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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Schulen im Würgegriff – Überlegungen zur staatlichen und privatwirtschaftlichen Umklammerung des öffentlichen Schulwesens
Datum: 16. September 2016 um 9:25 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Lobbyismus und politische Korruption, Schulsystem, Wertedebatte
Verantwortlich: Jens Berger
Hierzulande geht es den öffentlichen Schulen in vielerlei Hinsicht ähnlich wie den alleinerziehenden Müttern, die von Hartz IV leben müssen: Sie werden finanziell äußerst knappgehalten,[1] stark kontrolliert, mit Erwartungen überhäuft und zur Einhaltung vieler neuer Vorschriften verpflichtet. Mit anderen Worten haben wir es in beiden Fällen mit einem “Vater Staat” zu tun, der in einer sehr bevormundenden Weise deutlich mehr fordert als fördert. Von Magda von Garrel[*].
Nun ist es zunächst einmal nicht außergewöhnlich, dass ein Geldgeber bestimmt, wie und wofür das von ihm zur Verfügung gestellte Geld ausgegeben wird. Allerdings ist seit einigen Jahren ein immer krasser werdendes Missverhältnis zwischen dem Finanzierungsvolumen einerseits und dem daraus abgeleiteten Gestaltungsrecht andererseits festzustellen. Als Folge dieser Entwicklung haben viele Schulen ihre Belastungsgrenzen bereits erreicht oder diese sogar schon überschritten.
Ein grundlegender Richtungswechsel ist trotzdem nicht in Sicht, weil bislang nur denjenigen Schulen nennenswerte Entlastungen gewährt worden sind, denen es mit Hilfe von Brandbriefen gelungen ist, für mediale Aufmerksamkeit zu sorgen. Auch die – zumindest in finanzieller Hinsicht gegebene – Besserstellung der Gymnasien kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der deutsche Staat (bzw. die für die Regelung der schulischen Angelegenheiten zuständigen Länderministerien) insgesamt nicht gut mit seinen Schulen umgeht.
Umso frappierender ist es, dass von Seiten der Bildungspolitiker/innen (und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Belange der benachteiligten und/oder behinderten Kinder) ständig auf die enorme Bedeutung der Bildung (vor allem der primären Bildung) hingewiesen wird. Angesichts der zu solchen Statements nicht passenden Rahmenbedingungen stellt sich sofort die Frage, wie ernst die für die schulpolitische Gestaltung Verantwortlichen das von ihnen selbst propagierte Anliegen eigentlich nehmen.
Diese Frage ist auch deshalb wichtig, weil sich seit einiger Zeit die Anzeichen mehren, die darauf hindeuten, dass sich das staatliche Handeln mittlerweile immer stärker an den Interessen der Wirtschaft als an den Interessen der Kinder orientiert. Dabei handelt es sich zum jetzigen Zeitpunkt um eine teilweise noch ungesicherte Aussage und solange es hierfür keine in jeder Beziehung unstrittigen Beweise gibt, können etliche der darauf abzielenden Überlegungen nur spekulativ sein. Dennoch ist es meines Erachtens sinnvoll, sich darauf einzulassen, um der sich abzeichnenden Entwicklung etwas entgegensetzen zu können.
Im Sinne einer Annäherung an die hier vermuteten Präferenzen sollen im vorliegenden Beitrag vier “schulbedrängende” Aspekte näher beleuchtet werden. Dabei stehen zunächst die großen Erschütterungen, denen die Schulen in den letzten Jahrzehnten ausgesetzt gewesen sind, im Mittelpunkt der überblicksartigen Betrachtungen. Hieran anschließend geht es um die Frage, wie es (insbesondere im Hinblick auf die Grundschulen) um die zur Verfügung stehenden Ressourcen bestellt
ist. Vor diesem Hintergrund sollen in den beiden nachfolgenden Kapiteln die von der Werbung bis zur (Teil-)Übernahme des öffentlichen Schulwesens reichenden privatwirtschaftlichen Initiativen angesprochen werden.
Zu der hier eingenommenen Perspektive gehört auch die Frage, wie bzw. ob sich ein Rückzug des Staates aus dem öffentlichen Schulwesen ohne nennenswerten Widerstand organisieren ließe. Da sich derartige Überlegungen aber noch unvollständiger als die Privatisierungstendenzen belegen lassen, sollen diese der abschließenden Interpretation vorbehalten bleiben.
Schulpolitische Offensiven
Neben anderen tiefgreifenden Veränderungen (Stichwort Ostpolitik) steht die Ära Brandt für die erste größere schulpolitische Umwälzung der Nachkriegszeit. Neue Schulformen und Bildungswege wurden eingerichtet, um auch denjenigen Kindern bessere Lebensperspektiven eröffnen zu können, die bislang davon ausgeschlossen waren. Im Zuge der damaligen Aufbruchstimmung fanden darüber hinaus viele Diskussionen über Unterrichtsinhalte und -methoden statt, deren Ergebnisse (zumindest teilweise) ebenfalls umgesetzt wurden. Davon profitierten nicht zuletzt die Grundschulen, denen etliche (reformpädagogische) Freiheiten zugestanden wurden.
Von einem allgemeinen Einverständnis mit den Neueinführungen konnte allerdings keine Rede sein. Ganz im Gegenteil kam es sofort zu heftigen parteipolitischen Grabenkämpfen, die bezüglich der Grundeinstellungen (zur Selektion, zur Benotungspraxis, zur Homogenität etc.) bis heute andauern und sich besonders ungünstig im Falle von Regierungswechseln (vor allem auf Landes-, aber auch auf Bundesebene) auswirken. Die neu in der Verantwortung stehenden Parteien sind in aller Regel bestrebt, wichtige bildungspolitische Entscheidungen der Vorgängerregierung(en) wieder rückgängig zu machen oder doch zumindest anders zu akzentuieren.
Vor allem in Hessen ist seit einigen Jahren zu beobachten, dass derartige Versuche oft mit ganz modern anmutenden Versatzstücken kombiniert werden, woraus sich eine zusätzliche Verwirrung ergibt. So sieht die dort neu erdachte Mittelstufenschule auf den ersten Blick wie ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Überwindung der Selektion aus, während sie tatsächlich von Anfang an darauf angelegt gewesen ist, der von der hessischen CDU zäh verteidigten Hauptschule durch Vorhalten einer auch so bezeichneten Abschlussmöglichkeit ein zumindest partielles Überleben zu sichern.[2]
Letztgenanntes Beispiel fällt allerdings schon in die mit dem Jahr 2000 einsetzende “PISA-Zeit”, in der das für die Schulen ohnehin abträgliche parteipolitische Gezerre ungeahnte Ausmaße angenommen hat. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch das schlechte Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler bei den von der OECD konzipierten Schulleistungstests, das ein so großes öffentliches Echo gefunden hat, dass danach sozusagen kein Stein mehr auf dem anderen geblieben ist und sich die Bildungsministerien veranlasst (oder ermutigt) sahen, ohne Absprache mit den davon Betroffenen eine Reform nach der anderen durchzupeitschen.
