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Titel: Bizarr ungleiche Verteilung des Wassers im palästinensischen Westjordanland. Ein lösbares Problem, das absichtlich nicht gelöst wird.
Datum: 26. August 2016 um 13:28 Uhr
Rubrik: Interviews, Länderberichte, Ressourcen
Verantwortlich: Albrecht Müller
In dem folgenden Interview gibt uns der Hydrogeologe Clemens Messerschmid einen Einblick in die Wasserprobleme Palästinas. Seine Aussagen sind mit Zahlen belegt. Er erlebt als Hydrogeologe die Situation vor Ort und die Beschränkungen seiner Arbeit seit fast 20 Jahren mit. Er bezeichnet den Dauernotstand im Wasser als politisch erzeugt aber lösbar. Voraussetzung dafür wäre allerdings politischer Willen für eine solche Lösung, den er jedoch nicht zu erkennen vermag. Die Debatte über dieses Thema erhielt kürzlich durch einen Tagesschau-Bericht größere öffentliche Aufmerksamkeit. Das Interview fand bereits vor dessen Ausstrahlung statt. Aus diesem Anlass haben wir nachträglich noch einige Fragen hierzu eingeflochten. Albrecht Müller.
Clemens Messerschmid, (Jahrgang 1964) hat in München und Aachen Geologie und Hydrogeologie studiert und ist von Beruf Hydrogeologe. Seine Haupttätigkeit in Palästina besteht in der Erkundung, Erschließung und Nutzung der örtlichen Grundwasserressourcen zumeist im Rahmen von internationalen Projekten.Darüber hinaus versucht er, im Rahmen von Vorträgen in Europa, Einblicke in die Wassersituation in den besetzten palästinensischen Gebieten zu geben und berät diesbezüglich auch politische und Menschenrechtsorganisationen.
Ressourcen und die Wasserkrise
AM (Albrecht Müller): Der Nahe Osten, insbesondere Palästina, ist als besonders wasserarm bekannt. Wie sieht das der Hydrogeologe?
CM (Clemens Messerschmid): Der Nahe Osten ist sicherlich nicht tropisch regenreich, aber Palästina, speziell die West Bank, ist keineswegs arid (trocken).
AM: Also stimmt es gar nicht, dass es zuwenig Wasser gibt? Gibt es also gar keine Wasserkrise?
CM: Die Palästinenser zählen sicher zu den am schlechtesten versorgten Bevölkerungen der Erde. Aber es gibt eben mehr als genug Wasser für eine gesicherte Trinkwasserversorgung, wenngleich sicher nicht für maßlose Bewässerung. Das Problem ist schlicht eine bizarr asymmetrische Verteilung.
In Israel werden mindestens 270 l pro Tag verbraucht, in der Westbank höchstens 73 l. Zum Vergleich: in Deutschland werden 120 l pro Tag verbraucht.
AM: Wenn die West Bank also genug Wasser hat, wieso kommen die Palästinenser aus der Wasser-Dauerkrise nicht heraus?
CM: Dies liegt schlicht und ergreifend an der Besatzung. Bis 1967 machten die Palästinenser in der West Bank enorm rasche Fortschritte in der Wasserentwicklung, konzentriert auf Brunnen. Dem setzte 1967 die israelische Militärbesatzung ein Ende – bis heute!
Besatzung und Military Orders (MO)
AM: Wie muss man sich das vorstellen? Wieso hat Israel eine gesicherte Versorgung und die Palästinenser nicht?
CM: Die palästinensische Dauerkrise ist ein stabiler Zustand, der aktiv betrieben, von Israel administrativ und militärrechtlich erzeugt und bis heute aufrechterhalten wird.
AM: Wie wird das bewerkstelligt? Wie sollte Israel die palästinensische Wassernutzung unterbinden können?
CM: Durch die Militärbesatzung. Israel herrscht mit Military Orders, sogenannten MO‘s, einfach erlassen und dann für immer gültig. Palästinenser haben keinerlei Mitsprache – geschweige denn ein Widerspruchsrecht. Es gibt tausende solcher MO’s, aber interessanterweise nur drei zu Wasser.
AM: Und was ist der Inhalt dieser Militärerlasse?
