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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Drahtzieher hinter den Kulissen – der Einfluss des Bertelsmann-Konzerns auf die Hochschulen
Datum: 16. Oktober 2008 um 15:55 Uhr
Rubrik: Hochschulen und Wissenschaft, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Markt und Staat
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Ein Referat von Wolfgang Lieb, Veranstalter VHS, Arbeit und Leben, Gewerkschaften.
An der Fernuniversität Hagen, am 14. Oktober 2008.
In meinem Vortrag möchte ich versuchen, am Beispiel der Hochschulreformen der letzten Jahre aufzuzeigen, wie es zu einem Paradigmenwechsel, plastischer gesagt, zu einem Umbruch in einem wichtigen Bereich des Bildungswesens gekommen ist und welche Rolle dabei die Bertelsmann Stiftung spielte.
Die Hochschulreform ist dabei nur eine gesellschaftliche Reform unter vielen, mit denen die neoliberale Bewegung unser Land umgekrempelt hat und viele Errungenschaften des modernen Wohlfahrts-, Sozial- und Kulturstaates zerstört oder zumindest abgebaut haben. Vergleichbare Prozesse ließen sich auch bei der Arbeitsmarktpolitik, der Sozialpolitik, insbesondere der Renten- oder der Gesundheitspolitik oder dem Staatsverständnis insgesamt nachzeichnen.
Die Hochschulreformen der letzten Jahre stehen also als Teil für Vieles, wenn nicht gar alles, was sich in den letzten Jahren Reformpolitik nannte.
Man könnte darüber ein ganzes Buch schreiben, ich bin gebeten worden mich auf eine Stunde zu beschränken. Vieles, was dazu zu sagen wäre, bleibt deshalb stark verkürzt und zugespitzt, deshalb stelle ich mich nach meinem Referat gerne Ihren Fragen.
Ich möchte Ihnen zunächst das Drehbuch vorstellen, mit dem diese Art von Reformen durchgesetzt worden ist. Die Reformagenda lässt sich in drei Kapitel unterteilen, nämlich
Unsere Hochschulen waren im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert wahrlich nicht im besten Zustand. Als damaliger Staatssekretär im Wissenschaftsministerium unseres Landes könnte ich Ihnen ein langes Klagelied vorsingen.
Es gab erheblichen Reformbedarf.
Aber waren unsere Hochschulen wirklich so schlecht, wie sie gemacht wurden?
Bei aller berechtigten Kritik leisteten die überwiegende Zahl der Hochschulen und die meisten Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer im Kern gute Arbeit:
Die Qualität des Studiums und der internationale Ruf unserer Hochschulen konnte so schlecht nicht sein, wenn etwa in den Vereinigten Staaten, wo man sich ja schon seit langer Zeit der besten Köpfe aus der ganzen Welt bediente, damals jeder dritte ausländische Postdoc und jeder fünfte Professor in den Naturwissenschaften aus Deutschland kam.
So schlecht konnten die staatlichen Hochschulen nicht sein, wenn die „als Stachel im Fleisch“ gegründeten privaten Hochschulen in Deutschland, jedenfalls in der Breite, nie zu einer echten Konkurrenz aufsteigen konnten, da konnten sie sich noch so schöne Namen geben und sich als „Elite“- Hochschulen oder „International“ bzw. „European“ Universities titulieren. Es gab offenbar keinen Bedarf und keine „Marktlücke“ für private und teure Angebote, dazu war das Studienangebot der öffentlichen Universitäten und Fachhochschulen einfach noch zu gut. Und in der Forschung konnten die meisten privaten Hochschulen schon gar nicht mithalten.
Trotz der Überfüllung der Hochschulen führte ein Studienabschluss jedenfalls in aller Regel zur Befähigung zur selbständigen Bearbeitung von neuen Problemen mit wissenschaftlichen Methoden. Wenigstens dem Anspruch nach galt das alte Prinzip „Bildung durch Wissenschaft“.
Nach der Abschaffung der Diplom-Studiengänge und mit der Einführung von gestuften Bachelor- und Masterstudiengängen finden wir überwiegend Paukstudiengänge vor, in denen Wissen eingepaukt und in zahllosen Klausuren schlicht reproduziert wird. Kritiker sprechen böse vom „Bulimie-Studium“. Der Bachelor-Abschluss ist häufig nicht mehr als eine testierte Zwischenprüfung oder – noch schlimmer – gar ein zertifizierter Studienabbruch.
An die Stelle der Reflexion des Stoffes und der selbständigen systematischen Erarbeitung und Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf neue Fragestellungen ist der „workload“ getreten, also der Arbeitsaufwand für das Lernen gemessen in Zeiteinheiten zum Erwerb von „Kreditpunkten“. Die „hohen Schulen“ wurden zu Ausbildungs-Fabriken.
Die Masse der Studierenden wird künftig durch ein Kurzstudium geschleust, der Übergang zu einem „wissenschaftlichen“ Master-Abschluss steht nur noch einem kleinen Teil der Studierenden offen. Der Bologna-Prozess wird als Selektionsinstrument eingesetzt und entpuppte sich als Sparprogramm zu Lasten der Studierenden.
Deutschlands Hochschulwesen hatte vor den „Reformen“ der letzten Jahre seine international anerkannte besondere Stärke in der Breite der wissenschaftlichen Ausbildung bei hoher und vergleichbarer Qualität der Hochschulen. Wenn man schon immer auf Rankings verweist, sollte man auch auf das Shanghai-Ranking hinweisen, wonach Deutschland mit 40 Universitäten in den Top 500 vertreten sind, das sind gemessen an der Zahl der Unis mehr als die USA.
Natürlich gab es Unterschiede zwischen den einzelnen Hochschulen, aber ein Diplom in Greifswald oder Hagen war genauso viel wert, wie ein Abschluss in München oder Aachen. Inzwischen wird unter den Modebegriffen „Wettbewerb“ oder „Profilbildung“ systematisch eine Hierarchisierung der Hochschullandschaft mit unterschiedlicher Qualität der Hochschulen vorangetrieben. Viele der kleineren Hochschulen werden – wie in den USA – schon in wenigen Jahren zu mittelmäßigen „Colleges“ oder „Schools“ abgewirtschaftet sein.
Das „Bürgerrecht auf Bildung“ wurde inzwischen in 6 Ländern durch ein „Bezahlstudium“ abgelöst. Eine wissenschaftliche Ausbildung möglichst Vieler gilt nicht mehr als Fundament für die technologische Innovation und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft und als Element der demokratischen Teilhabe und der kulturellen Entwicklung der Gesellschaft, sondern als eine private Investition in das persönliche „Humankapital“.
Die Meinungsmache, wonach jeder seines Glückes Schmied ist, hat sich auch an den Hochschulen durchgesetzt.
An die Stelle einer der Gesellschaft und der Allgemeinheit verpflichteten demokratisch verantworteten Forschung und Lehre ist die „unternehmerische“ Hochschule getreten, die durch die Gesetze des Wettbewerbs auf dem Wissenschafts- und Ausbildungsmarkt gesteuert werden soll. Steuerzahler und Parlamente werden zu Zahlmeistern degradiert, die die Hochschulen zwar noch weit überwiegend „bezuschussen“ dürfen, aber alle wesentlichen Entscheidungen treffen Hochschulräte, die als eine Art Aufsichtsrat die „Fachaufsicht“ über die Hochschulen führen.