Dieser schon blind zu nennende Reformeifer wurde so weit auf die Spitze getrieben, dass selbst die sich üblicherweise eher still-resigniert verhaltenden Lehrerinnen und Lehrer lautstark ein Ende der Reformen forderten, woraufhin es tatsächlich vielerorts zur Ausrufung eines “Schulfriedens” gekommen ist. Allerdings war von vornherein klar, dass das “Friedensangebot” nur ein Verharren auf dem jeweils erreichten Stand und nicht etwa die Einleitung eines Kurswechsels beinhaltete.
Und dieser Stand hat es wirklich in sich. Unter Berufung auf die PISA-Ergebnisse sind die Bemühungen, das Unterrichtsgeschehen in eine mess- und (überall) vergleichbare Form zu pressen, mittlerweile schon sehr weit gediehen. Parallel hierzu ist es zur Einführung betriebswirtschaftlicher Kategorien gekommen, die den Schulen nicht nur eine Fülle englischsprachiger Business-Begriffe, sondern auch viele zusätzliche Berichtspflichten beschert hat. Mit Hilfe der dadurch in Gang gesetzten innerschulischen Selbstkontrolle ist es gelungen, den Inspektionsradius deutlich zu erweitern.[3]
Dazu passt, dass sich die Schulleiterinnen und Schulleiter nicht länger als Erste unter Gleichen verstehen sollen, sondern als Vorgesetzte mit Managementaufgaben und -befugnissen, zu denen Beurteilungen von Kolleginnen und Kollegen ebenso gehören wie die Möglichkeit, autoritäre Top-Down-Entscheidungen treffen zu können. Die Folgen dieser (ebenfalls “von oben” durchgedrückten) Maßnahmen zeigen sich in Form eines häufigen Ausbleibens des viel beschworenen Team-Geistes, was neben der wenig verlockenden Gehaltszulage einer der Gründe für die derzeit oft unbesetzt bleibenden Schulleiterstellen sein mag. Schließlich ist nicht jede/r potenzielle Kandidatin/Kandidat von der Aussicht begeistert, sich in Ausübung der neuen Rechte und Pflichten bei den Kolleginnen und Kollegen oftmals unbeliebt machen zu müssen.[4]
Das an betriebswirtschaftliche Abläufe angelehnte Verständnis von Schulen hat natürlich auch Auswirkungen auf deren Kernbereich, d. h. auf den Unterricht und dessen Inhalte und Gestaltung. Stellvertretend für die vielen hierzu gehörenden Vorgaben soll an dieser Stelle auf die neue übergeordnete Leitlinie, die (auch sprachlich) bezeichnenderweise in einer “Output-Orientierung” besteht, hingewiesen werden. Höchstes Ziel ist demnach, die Schülerinnen und Schüler so früh und passgenau wie möglich für den späteren Arbeitsmarkt fit zu machen.[5]
Um der von der Wirtschaft erwünschten Anbahnung nachkommen zu können, sind die Lehrpläne – vor allem hinsichtlich “technischer” Inhalte – erweitert und anschließend bis zur Unkenntlichkeit in Module aufgesplittert worden. In diesem Kontext erfüllt auch die relativ häufige Durchführung der neu eingeführten Tests und Vergleichsarbeiten ihren ganz spezifischen Zweck, indem sie die Schülerinnen und Schüler an eine permanente Leistungserbringung und -kontrolle gewöhnt.
Vor diesem Hintergrund muss selbst die als größter Erfolg gefeierte Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen kritisch gesehen werden. Damit ist allerdings nicht so sehr die nie erwogene Einbeziehung der Gymnasien gemeint, sondern die Überlegung, dass ein bloßes Zusammenschmelzen zweier Schulformen nicht mit einer sofortigen Aufhebung der selektionsbedingten Stigmatisierungen gleichzusetzen ist. Wenn Kinder in der soeben beschriebenen Art und Weise unterrichtet werden, nimmt sowohl das Konkurrenzdenken als auch die Angst vor einem Versagen zu. In einer derart aufgeheizten Atmosphäre können spezielle Fördermaßnahmen nicht viel ausrichten oder (wegen ihrer Sichtbarkeit) sogar zu einer Verstärkung der Abgrenzungstendenzen beitragen.
Wie eine scheinbare Anerkennung der geleisteten Arbeit wurden den Schulen neue Freiheiten in Form selbstständig zu verwaltender Schulbudgets sowie eines Rechts auf Einstellungen und Entlassungen zugestanden, die aber in Anbetracht der kümmerlichen Budgets nur in sehr begrenztem Maße vorgenommen werden können. Überhaupt drängt sich angesichts des Auseinanderklaffens von offiziellen Verheißungen und tatsächlichen Wirkungen der Eindruck auf, dass etliche der staatlichen Eingriffe in bester “Hessen-Manier” erfolgt sind, d.h. im Sinne eines Verbergens ganz anders gearteter Absichten unter einem aus konsenstauglichen Etikettierungen bestehenden Deckmantel.
Neben den zuvor bereits angedeuteten Widersprüchen (beschworener Gemeinschaftsgeist einerseits und den bei Schülern und Lehrern tatsächlich zu beobachtenden Absetzbewegungen andererseits) soll hier vor allem auf die als Hauptargument aller Veränderungen angeführte “Zukunftsfähigkeit” der Kinder etwas genauer eingegangen werden. Von staatlicher Seite wird dabei natürlich gern auf die kontinuierlich verbesserten Positionen der deutschen Schülerinnen und Schüler im PISA- oder IGLU-Ranking verwiesen. Einmal abgesehen von den inzwischen nicht mehr zu leugnenden (bzw. geleugneten) Schwächen der PISA-Testkonstruktionen ist mit dem besser gewordenen Abschneiden noch längst nicht die Frage beantwortet, ob die tiefgreifenden schulischen Umwälzungen den Schülern (und zwar insbesondere den immer wieder ins Feld geführten benachteiligten Schülern) wirklich zugutekommen.
Dagegen spricht, dass die Quote derjenigen Schülerinnen und Schüler, die wegen ihrer (wodurch auch immer verursachten) Lerndefizite keinen Abschluss geschafft haben, nach wie vor hoch ist. Und ob das auf Testwissen fokussierte und somit nicht auf das Erkennen von Zusammenhängen angelegte Lernen die beste Voraussetzung für die Entwicklung einer starken, empathiefähigen, mündigen und gemeinwohlorientierten Persönlichkeit ist, kann ebenfalls bezweifelt werden.