CM: Der erste MO ist Nr. 92 [Anmerkung Redaktion: Die Militärerlasse werden chronologisch nummeriert] und datiert bereits vom August 1967! Er enteignete auf einen Schlag das vollständige Wasser der ganzen West Bank und legte es in die Hände der israelischen Kontrolle, also eines sogenannten „Area Commander“. Alles Wasser, ob tiefes Grundwasser, ob Brunnen oder Quellen oder – wie sich in jüngster Zeit herausstellt – sogar der Regen, der den palästinensischen Boden berührt, gehört dem sogenannten „official-in-charge“, sozusagen dem Kolonialherren.
AM: Das klingt in meinen Ohren und bestimmt auch in denen unserer Leserinnen und Leser abenteuerlich oder gar unglaubwürdig.
CM: Allerdings! Es ist eine geradezu groteske Form von Herrschaft. Ich habe selbst viele Jahre gebraucht, bis ich das realisiert habe. Aber leider ist es Realität. Und das war erst der erste Schritt. Nur als Beispiel: Es gibt noch zwei weitere MO‘s, vor allem Militärerlaß Nr.158, auch dieser aus dem ersten Jahr der Besatzung [19. November 1967, Anmerkung Redaktion]. Er führt das berüchtigte und verhasste Permit-Regime ein, das System der Erlaubnisscheine. Jedes palästinensische Wasserprojekt, bedarf seit November 1967 eines solchen offiziellen Permits vom Militär. Das Militär kann den Antrag, und das ist wichtig, ohne Begründung ablehnen; und genau das tut Israel seither routinemäßig, in manchen Gegenden ununterbrochen seit 50 Jahren.
Um nochmal auf das von Ihnen als „abenteuerlich“ bezeichnete Bild von der Regenenteignung zurückzukommen: Selbst der Bau von Zisternen, mit denen Palästinenser den Regen auf ihren Dächern auffangen und speichern könnten, ist verboten, bzw. bedarf eines Permits und wird von der israelischen Militärregierung als illegal behandelt, also kriminalisiert. Obwohl es hier um lächerlich kleine Wassermengen geht, gerade einmal ein paar Dutzend Kubikmeter im Jahr – agiert Israel auch hier mit vollem Furor und zwar verstärkt in den letzten Jahren. Seit etwa 2011 reißt Israel zunehmend und immer mehr solcher „illegalen“ – weil ohne Permit gebauten – Zisternen ab.
Es gibt bei uns hier einen Witz: Das einzige, was noch nicht verboten ist und nicht eines Permits bedarf, sind Regenschirme. Leider ist das nicht lustig.
Was mich wirklich aufregt, ist das Verhalten der deutschen Bundesregierung. Denn die hat sich noch nie über diese Praxis der Militärerlasse beschwert. Wir, d.h. unsere Diplomaten, das Außenministerium, das BMZ (Entwicklungsministerium) usw. wissen das alles.
AM:Den meisten Deutschen dürfte die skizzierte Praxis, die Wasserversorgung der Palästinenser zu beschränken, nicht geläufig sein. Noch einmal zurück zu den Permit-Scheinen. Was ist die praktische Folge dieses Systems?
CM: Mit MO Nr. 158, dem Permitsystem, wird jegliche palästinensische Wasserentwicklung praktisch unterbunden. Wenn seit 50 Jahren nichts gebaut werden darf, dann wird damit der Wassersektor der West Bank eingefroren auf den Stand von 1967. Das israelische Militär erweist sich hierbei geradezu als fanatisch: Nicht nur neue Brunnen müssen erlaubt werden, oder der Zugang und Ausbau von Quellen, auch Überlandleitungen, Pumpstationen, Wasserspeicher, Verteilungsnetzwerke etc. Alles wird hiermit in Bausch und Bogen verboten, kriminalisiert. Und damit nicht genug! Nicht nur der Neubau, sondern sogar die Reparatur eines Brunnens, also eines nach diesem perversen Rechtssystem bereits existierenden ‚legalen‘ Brunnens, bedarf eines offiziellen Erlaubnisscheins durch die Militärverwaltung; und selbst die werden routinemäßig verweigert! Wer es nachlesen will, sowohl Amnesty als auch die Weltbank haben in ihren Berichten vor 7 Jahren diese Praxis recht anschaulich beschrieben.
Ein praktisches Beispiel: Gegenwärtig harren etwa 140 alter, noch in Vor-Besatzungszeit gebohrter Brunnen dringender Reparatur, Instandsetzung und Ausbesserung. Nach und nach fallen diese Brunnen aus. MO 158 erweist sich damit als Mittel zum aktiven Herunterfahren der Wasserproduktion und damit der Wasserversorgung. Infolgedessen wird die Versorgung hier bei uns in der West Bank immer prekärer, denn die zu versorgende Bevölkerung wächst ja ziemlich rasant.