„Manager erobern die Kontrolle an den Unis“ schreibt unverblümt das Handelsblatt vom 12. Oktober 2007, denn die externen Mitglieder der Hochschulräte kommen weit überrepräsentiert aus Unternehmen und Unternehmensverbänden. Knapp die Hälfte der Hochschulratsvorsitzenden sind Vertreter der Wirtschaft. Von diesen Vorsitzenden sind wiederum 80 Prozent Aufsichtsrats- oder Vorstandsmitglieder von Unternehmen. Vertreter aus Gewerkschaften sind in den neu geschaffenen Steuerungsgremien der bundesdeutschen Hochschulen mit 3% nur marginal vertreten.
An die Stelle der früheren – gewiss nicht optimalen – akademischen Selbstverwaltung und einer kooperativen Hochschulleitung sind Top-down-Management-Strukturen getreten mit einem „Vorstandsvorsitzenden“ an der Spitze (so heißen die früheren Rektoren im neuen Baden-Württembergischen Hochschulgesetz tatsächlich).
Das Paradoxe dabei ist, dass es gelingt, dies alles unter der Überschrift „Hochschulfreiheit“ zu verkaufen.
Der Leistungswettbewerb der einzelnen Wissenschaftler um wissenschaftliche Reputation und internationale Anerkennung innerhalb der Scientific Community wird vom Hochschul-Marketing überlagert. „Image“ und „Verkauf“ werden zu Erfolgskriterien. Der aufklärerische Kern des universitären Anspruchs auf Wahrheit wurde durch ökonomische Wahrheits- oder Geltungsansprüche ersetzt. Das Humboldtsche Bildungsideal wurde vom Hayekschen Glauben an die Überlegenheit der Marktsteuerung abgelöst. Das oberste Prinzip lautet heute, auf dem Ausbildungs- und Drittmittelmarkt erfolgreich zu sein und neue Wege der privaten Finanzierung in Zeiten knapper öffentlicher Kassen zu suchen. Die Hochschulen wurden in Struktur und Funktion an zum Zwecke der Profiterzielung wirtschaftende Unternehmen angepasst.
Die neoliberale Bewegung hat auch die Hochschulen besetzt und den „größten Umbruch“ seit den preußischen Hochschulreformen herbeigeführt.
Das Zerstörungswerk folgte dem gleichen Drehbuch wie beim Abbau des Sozialstaates, der Deregulierung des Arbeitsmarktes oder der Privatisierung der öffentlichen Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Einer gezielten Verarmung des Staates und der damit notwendig einhergehenden Verschlechterung der öffentlichen Leistungen folgten Kampagnen der Miesmache über das in den letzten Jahrzehnten willentlich und wissentlich abgewirtschaftete, staatliche Angebots. Das Heils-Versprechen war: der Markt kann alles besser.
Die Phase des Hochschulausbaus wurde durch die Sparpolitik der Länder schon Ende der siebziger Jahr gestoppt. Bund und Länder fassten damals den sog. „Öffnungsbeschluss“ und verlangten von den Hochschulen, dass der „Berg“ der geburtenstarken Jahrgänge „untertunnelt“ werden solle. Die Hochschulen sollten etwa ein Jahrzehnt lang eine „Überlast“ an Studierenden bei gleich bleibendem Budget und bei stagnierenden Zahlen des Lehrpersonals akzeptieren.
Diese so genannte „Untertunnelungsstrategie“ gehörte zu den größten (Lebens-)Lügen der Hochschulpolitik der Nachkriegszeit. Denn die Zahl der Studierenden erhöhte sich kontinuierlich, von etwas über einer Million im Jahre 1980 auf knapp 1,6 Millionen im Jahre 1990 und im vereinigten Deutschland bis auf heute 1,9 Millionen. Das Hochschulpersonal hingegen stagnierte. Laut dem von der Kultusministerkonferenz und dem Bundesbildungsministerium herausgegebenen „Bildungsbericht 2008“ ist die Zahl der Professuren verglichen mit 1997 zwar an den Fachhochschulen um etwa 1.300 gestiegen; bei die Universitäten sank sie jedoch um 1.160.
Die Betreuungsrelationen lagen bald weit unter dem internationalen Standard. Nach den im Juli dieses Jahres veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats kamen 1972/73 an den Universitäten unter 40 und an den Fachhochschulen weit unter 20 Studierende auf einen hauptberuflichen Professor, 2005/2006 waren es über 60 an den Unis bzw. knapp 40 Studierende an den Fachhochschulen (das Verhältnis von sämtlichen Studierenden zu hauptberuflichen Professoren in den Sprach- und Kulturwissenschaften beträgt ca. 76 zu 1, in den Rechts-, Wirtschafts-, und Sozialwissenschaften gar ca. 104 zu 1).
Die Hochschulen reagierten mit Zulassungsbeschränkungen: Insgesamt konnten zum Sommersemester 2008 nur 35% der Fachhochschulstudiengänge und 50% der universitären Studiengänge ohne Zulassungsbeschränkungen gewählt werden (siehe Bildungsbericht 2008).
Kein Wunder dass die Studienanfängerzahl trotz einer steigenden Zahl von Studienberechtigten 2006 immer noch um 20.000 und die Anfängerquote um mehr als zwei Prozentpunkte niedriger liegen als im Jahre 2003. 2005 wurde der ohnehin vorhandene Abstand zum OECD-Durchschnitt sogar wieder etwas größer. Die Studienanfängerquote liegt bei 30% und ist damit deutlich von der angestrebten Zielgröße von 40 % entfernt.
Die sozial unausgewogene Bildungsbeteiligung nahm zu: Während von 100 Kindern aus Akademiker- Familien 83 ein Studium aufnehmen, seien es aus Nicht-Akademiker- Familien nur 23, stellt der Wissenschaftsrat fest. Am unteren Rand der Bildungsbeteiligung liegen die Arbeiterkinder mit einer Beteiligungsquote von nur 17%. (Der Bildungsbericht 2008 ordnet dabei einen Anteil von 41 % der 19-25-jährigen Bevölkerung der Gruppe der Arbeiterkinder zu.)
Die Hochschulbauten verrotteten mehr und mehr und der Wissenschaftsrat konstatierte eine Jahr für Jahr größer werdende Investitionslücke bei der Hochschulsanierung in zweistelliger Milliardenhöhe. Der Anteil der Bildungsausgaben am BIP ging von 6,9% im Jahr 1995 auf 6,3% im Jahr 2005 und auf 6,2% im Jahr 2006 zurück. Wären auch im Jahr 2005 wie 1995 6,9% des BIP für Bildung aufgewendet worden, hätten dem Bildungsbereich rund 13 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestanden.
Ja, es stimmt, die Hochschulen sind unterfinanziert! Viele Hochschulrektoren und Hochschullehrer greifen in ihrem Kirchturmsdenken deshalb nur allzu gern nach dem Strohhalm zusätzlicher Einnahmen durch die Studiengebühren. Dabei wird allerdings komplett ausgeblendet, warum die öffentlichen Kassen eigentlich so knapp sind.
