremy Corbyn tat, was er zeitlebens tut. Mit einer Sturheit, die jedem Esel Respekt abringen würde, stellte er sich dem Orkan, blieb standhaft und überlebte. Aus der am Samstag abgeschlossenen Urwahl ging er mit 62% der Stimmen sogar gestärkt hervor. Corbyn beweist: echte linke Politik ist auch heute noch möglich – sogar gegen den erbitterten Widerstand angepasster Parteieliten und der kompletten Medienlandschaft. Auch für uns sollte dies ein Hoffnungsschimmer sein. Von Jens Berger

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zum Hintergrund lesen Sie bitte auch:

Corbyn vs. Gabriel

Was ist der große Unterschied zwischen Jeremy Corbyn und Sigmar Gabriel? Sicher, der eine begeistert die Massen, der andere verärgert selbst eingefleischte Parteimitglieder. Während die Labour Party in nur einem einzigen Jahr unter Corbyn ihre Mitgliederzahl auf 680.000 verdreifacht hat, hat die SPD in den sieben Jahren Gabriel mehr als 100.000 Mitglieder verloren. Im Sommer löste Labour die SPD als mitgliederstärkste Partei Europas ab. Jeremy Corbyn ist sprichwörtlich standhaft. In den Jahren unter Blair und Brown stimmte er sagenhafte 428 Mal gegen die eigene Partei, die sich von den Werten abgewandt hatte, die echte Sozialdemokraten wie Corbyn nun einmal vertreten. Sigmar Gabriel springt hingegen über jedes Stöckchen, das ihm vorgehalten wird. Wenn Corbyn ein überragendes Beispiel für Standhaftigkeit ist, ist Gabriel wohl ein überragendes Beispiel für Biegsamkeit. Im Lexikon könnte unter „Opportunismus“ sein Bild stehen. Über Inhalte braucht man hier wohl gar nichts mehr zu sagen: Während Corbyn ausschließlich klassische sozialdemokratische und linke Positionen einnimmt und offensiv vertritt, weiß Sigmar oft morgens nicht, welche Position Gabriel abends zu wichtigen Themen haben wird. Ist er für oder gegen TTIP? Wie sieht´s mit der Rente aus? Schaffen wir das oder hat das Pack am Ende doch Recht? Sigmar Gabriel ist kein echter Politiker, sondern eine Überraschungstüte.

Ich gebe zu, Vergleiche wie dieser sind nicht sonderlich ergiebig. Es ist sprichwörtlich so, als vergleiche man Äpfel mit Birnen. Seit dem Rücktritt von Oskar Lafontaine im März 1999 hat die SPD ihr sozialdemokratisches Profil bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen – und dies sowohl in der Opposition als auch in der Regierung, mit den Grünen und der Union als Vollzugspartner. In den Reihen der SPD ist selbst mit viel Phantasie kein „deutscher Corbyn“ in Sicht. Das ist zwar traurig, aber auch „nur“ das Ende eines Prozesses, den wir schon seit fast zwanzig Jahren kritisch begleiten. Die Labour Party brauchte dafür zwar dank des britischen Mehrheitswahlrechts keinen Koalitionspartner – von sozialdemokratischen und linken Inhalten wurde die Partei jedoch ebenfalls von den ehemaligen Vorsitzenden Blair und Brown entkernt. Die Partei war im letzten Jahr klinisch tot, während die Totengräber Kasse machten. Tony Blair ist für ein Jahressalär von zwei Millionen Pfund „Berater“ bei der Investmentbank JP Morgan und Gordon Brown heuerte im letzten Jahr, nachdem er mit Nebenjobs in der Finanzindustrie bereits 3,6 Millionen Pfund „verdient“ hatte, für ein Millionengehalt als Berater beim Fondsgiganten Pimco an. Jeremy Corbyn fährt übrigens im Zug zweiter Klasse und hat sicher noch nicht einmal Bedarf für derlei absurde Summen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Was ist so toll an Jeremy Corbyn, werde ich häufiger gefragt. Ganz einfach: Er ist authentisch und das müssen sogar seine politischen Gegner anerkennen. Jeremy Corbyn hat Rückgrat, er wiegt nicht jedes seiner Worte auf einer Goldwaage, die ihm ein Heer PR-Berater hinreicht. In Zeiten, in denen die politische Klasse – keinesfalls zu Unrecht – kollektiv am Pranger steht, da sie ihre Werte an den Meistbietenden verhökert und Politik oftmals nur betreibt, um nicht das Wohl der Allgemeinheit, sondern die eigenen Ersparnisse zu mehren, wirkt ein Jeremy Corbyn im besten Sinne anachronistisch. Hinzu kommen natürlich die politischen Positionen von Corbyn, über die man an dieser Stelle sicher nicht mehr allzu viele Worte verlieren muss.