Umso bedauerlicher ist, dass sich – ungeachtet aller sonstigen parteipolitischen Zwistigkeiten – im Verlauf der totalen Umkrempelung unseres Schulwesens einige parteiübergreifende Grundüberzeugungen herausgebildet haben. Dazu zählt der (bildungswissenschaftlich oft gestützte) Glaube an die Effizienz eines unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten umgestalteten Schulwesens ebenso wie die Überzeugung, dass sich Armut in großem Stil über bildungsgenerierte Aufstiege überwinden lässt.[6]
Unabhängig von der Frage, wie realistisch eine solche Vorstellung ist, kann sie auch als Beispiel für die immer größer werdenden Erwartungen, die in den letzten Jahren an die Schulen (vor allem an die Grundschulen) herangetragen worden sind, verstanden werden. So sollen Lehrerinnen und Lehrer die bei vielen Kindern feststellbaren armutsbedingten Defizite möglichst umfassend ausgleichen, indem sie zusätzliche erzieherische und/oder sozialarbeiterische Funktionen übernehmen.
Die nach außen hin sichtbarsten Veränderungen bestehen in der Einrichtung offener oder gebundener Ganztagsschulen sowie in der vermehrten Aufnahme behinderter Kinder in die sog. Regelschulen (Inklusion). In beiden Fällen handelt es sich um Großprojekte, die den zuvor schon arg “reformgebeutelten” Schulen als weitere, neu zu bewältigende Aufgaben zugewiesen worden sind.
Dabei ist insbesondere die Einführung der inklusiven Beschulung ziemlich leichtfertig verlaufen. Ohne größere Vorbereitung der (Regelschul-)Lehrerinnen und Lehrer auf die völlig neuartigen Anforderungen bekamen sie Kinder zugewiesen, deren spezielle Bedürfnisse sie kaum oder gar nicht kannten. Die hierfür gewährte sonderpädagogische Unterstützung hielt (und hält) sich sehr in Grenzen und von einer durchgängig praktizierten Doppelbesetzung (zwei permanent anwesende Lehrer pro Inklusionsgruppe) konnte (und kann) erst recht keine Rede sein.
Ungeachtet dieser schlechten Voraussetzungen wird von den Schulen aktuell auch noch erwartet, dass es ihnen schnell gelingt, die Flüchtlingskinder zu integrieren. Die dafür eigentlich erforderliche Weiterbildung (Vermittlung von Kenntnissen zum Umgang mit traumatisierten Kindern oder zur Bedeutung spezieller kultureller Gepflogenheiten) wird allerdings nur in ganz kleinen Häppchen verabreicht, weshalb die betroffenen Lehrerinnen und Lehrer größtenteils (erneut) gezwungen sind, sich das für eine sinnvolle Arbeit notwendige Basiswissen nebenher selbst anzueignen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die deutschen Schulen vor allem seit Beginn dieses Jahrhunderts mit großen Veränderungen und Aufgaben fertig werden mussten, ohne jemals ausreichend vorbereitet und unterstützt oder auch nur gefragt worden zu sein. Dabei herausgekommen ist ein Schulsystem, das den vollmundigen Ankündigungen (Hilfe für die gesellschaftlich Benachteiligten) nicht gerecht zu werden vermag, sondern mehrheitlich – wenn überhaupt – denjenigen Schülerinnen und Schülern Vorteile verschafft, die ohnehin über bessere Startbedingungen verfügen. Hinzu kommt, dass ein auf Wettbewerb ausgerichtetes Schulsystem nicht gleichzeitig kindgerecht und human sein kann.
Unzureichende Ressourcen
Angesichts der die Schulen schier erdrückenden Aufgabenfülle sollte man meinen, dass staatlicherseits alles getan wird, um zumindest in finanzieller Hinsicht für eine bestmögliche Unterstützung zu sorgen. Tatsächlich haben wir es in Deutschland mit einer chronischen Unterfinanzierung des Bildungswesens zu tun, wobei ausgerechnet die primären Bildungseinrichtungen besonders schlecht wegkommen.
Das von Klaus Klemm im Auftrag des Grundschulverbandes erstellte Gutachten[7] weist zwar eine im Vergleich zum Jahr 2000 zwischenzeitlich erfolgte Ausgabensteigerung um gut 155% (Stand 2013) nach, kann aber trotzdem nicht als Beleg einer endlich ausreichenden finanziellen Unterstützung gelten. Dagegen sprechen viele der ebenfalls ermittelten Fakten:
Im Vergleich zu anderen Industrienationen gibt Deutschland noch immer zu wenig Geld für seine (Grund-)Schüler aus, was u. a. mit der relativ niedrigen Wochenstundenzahl zusammenhängt. Hinzu kommt, dass es große Unterschiede zwischen den Bundesländern und sogar innerhalb einzelner Bundesländer gibt. Aus diesem Grund kann der Anspruch aller Kinder auf gleiche Lebensbedingungen in Deutschland nicht einmal annähernd als erfüllt betrachtet werden.
Mindestens ebenso bedeutsam ist der Hinweis, dass die Erhöhung der zur Verfügung gestellten Finanzmittel von den neu hinzugekommenen und sehr umfangreichen bzw. aufwändigen Aufgaben (Betrieb von Ganztagsschulen sowie Durchführung unterstützender Maßnahmen für arme, behinderte und geflüchtete Kinder) mehr oder weniger “aufgefressen” wird.
In der Praxis läuft dieser Befund auf ein Weiterleben mit den altbekannten Übeln hinaus: zu wenig Zeit, zu wenig Lehrer und zu wenig (in einem guten Zustand befindliche) Räume. Damit sind allerdings erst einmal nur die gröbsten Defizite aufgezählt worden.
Zu den “Standardübeln” gehört beispielsweise auch der häufige Einsatz der (immer noch viel zu selten abgeordneten) Förderlehrerinnen und -lehrer als Vertretungskräfte oder die sich aus der Situation ergebende Notwendigkeit, Unterricht in niemals studierten Fächern erteilen zu müssen.
In manchen Punkten ist es mittlerweile sogar zu einer Verschärfung der gewohnten “Mängelverwaltung” gekommen. So wurden – um wenigstens ein ganz konkretes Beispiel zu nennen – viele Schulen mit Kopierern ausgestattet, die nur noch mit persönlich vergebenen Codes bedient werden können. Auf diese Weise lässt sich relativ leicht ermitteln, welche/r Kollegin/Kollege wie viel Abzugspapier in welcher Zeit verbraucht hat.