Dass das auch etwas mit dem – wie Rudolf Hickel das nennt – „Steuersenkungswahn“ vor allem bei den Unternehmens- und kapitalbezogenen Steuern zu tun haben könnte, unterliegt in der öffentlichen Debatte um die Hochschulfinanzierung geradezu einem Denkverbot.
Dass die geschätzten 60 Milliarden Steuerentlastung durch die Regierung Schröder für die Unternehmen nur zum geringsten Teil als Investivkapital in Deutschland angelegt wurden und deshalb auch kaum Arbeitsplätze schufen, wird nicht zur Kenntnis genommen, und dass – volkswirtschaftlich betrachtet – staatliche Investitionen in „Humankapital“ – wie selbst die wirtschaftsfreundlich OECD meint – viel dringender und zukunftsträchtiger wären, ist allenfalls ein Versatzstück für Sonntagsreden unserer Politiker.
Man vergleiche nur einmal ein paar ganz aktuelle Zahlen: Da wurde im Mai 2007 eine weitere Unternehmenssteuerreform mit einem Bruttoentlastungsvolumen von 30 Milliarden und einer Nettoentlastung von mindestens 5 Milliarden beschlossen – aller Voraussicht nach liegt das Steuergeschenk an die Unternehmen sogar erheblich höher.
Wie die in aller Munde geführten politische „Priorität für die Bildung“ in der Wirklichkeit aussieht, zeigt ein Zahlenvergleich des jüngsten „Steuergeschenks“ für Kapital- und Personalgesellschaften mit dem viel bejubelten sog. „Hochschulpakt 2020“:
Nach Berechnungen des statistischen Bundesamtes summieren sich die öffentlichen Ausgaben für die Hochschulbildung auf insgesamt rund 11 Milliarden und inklusive Transferleistungen – also etwa dem BaföG und Kindergeld – auf rund vierzehneinhalb Milliarden Euro im Jahr.
Über diese Summe hinaus bietet nun der Bund im Hochschulpakt gerade mal 565 Millionen über 4 Jahre bis zum Jahre 2010 an. Die Länder sollen diesen Betrag verdoppeln. Gerade mal etwas über 300 Millionen wollen also Bund und Länder jährlich zusätzlich beitragen, um den zu erwarteten Anstieg der Studierendenzahlen um 40 Prozent von 1,9 Millionen auf geschätzte 2,7 Millionen zu bewältigen.
Dagegen wurde sozusagen über Nacht der insolvenzbedrohten Hypo Real Estate eine Garantie von 26,5 Milliarden gegeben, und vorgestern wurden sogar etwa 500 Milliarden als Garantie zur Rettung des Bankensystems angeboten.
Das ist die nüchterne Zahlenbilanz hinter dem allgemein üblichen Gerede von der „Priorität für Bildung“ oder der von der Kanzlerin ausgerufenen „Bildungsrepublik“.
An diesen real existierenden Problemen der Hochschulen setzten die neoliberalen Reformer an. Sie redeten sie schlecht, und sie knüpften mit ihrer Miesmache an den wohlgemerkt politisch herbeigeführten Mängeln an. Die Hochschulen wurden zum „Sanierungsfall“ erklärt, und statt die Hochschulfinanzierung zu verbessern wurde die Wettbewerbs-Ideologie als alternativloser Ausweg aus der Misere angeboten.
„Mit dem Latein am Ende“ betitelte der Spiegel eine ganze Serie von Artikeln.
Der SPD-„Reformer“ Peter Glotz veröffentlichte 1996 seine Streitschrift unter dem Titel „Im Kern verrottet“. Die deutschen Hochschulen seien nur noch „Mittelmaß“ oder schlicht „krank“ so lautete der Tenor der öffentlichen Meinungsmache. Mit einem Trommelfeuer der Kritik wurden unsere Hochschulen sturmreif geschossen.
Zermürbt von Überlast, systematischer Unterfinanzierung und einer allgemeinen Professorenschelte hatten die Hochschulen der feindlichen Übernahme durch die „Reformer“ nichts mehr entgegenzusetzen. Wie beim Abbau des Sozialstaats wird das bewusst und vorsätzlich zerstörte staatliche Hochschulsystem zum Sündenbock erklärt.
An dieser Stelle kommt Bertelsmann ins Spiel – und zwar eingeführt von höchster staatlicher Stelle:
„Unser Bildungssystem braucht mehr Wettbewerb und Effizienz, mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit der Bildungsinstitutionen“ forderte Bundespräsident Herzog in seiner berühmt-berüchtigten Bildungsrede 1997.
Tatsächlich redete er dabei aber nur nach, was der unter seiner Schirmherrschaft stehende „Initiativkreis Bildung“ der Bertelsmann Stiftung aufgeschrieben hatte. Roman Herzog war sozusagen der ranghöchste Türöffner für die Reformvorstellungen von Bertelsmann.
Hochschulpolitik ist der „Schlüssel zur Gesellschaftsreform“, das erkannte der Bertelsmann-Patriarch Reinhard Mohn schon Ende der 70er Jahre. Seine von ihm 1977 gegründete Bertelsmann Stiftung sollte deshalb vor allem auch helfen, die, wie er sagte, „verkrusteten Strukturen“ an den Hochschulen aufzubrechen.
Die Mission der Stiftung gründet auf der Bertelsmannschen Überzeugung, dass „Wettbewerb“ und „die Prinzipien unternehmerischen Handelns zum Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft“ die wichtigsten Merkmale seien. Und immer ging es Mohn auch um ein Zurückdrängen des Staates, eine Verringerung der Staatsquote und um die Senkung der Steuerlast. „Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang“, meinte dazu Mohn 1996 in einem Stern-Interview.
Mohn vertritt eine Art deutschen Sonderweg in die wirtschaftsliberal globalisierte Welt, die auf eine korporatistische Unternehmenskultur setzt, den Sozialstaat als überdehnt oder gar als überholt betrachtet und eine über Wettbewerb hergestellte Effizienz als Steuerungsinstrument an die Stelle von Mitbestimmung und demokratischer Gestaltung setzen möchte.
Entsprechend seiner Überzeugung „privat ist besser als staatlich“ betrieb Mohn die Gründung der ersten deutschen privaten Universität in Witten-Herdecke und war jahrelang ihr Hauptsponsor. Die private Hochschule sollte ein „Stachel im Fleisch“ der staatlichen Hochschulen sein. An ihrem Wesen sollten die staatlichen Hochschulen genesen.
Reinhard Mohn musste jedoch offenbar im Laufe der Zeit erkennen, dass der Weg zur „Reform“ des staatlichen Hochschulsystems, diese der privaten Konkurrenz auszusetzen, nicht erfolgversprechend ist. Wie nahezu alle privaten „Elite“-Hochschulen, (etwa die “International University Bremen” (IUB), die „International University in Germany“ (Bruchsal), die „European School of Management and Technology“ (Berlin), das „Stuttgart Institute of Management and Technology (SIMT)“ und viele andere hochgelobte private Gründungen) litt auch Mohns UWH an chronischem Geld- und vor allem auch an Qualitätsmängeln. Trotz großer Namen aus der Wirtschaft im Gesellschafterkreis litt die Privatuni permanent unter Geldnot. Sie wäre 1993 wohl pleite gegangen, hätte ihr nicht das Land Nordrhein-Westfalen kräftig unter die Arme gegriffen.