AM: Können Sie dazu Zahlen nennen, um es etwas anschaulicher zu machen?
CM: Gerne. In Oslo-II (1995) wurde offiziell der bestehende Ressourcenzugriff beziffert: Die palästinensischen Entnahmen aus eigenen Brunnen und Quellen betrugen demnach 118 mcm/Jahr. Also, die Städte und Gemeinden der West Bank hatten insgesamt einen Zugang zu 118 Millionen Kubikmetern jährlich aus ihren eigenen Brunnen und Quellen; in Oslo wurde dann für die sog. Interimsphase bis Mitte 1999 eine Erhöhung von 23.6 mcm/Jahr als ‚immediate needs‘ (= sofortiger Bedarf) und von weiteren rund 75 mcm/Jahr als ‚future needs‘(=zukünftiger Bedarf) vereinbart. Das wären bis 1999 rund 220mcm/Jahr gewesen.
AM: War so etwas wirklich Gegenstand und Ergebnis der Verhandlungen in Oslo? Welche Aktivitäten der Politik aus welcher Zeit beschreiben Sie da gerade?
CM: Ich spreche von den Interimsabkommen, die in Oslo ausgehandelt wurden, die also Rabin und Arafat unterzeichnet haben. Erstens die „Declaration of Principles“ von 1993 und dann das Interimabkommen über die West Bank und Gaza von 1995, welches auch „Oslo-II“ genannt wird, und in dem Details zu Wasser festgelegt wurden.
AM: Und was bedeuten nun diese in Oslo vereinbarten Zahlen zu sofortigem und zukünftigem Bedarf?
CM: Diese Mengen, selbst wenn sie 1999 erreicht worden wären, also 25 plus 75 Millionen Kubikmeter zusätzlich pro Jahr, sind eindeutig viel zu wenig, um auch nur einen Bruchteil der aktuellen israelischen Versorgung, rund 270 l pro Kopf und Tag (IWA 2012: 54), oder auch nur der von der WHO vorgeschlagenen Untergrenzen, nämlich 100 l pro Kopf/Tag, zu erreichen.
(NB: Die 73 Liter in der West Bank beinhalten auch gewerbliches Brauchwasser, welches z.B. in Deutschland 72% der Gesamtwasserversorgung ausmacht.)
Offizielle Quelllen: In: IWA (2011:13)
Auch der Master Plan (IWA 2012:54) nennt 100m3/c/yr (274 l/c/d) als gegenwärtige Menge
Aber hier beginnt nun der zweite, eigentlich noch unerhörtere Skandal.
AM: Welchen Skandal meinen Sie?
CM: Wir sprechen nicht mehr von 1999, sondern inzwischen von 2016. Die Interimsphase sollte – das ist vertraglich bindend vereinbart – im Juli 1999 beendet sein – „spätestens“ steht da übrigens geschrieben! Statt vier Jahren haben wir bald 20 Jahre Interim! Aber der noch größere Skandal ist folgender: Der Zugang zu Wasser wurde nicht, wie 1995 bindend vereinbart, und übrigens auch von der EU als Schirmmacht mit abgesegnet, um 100 Millionen Kubikmeter erhöht. Das Gegenteil ist der Fall! Die Gesamtnutzung aus Quellen und Brunnen ist seit 1995 auf unter 90 Millionen Kubikmeter/Jahr gefallen(!). Man könnte sagen: sie ist jedes Jahr im Schnitt um 1 Million Kubikmeter gefallen. Und dies sind nur die Absolut-Zahlen; die sich verdoppelnde Bevölkerung ist nicht mit eingerechnet.
AM: Sie sagen, die Wasserförderung wäre seit Oslo nicht nur viel langsamer als geplant vorangekommen, sondern in absoluten Ziffern sogar gesunken? Das will ich nicht glauben.
CM: Doch, so ist es. Und dabei, ich betone das nochmals, ist das Wasser vorhanden, buchstäblich unter den Füßen der darbenden Städte und Dörfer, aber es darf nicht entnommen und genutzt werden, bzw. eben nicht von den palästinensischen Bewohnern der palästinensischen Gebiete. Das ist der wirkliche Skandal von Oslo, vom sogenannten Friedensprozess. Die Besatzung hat sich real verschärft und damit auch das tägliche Leiden der palästinensischen Bevölkerung. Das ist kein Ausrutscher, das ist die Architektur der Abkommen! Die palästinensische Behörde hat nun – formal – die Verantwortung für die Versorgung ihrer Bevölkerung. Aber an der fehlenden Souveränit, am mangelnden Ressourcenzugang hat sich nichts geändert. Deshalb haben wir, je länger der Friedensprozess andauert, immer weniger Wasser! Jedes Jahr weniger. Unausweichlich.