Motivierend ist ein solcher Umgang mit erwachsenen Menschen sicherlich nicht. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage der unterschiedlichen Bezahlung angesprochen werden: Ausgerechnet die an der Basis des Bildungssystems Tätigen, die inzwischen zahlreiche und sehr arbeitsintensive “Baustellen” zu beackern haben, beziehen die geringsten Gehälter und müssen dafür am längsten arbeiten. Besonders wenig verdienen die angestellten Lehrerinnen und Lehrer sowie die in atypischen Arbeitsverhältnissen stehenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Das Beispiel Baden-Württemberg zeigt, zu welchen Auswüchsen es in dieser Hinsicht mittlerweile gekommen ist. Ausgerechnet in diesem relativ reichen Bundesland wird besonders oft die Unsitte praktiziert, (Vertretungs-)Lehrer zu Ferienbeginn zu entlassen und sie dann am Ende der Ferien (als ziemlich schlecht bezahlte Tarifbeschäftigte des Landes) wieder einzustellen. Die erzwungene Arbeitslosigkeit stellt nicht nur für die in Unsicherheit gehaltenen Lehrkräfte ein großes Problem dar, sondern wirkt sich selbstverständlich auch auf die Planungsmöglichkeiten der davon betroffenen Schulen aus.[8]
Die Liste der faktischen (und taktischen?) Missstände ließe sich noch lange fortsetzen, aber schon jetzt dürfte klar sein, dass Lehrer hierzulande (und das gilt in abgeschwächter Form auch für die Sekundarstufen- und Gymnasiallehrer) nicht sonderlich geschätzt werden und – ungeachtet gradueller Unterschiede – in einem insgesamt unterfinanzierten Schulsystem arbeiten müssen. Zudem werden sie nur schlecht oder gar nicht auf die Erledigung der vielen ihnen neu zugemuteten Aufgaben vorbereitet und haben vor allem kaum Zeit, sich in dem eigentlich erforderlichen Maße um diejenigen Schülerinnen und Schüler zu kümmern, um deren Chancenverbesserung es angeblich doch ganz zentral gehen soll.
Werbende Nothelfer
Auch wenn noch nicht einmal das zusätzlich stark belastende Auftreten von “Helikopter-Eltern” zur Sprache gebracht worden ist, kann davon ausgegangen werden, dass sich zwischenzeitlich viel Unmut in den Schulen angesammelt hat. Hinzu kommt die mit einem ständigen schlechten Gewissen einhergehende tagtägliche Erfahrung, selbst bei Anspannung aller Kräfte den Bedürfnissen vieler Schülerinnen und Schüler einfach nicht gerecht werden zu können.
Angesichts der vielen sich daraus ergebenden Nöte ist es kaum verwunderlich, dass beinahe jede Art von Hilfe begrüßt wird. Diese Konstellation haben sich diverse Wirtschaftsunternehmen auch ganz direkt zunutze gemacht, indem sie als (hier so bezeichnete) “werbende Nothelfer” in Erscheinung getreten sind.
Dabei stand zunächst die Teil- oder Komplettfinanzierung lang ersehnter Wunschprojekte, die aus Geldmangel nie ernsthaft umgesetzt werden konnten, im Vordergrund der Sponsorentätigkeit (Beispiel: Schulhofbegrünung). Bald darauf wurde auch der Mangel an Zeit als großes innerschulisches Problem erkannt, was der (heutzutage schon inflationär zu nennenden) Produktion firmeneigener Lehr- und Lernmittel Tür und Tor öffnete.
Direkte finanzielle Zuwendungen in Form bloßer (allerdings mit viel Tamtam überreichter) Schecks kommen wie die Sachspenden (z.B. Schaukeln) inzwischen nicht mehr so häufig vor. Das zeigt auch die nachfolgende “Spendenliste”, die auf zufällig entdeckten firmeneigenen Hinweisen oder auf “Gefälligkeitsartikeln” in Werbezeitungen beruht und somit nicht mehr als einen bruchstückhaften Einblick gewähren kann. Eine andere Einschränkung ergibt sich durch die Konzentration auf das Jahr 2009. Dennoch dürfte die Auflistung geeignet sein, sowohl den Ideenreichtum der Spender als auch die Spannbreite des finanziell nicht gedeckten Bedarfs vieler Schulen zu veranschaulichen:
Soweit die zur Veranschaulichung zusammengestellte kleine Liste, aus der sich weitere bedeutsame Fakten allerdings nicht herauslesen lassen. Dazu zählen u. a.:
Da es sich insbesondere bei den großen fremdfinanzierten Veranstaltungen zumeist nicht um singuläre, sondern um alljährlich stattfindende Ereignisse handelt, liegt die Frage nach dem “Spendernutzen” nahe. Vordergründig scheinen Imagegewinne, Steuerreduzierungen oder der erhöhte Absatz firmeneigener Produkte eine bedeutende Rolle zu spielen, aber tatsächlich reichen die nutzbringenden Resultate der “milden Gaben” noch viel weiter.
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen die Schüler und zunehmend auch die “Kita-Kinder”. Angesprochen und erreicht wird diese Zielgruppe über Werbesendungen im Fernsehen, über Elterninitiativen und – was einen besonders positiven Eindruck hinterlässt – über finanzielle Zuwendungen, die es Schulen und Kitas ermöglichen, den Kindern etwas zusätzlich Gutes und/oder Aufregendes bieten zu können.
Trotz des sich daraus ergebenden philanthropischen Anstrichs geht es dabei nicht zentral um das Wohlergehen der Kinder, sondern um ihr (auch zukünftiges) Verhalten als Konsumenten, die schon jetzt – abzüglich der armen Kinder – über eine enorme Kaufkraft verfügen.[10] Eine andere (zum Konsumziel passende) frühe Art der Prägung ergibt sich aus der gleichzeitigen Gewöhnung an einen auch spielerisch zu praktizierenden Leistungsgedanken. Jedenfalls fällt auf, dass viele Zuwendungen erst einmal (in Form von Wettläufen und anderen Wettbewerben) “verdient” werden müssen, wodurch die bei Kindern oft vorhandene Bereitschaft, sich für gute Zwecke zu engagieren, pervertiert wird.
Das zweite große Betätigungsfeld der “werbenden Nothelfer” umfasst die Herstellung und Verteilung firmeneigener Informations- und Unterrichtsmaterialien (Broschüren, Leitfäden, Themensammlungen und Online-Portale). Dabei handelt es sich oft um komprimierte Zusammenstellungen von Hintergrundinformationen, die den Lehrerinnen und Lehrern zeitaufwändige eigene Recherchen ersparen. Wenn dann auch noch voll ausgearbeitete Unterrichtseinheiten (einschließlich der zugehörigen Arbeitsblätter) mitgeliefert werden, ist die Bereitschaft, diese im beabsichtigten Sinne einzusetzen, besonders groß.
Mögliche Bedenken werden auch dadurch zerstreut, dass die angebotenen Inhalte den jeweiligen Lehrplänen entsprechen, zumeist keine dick aufgetragenen Werbebotschaften enthalten und sogar ein wenig auf Gegenargumente eingehen. In Fällen, in denen der privatwirtschaftliche Druck bereits so erfolgreich ausgeübt worden ist, dass in den Schulen auch noch ein ökonomisches Grundwissen vermittelt werden muss, kommt als weiteres Problem oftmals hinzu, dass die damit beauftragten Lehrerinnen und Lehrer so gut wie überhaupt keine Ahnung von der Materie haben und dann froh sind, wenn ihnen (z.B. von Finanzdienstleistern oder Versicherungsgesellschaften) die fehlenden Informationen in die Hand gedrückt werden. Dazu kann auch das Angebot gehören, dass der diesbezügliche Unterricht von den zu diesem Zweck rekrutierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Unternehmen gleich selbst gehalten wird.