Bertelsmanns Strategiewechsel: Statt Privatunis die staatlichen Hochschulen wie private Unternehmen organisieren
Mohn gab sein Engagement bei der Privaten Universität Witten-Herdecke schließlich ganz auf. Der Strategiewechsel folgte wohl der Einsicht, dass es für seine Mission viel effizienter ist, die weitgehend staatlich finanzierten Hochschulen wie private Unternehmen zu organisieren und in den Wettbewerb zu schicken und sie schließlich über die Konkurrenz um ergänzende Drittmittel für die Forschung und über die Einwerbung von Studiengebühren für die Lehre steuern zu lassen. Dem Staat sollte zwar die Rolle des Zahlmeisters bleiben, die Steuerung der Hochschulen übernimmt jedoch der Markt.
Die richtige Erkenntnis einerseits, dass Hochschulen der „Schlüssel zur Zukunft“ sind, und die Aussichtlosigkeit andererseits, dass private Hochschulen in Deutschland jemals zu einem Erfolgsmodell für die allgemeine Hochschulausbildung werden könnten, haben Reinhard Mohn und seine Bertelsmann Stiftung wohl auch veranlasst, 1994 das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) in Gütersloh zu gründen.
Das CHE firmiert als eine private und als gemeinnützig anerkannte GmbH. Der Jahresetat beläuft sich nach eigenen Angaben auf über 3 Millionen Euro und wird überwiegend von der Bertelsmann Stiftung finanziert. Das „CHE“ nennt sich eine „unabhängige Denkfabrik“. Sein bisheriger Leiter, Detlef Müller-Böling, hat sich inzwischen zum „informellen“ Bundesbildungsminister der Republik aufgeschwungen.
Klugerweise nahm das CHE die damals ohne jeden Apparat und ohne großen institutionellen Einfluss auf die Hochschulpolitik agierende, aber um so standesbewusstere Hochschulrektorenkonferenz (HRK) mit ins Boot, und so veröffentlichen das CHE und die HRK seither ihre hochschulreformerischen Lösungskonzepte unter einem gemeinsamen Kopfbogen. So verschaffte sich Bertelsmann vor allem über die Hochschulleitungen ein einigermaßen unverdächtiges Entree in die Hochschulen. Die Rektoren wurden mit dem Versprechen geködert, dass sie künftig mehr Macht an den Hochschulen bekommen sollten. Welcher Rektor, der sich künftig „Präsident“ oder „Vorstandsvorsitzender“ nennen durfte, konnte sich den Verlockungen der Macht entziehen.
In der Hochschul-„Reform“-Politik der zurückliegenden zwei Jahrzehnte lässt sich der politische Leitbildwechsel in unserer Gesellschaft wie in einem Brennglas beobachten. Nämlich wie die gegen die Herrschaft von Kirche und Königsthronen seit der Aufklärung erkämpfte „Freiheit von Forschung und Lehre“ über den Einfluss finanzstarker Verbände und Lobbyorganisationen und durch die massive Beeinflussung von Politik und der öffentlichen Meinung mehr und mehr der neoliberalen Ideologie und damit auch der Einflusssphäre wirtschaftlicher Interessen unterworfen wurde.
Exemplarisch ließe sich dieser „Paradigmenwechsel“ an der Kampagne zur Einführung von Studiengebühren nachzeichnen.
Seit den 60er Jahren bis über die Jahrhundertwende, nämlich bis etwa 2002 – also dem Jahr, in dem noch eine Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat die „Studiengebührenfreiheit“ im Hochschulrahmengesetz verankerte – gab es in Deutschland einen gesellschaftlichen Konsens, wonach Bildung ein „Bürgerrecht“ sei und ein Studium als ein öffentliches, gemeinnütziges Gut betrachtet werden müsse, dessen Förderung ein allgemeines Anliegen und eine öffentliche Aufgabe zu sein habe.
Das „Bürgerrecht auf Bildung“ (so damals noch der liberale Ralf Dahrendorf) entwickelte sich – ausgelöst durch den Sputnik-Schock Ende der 50er Jahre und kulminierend in Georg Pichts Alarmruf in seinem Buch „Die Bildungskatastrophe“ – über vier Dekaden zu einem stabilen Bestandteil des bundesrepublikanischen Wertekanons. Ein Selbstverständnis, das von allen Parteien, den Hochschulen, von der Kultusministerkonferenz, dem Bundesverfassungsgericht, ja sogar von den Wirtschaftsverbänden getragen wurde.
In einem historisch einmaligen Schub wurden in den 70er bis in die 80er Jahren Hochschulen ausgebaut und Ausbildungsreformen angestoßen. Mit massiver Bildungswerbung sollte das Begabungspotential in der Bevölkerung besser ausgeschöpft werden. Das brachliegende Bildungspotential, symbolisch inkarniert im „katholischen Mädchen vom Land“, sollte aktiviert werden. So wurden etwa einerseits die staatliche Ausbildungsförderung (das BAföG) aus- und aufgebaut und andererseits Bildungsbarrieren wie etwa Hörer- oder Kolleggelder abgeschafft.
Deutschland erlebte einen historisch einmaligen Bildungs-Boom: Innerhalb von 10 Jahren verdoppelte sich die Zahl der Studierenden und das Angebot an Hochschulpersonal.
Kohls geistig moralische Wende setzte den Bildungsreformen und der Bildungsexpansion während der 60er und 70er Jahre ein Ende.
Festmachbar am „Scheidungsbrief“ des Grafen Lambsdorff und der Aufkündigung der sozial-liberalen Koalition 1982 setzte sich – ausgehend von den „Reaganomics“ in den USA und über den Thatcherismus in Großbritannien – ein von der Chicagoer Schule geprägtes, zunächst nur auf die Wirtschaft bezogenes, mehr und mehr aber auch die Politik und die Öffentliche Meinung beeinflussendes, neoliberales gesellschaftliches Leitbild durch.
Unser höchster staatlicher Repräsentant, Bundespräsident Horst Köhler, hat in seiner Rede vor dem Arbeitgeberforum in Berlin am 15.3.2005 diese neue „Ordnung der Freiheit“ trefflich zusammengefasst: „Privateigentum, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und ein stabiles Geldwesen, eine Sicherung vor den großen Lebensrisiken für jeden und Haftung aller für ihr Tun und Lassen“.
Von Sozialstaat, sozialer Gerechtigkeit, von Teilhabe, von Mitbestimmung, von Chancengleichheit in der Bildung, von „sozialer Marktwirtschaft“ oder von „Wohlstand für alle“ – wie noch bei Ludwig Ehrhard – ist in Köhlers „Ordnung der Freiheit“ nicht die Rede.
Angestoßen von den Wirtschaftsverbänden und ihren Lobbyorganisation auf dem Feld der Wissenschaft – etwa dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft – und beraten vor allem vom Bertelsmann Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) setzte sich eine ökonomische, genauer müsste man eigentlich sagen: eine betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise des Studiums durch.
Pseudoökonomisierung des bildungspolitischen Denkens
Geradezu ein Musterbeispiel für die Ökonomisierung des bildungspolitischen Denkens ist die seit über zehn Jahren andauernde Kampagne des CHE für die Einführung von Studiengebühren. Da wird nun seit Jahren in immer neuen Varianten die Propagandatrommel mit den immer gleichen Parolen geschlagen:
Alle diese Argumente sind nicht nur bildungspolitisch, sondern auch noch ökonomisch falsch bzw. sie führen in eine falsche Richtung. Dennoch plapperten mehr und mehr Politiker und Medien die pseudoökonomischen Parolen nach.