AM: Wie kann das sein? Sind denn nicht Milliarden von ausländischen, europäischen und speziell deutschen Steuergeldern in die sogenannte Aufbau- und Entwicklungshilfe geflossen? Warum erfahren wir davon nichts?
CM: Hier kommen wir nun zu einem neuen, meines Erachtens besonders wichtigen Thema, nämlich dem, was wir hier so veranstalten. Mit ‚wir‘ meine ich die vielen internationalen, speziell deutschen Projekte, in denen auch ich seit rund 20 Jahren arbeite. Technisch ausgedrückt: die bizarre Diskrepanz zwischen dem, was nötig wäre, den Lösungen der Wasserkrise und dem, was wirklich getan wird.
Deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Kumpanei mit der Besatzung?
AM: Sprechen wir doch über die Lösungen. Was müsste denn getan werden, um die Menschen nachhaltig mit Wasser zu versorgen?
CM: Das ist einfach und das weiß in der West Bank auch jedes Kind. Wir haben in der West Bank keinen Zugang zum Jordan. Das einzig vorhandene und erreichbare Wasser ist Grundwasser. Es gibt deshalb exakt eine einzige und auch nachhaltige und wirklich bezahlbare Option: Brunnen bohren. Fertig. Ganz einfach. Die West Bank ist eines der wenigen, dicht besiedelten Territorien der Erde, in denen die systematische Erschließung der Wasserressourcen über weite Gebiete noch gar nicht begonnen hat! Ursache sind die fehlenden Erlaubnisscheine der Militärverwaltung. Deswegen wird nicht getan, was getan werden müsste.
AM: In der aktuellen Diskussion anlässlich des Tagesschaubeitrags wird die Schuld an der Misere nicht den israelischen Kürzungen der vereinbarten Wasserlieferungen und schon gar nicht den fehlenden Erlaubnisscheinen gegeben, sondern zufälligen Ereignissen wie Wasserrohrbrüchen in angeblich maroden Wasserleitungen. Die Verantwortung hierfür läge bei der palästinensischen Autonomiebehörde. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
CM: Nun, um das viel tiefer liegende, dauerhafte Problem mit den von der Militäradministration verweigerten Erlaubnisscheinen dreht sich die augenblickliche Diskussion ja gar nicht – leider. Dinge, wie sie im oben genannten Weltbankbericht beschrieben werden, tauchen in der Diskussion gar nicht auf.
Der Tagesschaubeitrag hingegen handelte von den akuten sommerlichen Kürzungen der Wasserzulieferungen durch die Israeli. Viele Städte wie Salfit bekommen seit Monaten nur einen Bruchteil der vertraglich vereinbarten Mengen. Diese sind keine Gunst Israels – die Palästinenser müssen für dieses Wasser ja teuer bezahlen. Dabei stammt über ein Viertel der Wasserlieferungen gar nicht aus Israel sondern aus völkerrechtlich illegalen israelischen Brunnen innerhalb der besetzten Westbank. Die Palästinenser kaufen also Israel buchstäblich ihr eigenes Wasser ab. Aber auch darum geht es den aufgeregten Kritikern der Tagesschau-Reportage keineswegs. Das meiste ist leider ein autistischer Diskurs über deutsche Befindlichkeiten, bei dem die Palästineser allenfalls eine Komparsenrolle spielen.