Spätestens dann ist die Grenze zum Lobbyismus eindeutig überschritten. Die dafür ausschlaggebenden Motive hat Lobby Control (Initiative für Transparenz und Demokratie) in einem offenen Brief an die Bildungsministerinnen und -minister der Länder schon 2013 sehr treffend dargestellt[11]: “Lobbyisten haben die Schulen als Handlungsfeld für sich entdeckt. In den vergangenen Jahren hat die Einflussnahme von Unternehmen und Verbänden auf den Unterricht zugenommen und wird professionell organisiert. Den Akteuren geht es nicht um Bildung, sondern um Meinungsmache und Marketing. Als zukünftige Wähler und Konsumenten sind Kinder und Jugendliche zum Ziel langfristiger und umfassender Lobbystrategien geworden.”
Lobbyismus im “klassischen” Sinne findet (trotz eigentlich nicht mehr gegebener Zuständigkeit für den schulischen Bildungsbereich) auch im Bundestag statt. Nach der von abgeordnetenwatch.de im Dezember 2015 veröffentlichten Liste[12] haben Interessenvertreter/innen von Bertelsmann, der Stiftung Lesen oder der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (siehe nachfolgendes Kapitel) Hausausweise erhalten, die ihnen einen leichten Zugang zu den Abgeordneten ermöglichen, wobei die entsendenden Verbände oftmals auch untereinander verflochten sind.[13]
Obwohl die (auf welchem Wege auch immer) von außen eingeschleusten Informationen fast durchweg einseitig (“arbeitgeberfreundlich”) und manchmal (wie bei den von den Lebensmittelkonzernen angebotenen Materialien) auch irreführend sind (z. B. die Subsumierung von Burgern und Obst unter “fast food”), werden die zu Werbezwecken erstellten Unterrichtsmaterialien noch immer keinen staatlichen Prüfverfahren unterzogen. Dafür kommt es immer häufiger zu staatlichen Allianzen mit Privatunternehmen, die in ganz unterschiedlichen Bereichen angesiedelt sein können. Relativ bekannt sind die gemischt finanzierten Berufsförderungsprojekte, aber Zusammenarbeit findet auch (um beim Lebensmittelsektor zu bleiben) im Rahmen einer “Plattform Ernährung und Bewegung” statt.[14]
Mittlerweile haben derart viele Unternehmen ihren Fuß in der (Schul-)Tür, dass sie hier gar nicht alle aufgezählt werden können. Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die von ihnen angebotenen Dienstleistungen, die weit über das Unterrichtsgeschehen hinausgehen. Deshalb soll hier lediglich eine Überschriftensammlung zum Thema “Schulische Dienstleistungen” übernommen werden, die einer (vermutlich bereits überholten) GEW-Publikation aus dem Jahr 2010 entstammt[15]:
Beim Durchlesen des in Überschriften zusammengefassten Dienstleistungsangebots fällt auf, dass die “Hilfsangebote” in einem engen Zusammenhang mit den von den Schulbehörden durchgepeitschten Reformen stehen. Somit verstärkt sich der Verdacht, dass diese den Schulen tatsächlich auf Betreiben der Wirtschaft aufoktroyiert worden sind und sich die (den staatlichen Behörden besonders eng verbundenen) Unternehmen nun auch noch dafür bezahlen lassen, den Betroffenen bei der Bewältigung der dadurch neu hinzugekommenen Verwaltungs- und Kontrollaufgaben zur Seite zu stehen.
Dabei schrecken sie noch nicht einmal davor zurück, auch in den Fortbildungsbereich einzugreifen. Der mit Abstand größte Skandal besteht allerdings darin, dass den Unternehmen staatlicherseits gestattet worden ist, ihre eigenen Bildungsvorstellungen durchzudrücken und sich anschließend an deren Umsetzung zu bereichern. Mit anderen Worten wird finanzstarken “Externen” relativ viel Geld zugesteckt, das den öffentlichen Schulen zustünde, wobei dieses Vorgehen vielleicht besser als alle anderen verdeutlicht, wie wenig die staatlichen Organe derzeit bereit sind, sich schützend vor ihre eigenen Bildungseinrichtungen zu stellen.
Dass die nicht verhinderte privatwirtschaftliche “Landnahme” bei den Hochschulen schon viel früher stattgefunden hat und inzwischen weltweit auf dem Vormarsch ist, macht die Sache nicht besser. Und in einem Punkt gibt es bei Schulen und Hochschulen schon jetzt eine große Übereinstimmung: Beide Institutionen sind (wenn auch noch in unterschiedlichem Maße) auf “privates” Geld angewiesen. Um dieses zu erhalten, müssen sie bereit sein, betteln zu gehen und/oder sich vor den Karren der Geldgeber spannen zu lassen.
Neoliberale Schulkonzepte
Wie an anderer Stelle bereits angedeutet, kümmern sich die mit Bildungsfragen befassten Stiftungen, von denen es inzwischen ebenfalls sehr viele gibt, nicht so sehr um das (oftmals im Rahmen von Wettbewerben vorgenommene) Verteilen materieller Güter, sondern mehr um die von ihnen gewollte Neuausrichtung des Schulwesens. Man könnte auch so sagen: Während einzelne Unternehmen und Konzerne mit ihren gesponserten Projekten und Materialien das Feld bereiten, geht es den Stiftungen um die (darauf aufbauende) Etablierung eines ihnen genehmen Schulsystems.
Wohin diese Reise gehen könnte, lässt sich an Beispielen wie den US-amerikanischen Charter Schools, den englischen Free Schools oder den von der FDP ins Spiel gebrachten “Bürgerschulen” schon recht gut ablesen.[16] Charter Schools und Free Schools sind Privatschulen, die aber kein Schulgeld erheben müssen, da sie vollständig vom Staat finanziert werden. Vergleichbares gibt es hierzulande insbesondere in Form der in kirchlicher Trägerschaft befindlichen Bildungseinrichtungen.
Bei den nach neoliberalem Muster gestrickten (und von der OECD sehr begrüßten) Schulen haben wir es mit Schulen zu tun, die sich vom Staat aushalten lassen, aber gleichzeitig dessen weitere Schwächung betreiben, indem sie gewinnmaximierende Strategien wie Deregulierung und Bürokratieabbau auch im Bildungsbereich verankern. Daraus ergeben sich ganz neue (und auf den ersten Blick auch durchaus attraktive) “Freiheiten” wie z.B. das Recht auf Selbstbestimmung der Lehrpläne und -inhalte oder das Recht auf freie Auswahl der Lehrkräfte.