Ich habe mich mit diesen pseudoökonomischen Argumenten vielfach auseinandergesetzt. Sie können, wenn Sie das Thema Studiengebühren interessiert, das in meinen Artikeln auf unserer Netzzeitung, den NachDenkSeiten.de nachlesen.
An dieser Stelle nur so viel:
Die Irreführung dieser Propaganda fängt schon damit an, dass die ökonomische Grundregel, wonach ein höherer Preis die Nachfrage senkt, regelmäßig außer Acht gelassen wird. Dass diese Regel aber greift, beweist etwa der Rückgang der Studienanfängerquote von 38,9 Prozent im Jahre 2003 auf 36,6 Prozent im Jahr 2007. Die Zahl der Erstsemester nahm nahezu ausschließlich in den neun Bundesländern zu, die keine allgemeinen Studiengebühren erheben. Selbst die gebührenfreundliche „Zeit“ titelt am 9. November 2006: „Die abschreckende Wirkung der Studiengebühren ist kein Hirngespinst.“
Dass ein höherer Preis für ein Studium vor allem Studierende aus sozial schwächeren Schichten von einer Hochschulausbildung abschreckt, liegt auf der Hand. Dem sollte durch ein Angebot an Stipendien abgeholfen werden. Studiengebühren sind da, die versprochenen Stipendien sind nicht in Sicht. Selbst die BAföG-Empfänger müssen die Gebühr bezahlen.
Bertelsmann das informelle Bildungsministerium
Am allgemeinen, gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel hat die Bertelsmann Stiftung einen erheblichen Anteil, am bildungspolitischen Kurswechsel hat das überwiegend von Bertelsmann finanzierte Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) einen überragenden Anteil.
Kaum ein Unternehmen in Deutschland ist so mächtig wie Bertelsmann.
Bertelsmanns Meinungs- und Gestaltungsmacht
Die Bertelsmann AG ist der größte Oligopolist der veröffentlichten Meinung in Deutschland. Mit einem Umsatz von 18,8 Milliarden Euro und über 100.000 Beschäftigten in mehr als 60 Ländern ist Bertelsmann das fünftgrößte Medienunternehmen weltweit. Bertelsmann ist zwar nicht das nach Umsatz größte Unternehmen in Deutschland, aber durch seine Medienmacht gepaart mit der Mission der Bertelsmann Stiftung das gesellschaftlich und politisch wirkungsmächtigste.
Wenn ich an dieser Stelle die Aktivitäten und Verflechtungen des Konzerns darstellen wollte, müsste ich mein Referat um eine halbe Stunde verlängern. Sie können aber alle selbst den Geschäftsbericht im Internet nachlesen
Hier einige Hinweise:
Die Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Radiosender und nicht zuletzt die Verlage des Konzerns beeinflussen nicht nur die Meinungsbildung, sondern auch die gesamte Stimmungslage und die Befindlichkeiten in Deutschland. Schon diese Medienmacht allein stellt eine Bedrohung für die Meinungsvielfalt in Deutschland dar.
Bertelsmann übt aber darüber hinaus eine politische Gestaltungsmacht aus, die weit über den Einfluss von Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften, ja sogar von Parteien hinausgeht – und das geschieht durch die Bertelsmann Stiftung.
Der Firmenpatriarch Reinhard Mohn hat die Stiftung 1977 gegründet und ihr 76,9% der Anteile an der Bertelsmann AG übertragen.
Die Bertelsmann Stiftung ist eine der reichsten Stiftungen in Deutschland mit einem Jahresetat zwischen 60 bis 70 Millionen Euro. Mit über 300 Mitarbeitern, die bis zu 100 Projekte betreuen, hat sie sich seit den 90er Jahren zu einem führenden deutschen Think-Tank entwickelt.
Das Spezifikum der Stiftung ist, dass sie nur von ihr selbst definierte Projekte finanziert und keine extern gestellten Anträge fördert. Während die Stiftung sonst ständig vom Wettbewerb redet, lässt sie einen Wettbewerb um ihre Fördermittel nicht zu.
„Eigentum verpflichtet“ nennt Reinhard Mohn als Motiv für seine Stiftung. Doch so ganz altruistisch motiviert dürfte die Übertragung von über drei Viertel der Kapitalanteile an der Bertelsmann AG an eine Stiftung nicht gewesen sein. Man liegt gewiss nicht falsch mit der Vermutung, dass Reinhard Mohn, indem er dieses Kapital „gestiftet“ hat, Milliarden an Erbschafts- und/oder Schenkungssteuer „gespart“ hat. Zudem sind die jährlichen Dividendezahlungen des Konzerns an die „gemeinnützige“ Bertelsmann Stiftung steuerbegünstigt, und die Vermutung dürfte nicht unbegründet sein, dass ein Gutteil des Etats der Stiftung über Steuerminderungen finanziert wird. Der Fiskus fördert also die Aktivitäten der Stiftung mit.
Dabei ist es keineswegs so, dass die Ziele des Konzerns von den Zielen der gemeinnützigen Stiftung unabhängig sind. Nach eigenem Bekenntnis will Reinhard Mohn, dass seine Stiftung „nicht nur ein bedeutender Reformmotor für die Gesellschaft, sondern auch ein Garant der Unternehmenskontinuität des Hauses Bertelsmann“ sein soll.
Der Göttinger Soziologe und Kenner der internationalen Stiftungslandschaft, Frank Adloff, kritisiert wohl nicht ganz zu unrecht, dass für solche Zwecke, für die die Stiftung steht, „die Steuerbefreiung für gemeinnützige Stiftungen nicht gedacht“ sei.
Denn die Bertelsmann Stiftung ist – entgegen dem Anschein, den sie zu erwecken versucht – eben keine neutrale Einrichtung zu uneigennützigen Zwecken.
Man kann Reinhard Mohn nicht einmal vorwerfen, dass er mit seiner „Mission“ hinter dem Berg hält. Jeder kann die Botschaften im Internet etwa auf der Website der Bertelsmann Stiftung oder in Mohns Buch „Die gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers“ nachlesen. Der Bertelsmann-Firmenpatriarch legte auch in zahlreichen Schriften seine persönliche Weltanschauung dar.
Im Hinblick auf diese Mission ist die Stiftung – wie der Tagesspiegel schrieb – eine
„Macht ohne Mandat“
Unter dem Pathos der „Gemeinwohlverpflichtung“ oder der Losung „Wir helfen der Politik, dem Staat und der Gesellschaft, Lösungen für die Zukunft zu finden“ (R. Mohn) gibt es kaum ein politisches Feld von Bedeutung, auf dem die Stiftung mit ihren Handreichungen nicht ihre Lösungsangebote macht.
Von der so genannten Reformpolitik (also etwa der Agenda 2010 oder den Hartz-Gesetzen) über die demografische Entwicklung, die Kommunal-, die Gesundheits-, die Finanz-, die Schul-, ja sogar die Außen- und Verteidigungspolitik bis hin zur Altersvorsorge oder zum Bibliothekswesen oder bis zum Familiengipfel bietet die Stiftung ihre „Lösungen für die Zukunft“ an. Vom Bundespräsidenten über die Bundeskanzler und die Bundes- und vor allem Landesministerien bis hin zur Kommunal- oder Finanzverwaltung, überall dient Bertelsmann seine Vorschläge an.