Doch Corbyn ist – da machen wir uns bitte nichts vor – natürlich auch nicht der Erlöser, auf den die Welt nur gewartet hat. Bei überzeugten Sozialdemokraten und Linken punktet er natürlich alleine schon wegen seiner politischen Positionierung. Bei jungen Politikinteressierten punktet er ebenfalls. Und zwar vor allem wegen seiner Authentizität und seiner Offenheit für die junge Generation, ihre Sorgen, ihre Nöte und ihre Hoffnungen. Das ist zwar zusammengenommen schon mal richtig viel, aber noch nicht genug, um wirklich Massen zu begeistern. Überzeugte Konservative, Rechtsextreme oder Neoliberale werden Corbyn ohnehin nie gut finden. Aber auch das „linke“ Lager steht (noch) nicht geschlossen hinter ihm. Das dickste Brett muss er wohl bei den gut ausgebildeten „Wohlfühllinken“ bohren – der verlorenen Generation, die in einer Zeit politisiert wurde, als der Neoliberalismus in der Politik und den Medien als „frische Alternative“ und „realpolitische Notwendigkeit“ gepriesen wurde.

Sie verstehen es nicht, sie verstehen ihn nicht

Wer einen Beleg dafür haben will, wie wenig selbst aufgeschlossene deutsche Jung-Intellektuelle verstanden haben, sollte sich einmal unvoreingenommen den Artikel „Im Bann des Dinosauriers“ der Zeit-Redakteurin Khuê Pham durchlesen. Man kann der jungen Dame noch nicht einmal ernsthaft vorwerfen, sich an einer „Kampagne“ gegen Corbyn im Speziellen oder gar linker Politik im Allgemeinen zu beteiligen. Nein, Frau Pham ist 1982 geboren, hat bereits die Ära Kohl sicher aufgrund ihres Alters politisch nicht sonderlich aufmerksam verfolgt und wurde erst politisch sozialisiert, als Rot-Grün das Land umkrempelte und plötzlich all die genuin sozialdemokratischen, ja linken, Themen „verstaubt“, „von gestern“, „unmodern“ oder halt Sachen für „Dinosaurier“ waren. Wer ein moderner Mensch in der linken Mitte war, fand nun die Agenda-Politik, die Bomben auf Jugoslawien, Privatisierungen und die Riesterrente modern und realpolitisch … es gibt halt Zwänge, an die man sich halten muss; alles andere ist Träumerei. Und wer bei der ZEIT Redakteur werden will, sollte wissen, was Realpolitik ist.

Corbyn, seit 1983 Abgeordneter, hält noch heute an den Positionen fest, für die er seit Jahrzehnten auf die Straße geht: Er glaubt, dass Bahn, Strom- und Wasserversorgung wieder verstaatlicht werden sollten. Er will die Studiengebühren abschaffen und die Steuern für Reiche erhöhen. Er betrachtet die USA als imperialistisch und Israel als Besatzungsmacht. Er will die britischen Atomwaffen abschaffen und fordert eine Welt ohne Krieg. Er ist, kurz gesagt, gegen fast alles, was man heutzutage unter Realpolitik versteht.
Khuê Pham in der ZEIT

Ein Corbyn allein macht also noch keinen Frühling. In unseren Köpfen hat sich schon so viel Unrat angesammelt, dass es selbst unter guten Bedingungen noch lange dauern wird, bis wir Dinge, die eigentlich selbstverständlich sind, auch wieder als selbstverständlich begreifen und uns nicht mehr darum scheren, was uns als „Realpolitik“ vorgegaukelt wird. Und die Bedingungen werden nicht gut sein. Natürlich wird „das System“ zurückschlagen. Auf Jeremy Corbyns Weg werden noch zahlreiche große Felsbrocken platziert und es ist ungewiss, ob er sie am Ende meistern wird. Aber das ist nicht schlimm. Wichtig ist, dass es die Hoffnung gibt, dass er es vielleicht schaffen kann. Und Hoffnung, dass sich irgendetwas zum Besseren wenden könnte, hatten wir ja schon seit sehr langer Zeit nicht mehr.


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=35169