Die zugestandene Freiheit bei der Rekrutierung des Personals wird von vielen dieser Privatschulen wie folgt umgesetzt: Neu eingestellte Lehrer, bei denen es sich auch um Aushilfskräfte handeln kann, werden vergleichsweise schlecht bezahlt und erhalten oft nur Ein-Jahres-Verträge. Nicht selten wird die Zahl der zu erteilenden Unterrichtsstunden aufgestockt und/oder die Bezahlung der Lehrer erfolgt (wie es in Florida schon vor Jahren gesetzlich festgeschrieben worden ist) nach dem Abschneiden der Schüler/innen bei den standardisierten Tests, mit denen die in den Bereichen Lesen und Mathematik erbrachten Leistungen gemessen werden.
Ein solches Vorgehen ist allein schon wegen der sehr begrenzten Beurteilungsgrundlage ziemlich fragwürdig. Außerdem kann (wie in den USA bereits geschehen) eine mit Leistungsmessungen verknüpfte “Gehaltsberechnung” dazu führen, dass die Testergebnisse geschönt werden, um nicht den Arbeitsplatz zu verlieren. Eine derartige “Selbsthilfemaßnahme” wird noch verständlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass es in den (im angelsächsischen Raum auch von Großbanken und Hedgefonds betriebenen) Privatschulen keine gewerkschaftliche Vertretung gibt.
Für die Charter Schools gilt darüber hinaus, dass sie – im Gegensatz zu den Public Schools – Schüler abweisen können. Zu den Besonderheiten der englischen Free Schools gehört die ihnen eingeräumte Möglichkeit, Räume in leerstehenden Ladenlokalen, Büros oder Fabriken nutzen zu können.
Die von der Berliner FDP seinerzeit vorgeschlagenen “Bürgerschulen” setzen ganz auf das Prinzip der freien Schulwahl. Zu diesem Zweck haben sich die Freidemokraten für die Einführung von Bildungsgutscheinen stark gemacht, die von den Schülern (bzw. deren Eltern) an der von ihnen bevorzugten Schule eingelöst werden können. Auf der Grundlage der anschließend beim Land Berlin eingereichten Gutscheine bekommen die Schulen einen festen Betrag pro Gutschein ausgezahlt.
Im Unterschied zu den hier vorgestellten angelsächsischen Modellen ging der damalige FDP-Vorschlag noch einen wesentlichen Schritt weiter, indem er es nicht bei Neugründungen von Privatschulen beließ, sondern (unter dem Motto “Privatschulen für alle!”) gleich sämtliche öffentliche Schulen Berlins in die Verantwortung privater Träger (Vereine, Stiftungen oder Kirchen) überführen wollte. Der Deregulierungscharakter der im Zuge dieser Umwandlung in Aussicht gestellten Freiheiten (Budgetfreiheit, Personalfreiheit und Gestaltungsfreiheit) kam vor allem bei der Konkretisierung der damit einhergehenden Absichten zum Vorschein: Arbeitszeitverlängerung für Lehrkräfte und leistungsorientierte Lehrervergütung.
Mit der von Ludger Wößmann im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erstellten Expertise[17] liegt ein für den deutschsprachigen Raum sehr aktuelles neoliberales Bildungskonzept vor. Wenig überraschend ist, dass sich die “Standardelemente” des marktwirtschaftlich favorisierten Schultyps auch in diesem Papier wiederfinden: Größtmögliche Autonomie für die komplett staatlich zu finanzierenden Privatschulen zur eigenverantwortlichen Regelung der Personal- und Budgetangelegenheiten. Dem entspricht (das an öffentlichen Schulen bereits praktizierte) Verständnis der Schulleitungsaufgabe als Managementaufgabe, die das Vorhandensein von Kompetenzen “in Führung, Organisation, Kommunikation und Finanzen” erfordert.
Dreh- und Angelpunkt des von Wößmann vorgelegten Konzepts ist der im Schulwesen überall zu verankernde bzw. zu verstärkende Wettbewerb. Konkret ist damit vor allem die (vom Staat zu organisierende) deutschlandweite Durchführung externer Zwischen- und Abschlussprüfungen gemeint.
Diese an den Staat delegierte Aufgabe kennzeichnet das in der Expertise skizzierte Verständnis der vom Staat einzunehmenden Rolle: Konzentration auf die den Wettbewerb fördernden Rahmenbedingungen. Neben den eben erwähnten externen Prüfungen (Vergleichsarbeiten oder Zentralabitur) gehören dazu: Festlegung der Bildungsstandards, Übernahme einer grundsätzlichen Schulaufsicht sowie Ausstattung aller Schulen mit einer angemessenen und überall gleichen (d.h. pro Schüler zu gewährenden) Finanzierung.
Darüber hinaus wird die gesetzliche Abschaffung der Sprengelpflicht gefordert, damit den Eltern schon während der Grundschulzeit viele Wahlmöglichkeiten eröffnet werden können. Nach Wößmanns Vorstellungen entsteht daraus ein sich positiv auswirkender Druck, der alle Schulen dazu bringt, sich so gut wie möglich anzustrengen.
An den Ergebnissen der deutschlandweit extern durchgeführten Prüfungen ließe sich anschließend ablesen, wie weit eine Schule mit ihren diesbezüglichen Anstrengungen gekommen ist. Und das sei insbesondere dann möglich, wenn – wie Wößmann ebenfalls fordert – alle durchschnittlich erzielten Resultate veröffentlicht werden dürfen. Im Falle unterdurchschnittlicher Ergebnisse müsste die betroffene Schule in Kauf nehmen, dass sich Eltern gleich reihenweise von ihr abwenden und sie dadurch einen beträchtlichen Teil ihrer Finanzen verliert.
Im Verlauf seiner Ausführungen betont Wößmann mehrmals, dass Wettbewerb, unbeschränkte elterliche Wahlmöglichkeiten und die tendenziell gleiche Finanzierung öffentlicher und in freier Trägerschaft befindlicher Schulen ganz besonders im Interesse der benachteiligten Kinder liegt. Dahinter steckt die (unausgesprochene) Annahme, dass “freie” Schulen ohnehin die besseren Schulen sind und nun auch – wegen des nicht erforderlichen Schulgeldes – von nicht privilegierten Kindern besucht werden können.
Interessant ist – und das fällt auch bei den OECD-Interpretationen der PISA-Ergebnisse oder den von zahlreichen Stiftungen veröffentlichten Untersuchungen immer wieder auf -, dass die frühe Selektion der Schüler/innen heftig kritisiert wird. Im Vordergrund der von Wößmann geübten Kritik steht die daraus resultierende Einschränkung der elterlichen Wahlmöglichkeiten, die sich vor allem in ländlichen Gebieten, in denen jeweils nur ein Schultyp vorgehalten werden kann, nachteilig für den unbedingt erforderlichen Wettbewerb auswirken würde.