Was noch entscheidender ist: Die Lösungskonzepte werden auf allen Ebenen, von zahllosen öffentlichen oder halböffentlichen Institutionen, von Regierungen und Parlamenten und von fast allen Parteien von der FDP, über die CDU oder die SPD bis zu den Grünen im Sinne des herrschenden Modernisierungsdenkens begierig aufgegriffen.
Bertelsmann liefert zahllose Angebote vor allem für die Schulen:
Angefangen vom Projekt „Bildungswege in der Informationsgesellschaft (BIG 2006)“, über Gesundheitserziehung, die Initiative „Notebooks im Schulranzen“, der Förderung der Musikkultur bei Kindern, dem Projekt „Wirtschaft in der Schule“, der „Toolbox Bildung“ bis zu den Projekten „Eigenverantwortliche Schule und Qualitätsvergleich in Bildungsregionen“. Unter dem Titel „SEIS macht Schule“ bietet die Bertelsmann Stiftung den Schulen ein Selbstevaluations- und Steuerungsinstrument an, das den (Zitat) „Entwicklungsprozess einer Schule zielgerichtet, effizient, systemisch und nachhaltig“ voranbringen soll. Ein Netzwerk von weit über 1000 sog. innovativen Schulen in 16 Bundesländern ist schon aufgebaut.
Die Bertelsmann Stiftung verfolgt die Idee eines Niedriglohnsektors und war an der Ausgestaltung des früheren Bündnisses für Arbeit, der Agenda 2010 und von Hartz IV wesentlich beteiligt.
Die Bertelsmann Stiftung hat es vermocht, ein enges personelles und organisatorisches Netzwerk zu einflussreichen Personen aus Kultur, Wissenschaft und Politik bis zu den Bundespräsidenten, vor allem zu Roman Herzog, zu flechten. Bei Bertelsmann absolvierten Schröder, Fischer, Merkel pünktlich ihre Antrittsbesuche.
Und es ist ja nicht unter der Decke geblieben, dass die beiden „Grandes Dames“ des deutschen Medienwesens Liz Mohn und Friede Springer in freundschaftlicher Verbundenheit zu Angela Merkel stehen.
Bertelsmann organisierte die 30 Millionen-Kampagne „Du bist Deutschland“ mit.
Sicher, Bertelsmann stand nicht allein, da waren die Arbeitgeberverbände, da war die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, da war der BürgerKonvent und wie die zahllos gewordenen, vom großen Geld finanzierten PR-Agenturen auch alle heißen mögen.
Aber keine dieser Institutionen war so wirkmächtig wie die Bertelsmann Stiftung.
Methoden der „Überzeugungsarbeit“
Die Methoden, die Bertelsmann und das CHE für ihre „Überzeugungsarbeit“ einsetzen, sind im Großen und Ganzen immer dieselben: Gutachten, Konferenzen und Umfragen; besonders beliebt sind Rankings und Benchmarks.
So veranstaltet die Stiftung seit Jahren ein sog. Standort-Ranking, und regelmäßig landet Deutschland als Schlusslicht. Und regelmäßig ist die Schlussfolgerung, Deutschland brauche weniger Staat, eine Senkung der Staatsquote, einen Umbau des Sozialstaats, niedrigere Löhne und vor allem niedrigere Lohnnebenkosten, Deregulierung und vor allem weniger Kündigungsschutz.
Nahezu alle Aktivitäten stehen im Dienste des Bertelsmannschen Verständnisses von der Förderung des „Gemeinwohls“, und das heißt konkret der Förderung „gesellschaftlichen Wandels“ und von „Reformen“ in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Dies alles gemäß der Bertelsmannschen „Überzeugung, dass Wettbewerb“ und „die Prinzipien unternehmerischen Handelns zum Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft“ die wichtigsten Merkmale sind. Indem (Zitat) „die Grundsätze unternehmerischer, leistungsgerechter Gestaltung in allen Lebensbereichen zur Anwendung gebracht werden“, soll das Regieren besser werden, und dies wiederum alles und stets nach dem Prinzip (Zitat) „so wenig Staat wie möglich“.
„Reformmotor“ Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann Stiftung
Das CHE hat sich bislang als einer der antriebsstärksten „Reformmotoren“ der Bertelsmann Stiftung erwiesen. Auch bei den Hochschulreformen geht es Bertelsmann um die Mission von weniger Staat, mehr Wettbewerb, unternehmerische Leitungsstrukturen und mehr betriebswirtschaftliche Effizienz. Ziel ist die „entfesselte Hochschule: autonom, wissenschaftlich und profiliert, wettbewerbsfähig und wirtschaftlich, international und aufgeschlossen gegenüber neuen Medien.“
Speziell dem CHE ist es gelungen, für nahezu alle Parteien ein unersetzlicher Gesprächs- und Vortragspartner zu werden; es hat sich in die Rolle eines „spiritus rectors“ für nahezu alle Wissenschaftsministerien und alle Parlamente aufschwingen können.
Nicht zuletzt werden die Botschaften über die zum Bertelsmann-Konzern gehörenden meinungsprägenden Medien verkündet. „Die Zeit“ und der „stern“ dienten als Medienpartner des CHE bei den Hochschulrankings. Und natürlich greift der über Gruner + Jahr mit Bertelsmann verflochtene „Spiegel“ mit seinem „Uni-Spiegel“ die Argumente besonders gerne auf. Der dem Konzern mit Dreiviertel-Mehrheit gehörende „stern“ und die „Financial Times Deutschland“ können sowieso nicht anders.
Das CHE arbeitet wie die anderen PR-Agenturen nach dem gleichen Stil. Man erstellt Umfragen und Studien und schafft Medien-„Events“. Die Mainstream-Medien plappern die Ergebnisse des vermeintlich gemeinnützigen und unabhängigen Think -Tanks dann unkritisch wie Papageien nach.
Überall dort, wo kein Markt besteht und damit das Steuerungsinstrument des Wettbewerbs eigentlich nicht funktionieren kann, also vor allem im öffentlichen Sektor, etwa in den Verwaltungen, in der Schule oder bei Hochschulen, musste die Bertelsmann Stiftung wettbewerbliche Steuerungsinstrumente erst noch erfinden. Da dienen dann Rankings und Benchmarks als Fiktion für den Marktwettbewerb.
Das CHE hat so in Deutschland die Hochschulrankings hoffähig gemacht.
Inzwischen veranstaltet Bertelsmann mit bis zu 280 Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz das größte Hochschulranking im deutschsprachigen Raum, und seit geraumer Zeit wird jedes Jahr ein Drittel der gesamten Fächerpalette neu gerankt.
Zusätzlich zu den Hochschulrankings gibt es noch ein CHE-ForschungsRanking, ein CHE-LänderRanking und sogar noch ein CHE-AlumniRanking. Als vermeintlich neutrale Medienpartner dienen die bürgerlich-liberale Hamburger „Zeit“ und der früher als links-liberal geltende „Stern“.
Aus den Rankings sollen sich Qualitätsvergleiche ergeben, und wer am besten abschneidet, soll nach den Vorstellungen der Veranstalter solcher Rankings die Qualitätsmaßstäbe vorgeben. Das Ziel ist, dass sich die schlechter Platzierten im Wettbewerb an den besser Platzierten messen und dadurch eine Qualitätskonkurrenz zur „Entfesselung“ der Hochschulen angestoßen wird. So üben die Rankings einen Konformitäts- und Anpassungsdruck auf alle Hochschulen aus.
Man kann nun lange über die Sinnhaftigkeit von Benchmarks oder Rankings streiten. An einer Tatsache führt jedoch nichts vorbei: Wie bei allen Vergleichsmessungen geht es bei Rankings darum, dass Qualität quantifiziert werden muss. Oder anders: Man muss Qualität in Quantitäten ausdrücken, denn nur so lässt sich vergleichen und messen.
Rankings sollen Objektivität vorspiegeln, und deshalb heben sich solche Evaluierungen ganz bewusst von der Urteilsfähigkeit der Scientific Community, also dem Urteil der Fachkollegen untereinander oder der Einschätzung der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, ab.
Das nordrhein-westfälische Hochschul-„Freiheits“-Gesetz wurde im CHE geschrieben
Die Entstehungsgeschichte des nordrhein-westfälischen „Hochschulfreiheitsgesetzes“ ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich die Politik und der Staat aus ihrer Verantwortung für ein zentrales Feld der Zukunftsgestaltung zurückziehen, dem Einfluss einer privaten Lobbyorganisation nachgeben und sich zur verlängerten Werkbank des Centrums für Hochschulentwicklung degradieren lassen.
Schaut man nämlich einmal genauer hin, woher das dort in Gesetzesform gegossene Konzept vom Rückzug des Staates zugunsten einer „unternehmerischen“ Hochschule stammt, so stößt man auf die sog. „Governance Struktur“ des „New Public Management“-Modells, das vom Bertelsmannschen Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) und dem „Stifterverband für die deutsche Wissenschaft“ – dem wissenschaftspolitischen Arm der Wirtschaft – seit geraumer Zeit der Politik angedient, um nicht zu sagen aufgenötigt wird.
Die Entstehungsgeschichte dieses „Hochschulfreiheitsgesetzes“ ist nicht nur deshalb interessant, weil Nordrhein-Westfalen das Land mit den meisten Hochschulen ist, sondern weil dabei auch der Einfluss des CHE schwarz auf weiß – wie kaum in einem anderen Fall – belegbar ist:
Ende 2005 veröffentlichte der Gütersloher Think-Tank – so wörtlich – „Zehn CHE-Anforderungen an ein Hochschulfreiheitsgesetz für Nordrhein-Westfalen“.
In diesen „Anforderungen“ finden sich teilweise sogar bis in den Wortlaut hinein die Formulierungen wieder, die der nordrhein-westfälische „Innovationsminister“ Pinkwart, ohne jede politische Debatte in seiner Partei, geschweige denn im Landtag, kurze Zeit später auf einer Pressekonferenz am 25. Januar 2006 als seine eigenen „Eckpunkte des geplanten Hochschulfreiheitsgesetzes“ vorstellte.
Die inhaltliche Übereinstimmung beider Papiere ließe sich an vielen Stellen belegen, zwei besonders markante Beispiele sollen hier genügen:
In den CHE-Anforderungen heißt es: „Es geht dabei insbesondere um die Möglichkeit einer Stärkung der körperschaftlichen Seite der Hochschulen bei gleichzeitiger Minderung ihrer Eigenschaft als staatlicher Einrichtung“.
Bei Pinkwart heißt es: „Die Hochschulen werden als Körperschaften des öffentlichen Rechts verselbständigt und sind künftig keine staatlichen Einrichtungen mehr.“
Oder zum Hochschulrat (also dem künftigen Aufsichtsrat):
Wortlaut CHE: „Der Hochschulrat muss … zu einem insbesondere in strategischen Fragen wichtigen Entscheidungsorgan werden. Die Mitglieder sollten extern bestellt werden.“
Wortlaut Pinkwart: „Der Hochschulrat tritt als neues Organ an die Stelle des Kuratoriums und besteht mindestens zur Hälfte aus Mitgliedern von außerhalb der Hochschule…“
Damit aber noch nicht genug:
Zwei Tage nach Pinkwarts Pressekonferenz meldet sich der damalige Leiter des CHE, Detlef Müller-Böling, zu Wort und erteilt dem Minister Zensuren:
“Das CHE begrüßt Eckpunkte für ein NRW-„Hochschulfreiheitsgesetz“, sieht aber noch Entwicklungspotentiale“, heißt es in den CHE-News vom 27. Januar.
Das CHE bewertet dort Pinkwarts Eckpunkte „überwiegend positiv“. „In einigen Punkten erscheinen Modifikationen sinnvoll und der eine oder andere Punkt, der sich in den Eckpunkten bislang nicht findet, kann in dem Gesetz ja durchaus noch angesprochen werden.“
In dieser Tonlage fährt das „Zeugnis“ des CHE fort: Pinkwart „trägt Rechnung“, „richtig ist“, Pinkwart „sollte“ usw. usf..
Mit Verlaub, hier drückt sich eine Anmaßung einer durch nichts als durch das nötige Geld legitimierten privaten Interessensgruppe gegenüber dem Staat, der Regierung und dem Parlament aus, die nach demokratischen Maßstäben eigentlich nicht mehr hinnehmbar ist. Die Politik wird geradezu zum Befehlsempfänger von Bertelsmann degradiert.
Damit aber immer noch nicht genug:
Das nordrhein-westfälische „Hochschulfreiheitsgesetz“ wurde nicht nur am Schreibtisch des CHE entworfen, nach seiner Verabschiedung sollte es auch noch bei seiner Umsetzung von den gleichen „unabhängigen Experten“ begleitet werden, um damit eine (Zitat) “möglichst hohe Qualität bei der Umsetzung zu sichern“.
Nachdem sich also schon der Staat dem Einfluss dieser privaten Lobbyorganisation preisgegeben hat, werden nun auch noch die Hochschulen selbst dem Regime des CHE untergeordnet.
Das hätte sich früher einmal „der Staat“ erlauben sollen, nämlich die Hochschulen bei der Umsetzung eines Gesetzes zum „Erfolg“ zu führen. Der Untergang der Freiheit von Wissenschaft und Forschung und damit der Epoche der Aufklärung wäre von den Hochschulen beschworen worden.
Aber wenn nun einer der mächtigsten und politisch einflussreichsten Konzerne den Hochschulen sagt, was sie zu tun haben, dann scheint das von den Hochschulen ganz selbstverständlich hingenommen zu werden.
Die Hochschulen werden statt den Gesetzen des demokratischen Gesetzgebers den anonymen Gesetzen des Wettbewerbs unterstellt. Den angeblich objektiven und anonymen Zwängen des Wettbewerbs kann und darf sich kein Mitglied der Hochschule, ob Forschender, Lehrender oder Studierender, mehr entziehen.
Die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Forschung und Lehre gegenüber dem Staat und die selbstverwaltenden Strukturen der in Angelegenheiten der Wissenschaft autonomen Hochschule werden durch die Entlassung der „unternehmerischen“ Hochschule in die Freiheit des Wettbewerbs im Sinne Schumpeters „schöpferisch zerstört“, und Freiheit wird als die Freiheit zur Durchsetzung auf dem Ausbildungs- und Wissensmarkt umdefiniert.