Alles in allem stellt die aktuelle Expertise eine Mischung längst bekannter neoliberaler Ansätze dar. Eine Übereinstimmung lässt sich auch in der Hinsicht feststellen, dass wichtige Sachverhalte ausgeklammert worden sind. In dem von Wößmann vorgestellten Konzept ist keine Rede von der Existenz eines Förderschulwesens oder von einer möglichen schulartbezogenen Staffelung des Pro-Kopf-Betrages. Ferner fehlt ein Hinweis darauf, wie der behördliche Umgang mit den noch verbleibenden öffentlichen Schulen zu regeln wäre: Soll auch hier ein weitgehender staatlicher Rückzug erfolgen oder nicht? Wenn nicht, würde der – jetzt einmal abgesehen von allen für eine Stärkung des staatlichen Schulmonopols sprechenden Argumenten – hoch gepriesene und unter allen Schulen auszutragende Wettbewerb unter höchst unfairen Bedingungen stattfinden.
Zusammenfassung und Interpretationen
Wie gezeigt werden konnte, steht das öffentliche Schulsystem in Deutschland seit dem Jahr 2000 unter einem doppelten Beschuss: Schulpolitiker und -behörden ziehen die Anforderungsschrauben immer fester an, ohne die für eine Bewältigung dieser Aufgabenlast erforderlichen Gelder auch nur annähernd ausreichend zur Verfügung zu stellen. Das hat die Schulen immer anfälliger für die “Penetrationsversuche” der (Groß-)Unternehmen gemacht, denen es gelungen ist, im Gewand wohltätiger und -wollender Stifter und Sponsoren aufzutreten. Im Ergebnis ist es zu einer enormen Ausdehnung des ohnehin seit langem gegebenen privatwirtschaftlichen Einflusses auf das staatliche Handeln in Schulangelegenheiten gekommen. Der mittlerweile erreichte Zustand ist dadurch gekennzeichnet, dass Staat und Wirtschaft in allen zentralen Punkten an einem Strang ziehen.
Der (noch feststellbare) Unterschied besteht lediglich darin, dass die staatlicherseits verfolgten Ambitionen etwas stärker bemäntelt und somit nicht so klar nachweisbar sind. Trotzdem kann auf der Grundlage der bereits in Gang gesetzten staatlichen Handlungen davon ausgegangen werden, dass der neoliberale Zug weitgehend unbehelligt an Fahrt aufnehmen wird.
Dafür spricht auch, dass – von einer größeren Ausnahme abgesehen – der Widerstand der direkt Betroffenen kaum ins Gewicht fällt und – falls sich die Situation in dieser Hinsicht doch noch einmal ändern sollte – wie gehabt neutralisiert werden kann. Zum besseren Verständnis dieser Einschätzung sollen einige der hierfür in Frage kommenden Gründe etwas genauer angesprochen werden.
Gleich ins Auge fallend ist die beständige Zunahme an arbeitsintensiven Aufgaben, für die immer weniger Zeit zur Verfügung steht. Und das bedeutet natürlich auch, dass eine vertiefte Auseinandersetzung mit den hintergründigen Absichten der vielen neu eingeführten Maßnahmen kaum zu schaffen ist.
Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeit ohnehin häufiger auf die näher liegenden Themen gelenkt wird: Noten, Abschaffung der Schreibschrift, Hausaufgaben, Frontalunterricht oder Bedeutung der Klassengröße. Auch wenn es sich dabei nicht direkt um Nebelkerzen handelt, erfüllen sie doch die Funktion einer Ablenkung von den großen schulpolitischen Verwerfungen.
Schließlich kann auch die von den neoliberalen Modellen (zunächst) ausgehende Faszination eine große Rolle spielen. Es klingt doch erst einmal gut, wenn Schulen mit nie gekannten Freiheiten ausgestattet werden sollen, zu denen in den Augen der Lehrer/innen nicht zuletzt das Angebot gehört, die Lehrpläne selbst gestalten zu können. Dabei wird völlig übersehen, dass es mit dieser Gestaltungsfreiheit nicht allzu weit her sein kann, wenn sich am Ende alle Schüler/innen deutschlandweit denselben (d.h. nur in Nuancen voneinander abweichenden) Prüfungen unterziehen müssen. Und wie es letztlich um den Freiheitsgehalt einer auf “hire and fire” angelegten Personalfreiheit und einer stets von Einbußen bedrohten Budgetfreiheit bestellt ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Nicht anders sieht es bei den schon jetzt in den Schulen gegebenen Ungereimtheiten aus: Fokussierung auf kognitiv (insbesondere in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch) zu erbringende Leistungen gegen ein Eingehen auf die individuellen Stärken und Bedürfnisse eines Kindes, Etablierung von Entscheidungshierarchien gegen die für ein gutes Lernklima erforderliche Entwicklung eines Team-Geistes, Ausweitung der Kontrollbefugnisse gegen eine Förderung des selbstständigen Denkens und Handelns, Aufsplitterung des Lernstoffes gegen ein Erkennen von Zusammenhängen oder Schaffung konkurrenzbefeuernder Wettbewerbssituationen gegen die Entwicklung eines gemeinwohlorientierten Verantwortungsbewusstseins.
Zusammenfassend könnte man sagen, dass wir uns derzeit auf einer “schizophrenen Irrfahrt” in ein von neoliberalen Grundsätzen dominiertes Schulsystem befinden und dabei einen Staat an unserer Seite haben, der diese kinderfeindliche Entwicklung nicht nur zulässt, sondern größtenteils aktiv unterstützt. Auch von den gewählten “Volksvertretern” ist kaum Hilfe zu erwarten, da diese sich zwischenzeitlich so weit angenähert haben, dass sie (mit Ausnahme einiger Detailfragen) bis hin zu den Grünen in dasselbe schulpolitische Horn stoßen.
Wenig tröstlich ist, dass wir es am Ende dieser Fahrt mit einem ziemlich widerspruchsfreien Schulsystem zu tun haben könnten, in dem es nur noch um die Produktion einer perfekt angepassten Elite von “Leistungsträgern” geht, während der “nicht verwertbare Rest” erneut in die Förderschulen verbannt wird.
Aber auch unabhängig von dieser ziemlich gruseligen Vision ist bei einem ungebremsten Fortschreiten der derzeitigen Entwicklung auf jeden Fall damit zu rechnen, dass den wenigen Gewinnern viele Verlierer (und zwar einschließlich des gesamten schulischen Personals) gegenüberstehen werden und dass die wertvollsten Inhalte, für die schulische Bildung lange Zeit auch gestanden hat, nur noch als schmückendes Beiwerk eine Rolle spielen werden: Mitmenschlichkeit, Toleranz, Respekt, Rücksichtnahme, Solidarität, Demokratie und Moral.
Angesichts eines solchen Szenarios sollten wir (und damit sind eben nicht nur die stark belasteten Lehrer/innen gemeint) trotz des Umfangs der schon etablierten Umstrukturierungen und trotz unseres derzeit “pflichtvergessenen” Staates nicht resignieren und die Hände in den Schoß legen. Mit Forderungen nach besserer Finanzierung, einer Abschaffung des Kooperationsverbotes und einem bloßen Erhalt unseres öffentlichen Schulwesens ist es dabei allerdings nicht getan. Als weitere Forderung muss die Rücknahme aller bereits vorgenommenen neoliberalen Weichenstellungen hinzukommen.
Nur so wird es möglich sein, unsere Schulen (und Schüler) aus dem jetzigen Würgegriff zu befreien. Es muss eine Art Paradigmenwechsel stattfinden, der in einer Umkehr besteht und sich an einem Beispiel auch ganz schlicht beschreiben lässt: Heutzutage müssen Lehrer/innen unterrichten, was den extern erarbeiteten Inhalten von Vergleichstests entspricht, während sie früher sämtliche Klassenarbeiten so gestalten konnten, dass diese zu ihrem zuvor erteilten Unterricht passten. Natürlich mussten sich auch die damaligen Lehrer/innen an Lehrpläne halten, waren aber (ungeachtet anderer Belastungen) deutlich weniger eingezwängt und ferngesteuert.
[«*] Magda von Garrel ist Sonderpädagogin (Fachbereiche: Sprachbehinderungen und Verhaltensstörungen) sowie Diplom-Politologin und war als Integrationslehrerin an Grund-, Haupt-, Sonder- und Berufsschulen tätig. Zuletzt erschien von ihr „Instandsetzungspädagogik Integrationsansätze für lernentwöhnte Kinder“ im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
[«1] Der vom derzeitigen Wirtschaftsminister Gabriel kürzlich ins Spiel gebrachte Vorschlag, die von Vätern nicht geleisteten Unterhaltszahlungen durch Wegnahme des Führerscheins zu erzwingen, liegt eher im Interesse der von Kostensenkungen profitierenden Sozialkassen als im Interesse der allein erziehenden Mütter, denen es angesichts der zumeist kleinen Summen ziemlich egal sein kann, aus welcher Quelle das ihnen überwiesene Geld stammt. Bei der angedachten Maßnahme wurde außerdem nicht berücksichtigt, dass sehr viele unterhaltspflichtige Väter zahlungsunfähig sind und/oder gar kein Auto haben.
[«2] Weitere interessante Informationen zum Hin und Her der hessischen Schulpolitik finden sich in dem von Valentin Merkelbach verfassten Beitrag “Schulfrieden in Hessen? Die Mittelstufenschule als Lösung des Hauptschulproblems“, Februar 2014, Quelle: valentin-merkelbach.de
[«3] Im Sinne von Selbstreflexionen ist gegen eine häufigere Überprüfung der Wirksamkeit des eigenen Handelns auch nichts einzuwenden, aber es kommt doch sehr darauf an, um welche Fragen es dabei geht: Stehen die in Zahlen ausgedrückten Ergebnisse diverser Leistungsmessungen im Vordergrund der Überlegungen oder geht es beispielsweise um die Absicht, die den Kindern angeborene Freude am Lernen so lange wie möglich zu erhalten?
[«4] In einem Artikel vom 21. 06. 2016 geht auch die Süddeutsche Zeitung auf dieses Problem ein: “Schulleiter, die schlecht bezahlten Prügelknaben“
[«5] Auch dieser Ansatz ist nicht grundsätzlich falsch, muss aber trotzdem als fragwürdig bezeichnet werden, weil er mit einer sehr einseitigen “Zurichtung” der Schülerinnen und Schüler verbunden ist.
[«6] Vgl. hierzu weitere Ausführungen der Autorin in: “Königswege aus der Armut? Höhere Bildungsabschlüsse und deren perspektivisches Potenzial“, Forum Wissenschaft Nr. 1, März 2016
[«7] Klaus Klemm, “Finanzierung und Ausstattung der deutschen Grundschulen“, Gutachten im Auftrag des Grundschulverbandes e. V., Essen, Juni 2016
[«8] Die Angaben beruhen auf dem von Johanna Henkel-Waidhofer verfassten Beitrag “Das Zittern der Lehrer“. Der im Internet am 18. 05. 2016 veröffentlichte Beitrag ist in der Ausgabe 268 der KONTEXT: Wochenzeitung erschienen.
[«9] Stand 2011 laut Kurzmeldung in der Berliner Morgenpost/Wochenend-Extra vom 05./06. 03. 2011
[«10] Vgl. hierzu den auch im Internet veröffentlichten Artikel von Rolf Steinbacher “Kunden im Klassenzimmer“, Süddeutsche Zeitung vom 21. 01. 2013
[«11] Siehe den am 29. 04. 2013 erschienenen offenen Brief an die Bildungsministerinnen und -minister der Länder, der anlässlich der von Lobby-Control (Initiative für Transparenz und Demokratie) herausgegebenen Broschüre “Lobbyismus in Schulen, Ein Diskussionspapier über Einflussnahme auf den Unterricht und was man dagegen tun kann” geschrieben worden ist.
[«12] Gegen die Herausgabe der Liste, in der für den Zeitraum vom Beginn der 18. Wahlperiode bis zum 20. November 2015 alle durch Lobbyisten im Bundestag vertretenen Verbände, Organisationen und Unternehmen (einschließlich der Anzahl der von ihnen entsandten Mitarbeiter/innen) aufgeführt sind, hat sich der Bundestag (allen voran die CDU/CSU-Fraktion) vehement gewehrt und sich nicht gescheut, zu diesem Zweck Anwälte zu engagieren, die dafür mit einem steuerfinanzierten Gesamthonorar von 91.228,96 Euro vergütet worden sind.
[«13] Als Beispiel sei die Bertelsmann SE & Co. KGaA genannt, die (wie ALDI SÜD, Super RTL, Commerzbank und viele andere) zum Stifterrat der Stiftung Lesen gehört.
[«14] Sehr viel umfassendere Angaben zum Schulsponsoring finden sich in der online veröffentlichten schriftlichen Wiedergabe des mit Tim Engartner im SWR2 am 20. September 2015 geführten Gesprächs zum Thema “Pädagogisch bedenklich, Problematische Unterrichtsmaterialien“.
[«15] Die zitierten Überschriften finden sich auf S. 3 der GEW-Broschüre “Neue Aufgaben – neue Märkte: Wie mit Dienstleistungen an Schulen Geld verdient wird“, Privatisierungsreport – 9, März 2010
[«16] Die Angaben zu den hier vorgestellten Privatschulformen beruhen weitgehend auf der GEW-Broschüre “Private Stiftungen versus demokratischer Staat – wie der Neoliberalismus weltweit das öffentliche Bildungswesen untergräbt“, Privatisierungsreport – 13, Mai 2011
[«17] Ludger Wößmann, “Ein wettbewerblicher Entwurf für das deutsche Schulsystem“, Expertise im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Online-Veröffentlichung vom 12. Juni 2016
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