Die horizontalen Strukturen von Interessenvertretung, akademischer Selbstverwaltung und kooperativen Hochschulleitungen werden durch eine neuartige, zentralistische Aufsichtsrat-Management-Direktionsstruktur ersetzt. Die Hochschulen gleichen sich so auch formal dem Leitbild gewerblicher Unternehmen an.
Privatisierung der Politik
Wer nun meint, Düsseldorf sei eben nicht so weit weg von Gütersloh und es sei doch ganz schön, dass sich ein nordrhein-westfälischer Think-Tank um Landesangelegenheiten kümmert, der verharmlost die Situation.
Das CHE bewertet in gleicher Weise das neue Hochschulgesetz in Sachsen und auch anderswo.
Das CHE füllt die in unserer Verfassung nicht vorgesehene Rolle eines Bundeshochschulministeriums aus – ein informelles Ministerium, das allerdings nicht dem Parlament, sondern nur der Bertelsmann Stiftung rechenschaftspflichtig ist. Der Autor des Buches „Hinter der Fassade des Medienimperiums“, Frank Böckelmann, nennt das „eine Privatisierung der Politik“.
Natürlich ist es nach wie vor richtig, dass Bertelsmann die Gesetze nicht selber verabschiedet, sondern dass diese von der Exekutive oder der Legislative vorgelegt und vom Parlament verabschiedet werden. Aber über die Meinungsmacht und über die personellen Netzwerke wird der „Reformmotor“ Bertelsmann zur eigenständigen politischen Antriebskraft, der auch außerhalb der Parlamente eine Art Eliten-Konsens schafft – und dabei nebenbei auch noch ein positives Image für den Konzern erzielt.
Es ist das Recht eines jeden Unternehmers, der meint, etwas zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen zu können, eine Stiftung zu gründen und Themen bearbeiten zu lassen. Dass sich dabei Gleichgesinnte treffen, wird jeweils unvermeidlich sein. Es ist auch das gute Recht einer jeden Regierung, denjenigen mit einer Politikberatung zu beauftragen, der ihr politisch sympathisch ist.
Doch wer öffentliche Aufgaben erfüllt, Gesetze verändern will, die in Gestaltungsrechte und Lebenschancen von Millionen Bürgern eingreift, der muss sich der öffentlichen Auseinandersetzung stellen. Die Mitwirkenden müssen ihre gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Ziele offenlegen, die Öffentlichkeit muss den Prozess nachvollziehen und erkennen können, wer welchen Einfluss ausübt und welche Konsequenzen das Vorgehen hat.
Das geradezu paradoxe am Verhalten der Bertelsmann Stiftung ist, dass sie zwar überall nach Wettbewerb ruft, diesen Wettbewerb aber bei sich selbst konsequent verhindert.
Das erreicht sie nicht nur, indem sie „ausschließlich operativ“ arbeitet, d.h. nur ihre von ihr selbst initiierten Projekte fördert und keine Projektanträge von außerhalb zulässt, also wissenschaftlichen Pluralismus satzungsmäßig ausschließt, sondern indem sie darüber hinaus sich vor keinem Parlament und keinem Rechnungshof, ja nicht einmal vor einem Aufsichtsrat, der wenigstens unterschiedliche Interessen von Kapitalanlegern vertreten könnte, für den Einsatz ihrer Gelder und die damit verfolgten Ziele rechtfertigen muss.
Die Netzwerkarbeit und Projektentwicklung der Bertelsmann Stiftung ist so angelegt, dass sich die Akteure gar nicht mehr mit Gegenmeinungen und Kritik auseinandersetzen, dass sie Kritik in einer Haltung der Selbstgewissheit an sich abprallen lassen können und so auftreten, als hätten sie die Richtigkeit und Wahrheit ihrer Konzepte von vorneherein und zweifelsfrei erkannt.
Nicht dass man die Argumente Andersdenkender übernehmen müsste, aber Kritik wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen ist etwas anderes, als sie totzuschweigen bzw. über seinen Einfluss über die Medien einfach mundtot zu machen.
Das Spektrum der Öffentlichen Meinung und der Politik wurde so nicht etwa erweitert, sondern im Gegenteil verengt und in einer Weise kanalisiert, wie es offen ausgewiesene Interessengruppen – wie z.B. Industrieverbände oder die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – kaum zu erreichen vermögen.
Unter dem Zwang der leeren öffentlichen Kassen und unter dem beschönigenden Etikett eines „zivilgesellschaftlichen Engagements“ greift der Staat die „gemeinnützigen“ Dienstleistungen privater Think-Tanks nur allzu gerne auf.
Ja mehr noch, er zieht sich aus seiner Verantwortung immer mehr zurück und überlässt wichtige gesellschaftliche Bereiche wie etwa die Bildung oder die Hochschule gleich ganz den Selbsthilfekräften bürgerschaftlichen Engagements.
Die Rollenverteilung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen bei diesem „Dienst an der Gemeinschaft“ ergibt sich dabei ziemlich naturwüchsig daraus, was eben der Einzelne mit seinem bürgerschaftlichen Engagement zu leisten vermag.
Diejenigen, die nicht so viel Geld und Vermögen haben, machen Sozialarbeit, also Altenpflege oder Übungsleiter im Sportverein. Die Vermögenden vergeben Forschungsaufträge oder Stiftungslehrstühle, oder sie stiften gleich ganze Denkfabriken und prägen damit den Gang der Wissenschaft oder den gesellschaftlichen Diskurs – und bestimmen so die gesellschaftliche und die politische Weiterentwicklung.
Diese „zivilgesellschaftliche“ Macht stützt sich ausschließlich auf Reichtum und Vermögen. Darauf, dass eben zum Beispiel der Bertelsmann-Konzern und seine Stiftung mehr Geld zur Verfügung hat als jede andere private und staatliche Institution, um Expertisen und Gutachten erstellen zu lassen, Kongresse zu veranstalten, Studien zu machen, um die Mission ihres Stifters zu verbreiten.
Demokratisch legitimierte Macht im Staate wird so mehr und mehr durch Wirtschaftsmacht zurückgedrängt, ja sogar teilweise schon ersetzt.
Aus privaten Netzwerken und Drahtziehern der Macht werden tatsächliche Machthaber. So hat sich inzwischen eine private institutionelle Macht des Reichtums herausgebildet, die streng hierarchisch organisiert ihren Einfluss über das gesamte politische System ausdehnt, die Machtverteilung zwischen Parteien, Parlamenten und Exekutive unterwandert und gleichzeitig die öffentliche Meinung prägt.
Systemwechsel von der Demokratie zur Herrschaft des großen Geldes
Diese Art von Zivilgesellschaft befördert nicht nur die ohnehin bestehende extreme materielle Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Vor allem schließt dieser Weg – anders als im Modell des Mehrheitsprinzips in der Demokratie vorgesehen – die große Mehrheit der weniger wohlhabenden Bevölkerung von der politischen Teilhabe und der Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Zukunft mehr und mehr aus.
Die Timokratie – also die Herrschaft der Besitzenden – droht die Demokratie abzulösen.
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