Nun zu den geplatzten Rohren: Die platzen oder brechen täglich, stündlich. Das ist tägliche Routine in jedem Wasserwerk der Erde, in Deutschland, in Palästina und in Israel. Schon hier wird mit dem Unwissen der Leserinnen gespielt. Die Landschaft der geographischen Zuständigkeiten ist in der Tat extrem kompliziert – leider. Das ist aber die beabsichtigte Folge der politischen Fragmentierung der West Bank durch die Besatzung und noch verschärft durch die in Oslo vorgenommene Einteilung in sogenannte A-, B- und C-Gebiete. Also, ja, an vielen Stellen (A- und B-Zonen) müssen – oder dürfen – Palästinenser reparieren, im größten Teil, den C-Gebieten müssen wir auf die Israelis warten. So eine Reparatur dauert meist Stunden, in Ausnahmen auch Tage, in ganz seltenen Fällen mal eine Woche. Wenn aber Salfit seit 2 Monaten stabil nur noch einen Bruchteil der vertraglich vereinbarten Minimalmengen bekommt, hat das mit den vorgeblichen Pannen an den Wasserrohren nichts zu tun. Das ist pure Irreführung. Die offiziellen Sprecher Israels verwenden ihre Ausrede von den Rohrbrüchen schon seit Mitte/Ende Juni nicht mehr. Die Tagesschau-Kritikerinnen in Deutschland nehmen dies nur nicht zur Kenntnis.
Noch ein letztes Wort zu „marode“. Auch hier wird die Sachlichkeit verlassen. Niemand kann in Zweifel stellen, dass heute die Netzwerke erheblich besser dastehen und besser gewartet sind als vor Oslo. Das Argument ist aber schwach: Es war nämlich Israel, unter der vollen, offenen Herrschaft über die gesamten Städte und Dörfer, vor Oslo, das solche Reparaturen systematisch und sträflich vernachlässigt hatte. Auch das übrigens gegen internationales Recht. Seit Oslo behindert Israel solche Projekte und Baumaßnahmen sogar noch aktiver und noch akribischer. Genau davon handelt der bereits erwähnte Bericht der Weltbank. Seit 20 Jahren arbeite ich schon hier. Wisssen Sie, wie oft dieses Thema schon in der Tagesschau war? Noch nie.
AM: Sie sind 1997 ins Land gekommen, um für die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ, heute GIZ) Brunnen in der West Bank zu bohren.
CM: Richtig. Zu Beginn von „Oslo“ herrschte die naive Hoffnung vor – auch bei mir – die Israelis hätten das, was sie vertraglich versprochen hatten, also die sowieso schon höchst bescheidenen 25 plus 75 Millionen Kubikmeter zusätzlich, auch so gemeint und sie würden nun Brunnenbohrungen zulassen. „Oslo“ stellte sich aber nach und nach als Irreführung heraus. Die GTZ hatte Brunnenbohrprojekte mit großen Wasserwerken der West Bank, in Ramallah und Nablus. Hierfür sollte im östlichen Grundwasserbecken, dem Eastern Aquifer gebohrt werden. Aber die Israelis verzögerten an vielerlei Stellen, sie gaben uns viel zu spät Permits, oder an den falschen Stellen, den falschen Bohrpunkten, oder eben auch gar nicht!
AM: Sie behaupten, das sei ein Bruch von Oslo?
CM: Richtig. Das geschah ja nicht heimlich, sondern war ein offenes Geheimnis – und Ärgernis! Und das ging allen so, allen Bohrprojekten, den Amerikanern, den Deutschen, der EU.
AM: Haben Sie diese Informationen nicht weitergeleitet? An Ihre Auftraggeber, an die deutschen Behörden, an die Bundesregierung?
CM: Doch selbstverständlich, das ging alles nach oben, vor allem die Finanzberichte. Bei so einem Tiefbrunnen handelt es sich schliesslich um Kosten von rund einer Million Euro. Das kann man nicht übersehen. Und von oben – also zum Beispiel von der Zentrale der GTZ in Eschborn, oder auch vom BMZ und vom AA – kam ja dann auch zunehmend Druck, warum bei uns nichts voranginge. Wir gaben die bewilligten Projektgelder eins ums andere Jahr nicht aus. Ständig trugen wir unsere Behinderungen und Beschwerden den deutschen Regierungsdelegationen vor, also unter anderem auch Frau Wieczorek-Zeul, damals Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), und vor allem dem damaligen Außenminister Herrn Joschka Fischer. Was wir brauchten, das wurde immer offensichtlicher: politischen Druck auf Israel für die Bewilligung ganz konkreter Brunnenprojekte, zu denen sich Deutschland gegenüber den Wasserwerken bindend verpflichtet hatte.
AM: Wie war deren Reaktion? Was hat sich seither geändert?
CM: Nichts. Oder noch schlimmer – das Gegenteil ist passiert. Anstatt des gewünschten Drucks auf Israel, um die gewünschten Permits zu bekommen, also Bohr-Permits, damit die Palästinenser endlich ihre Grundwassererschließung beschleunigen und systematisch nachholen können, beschloss die deutsche Regierung, diese dringend benötigten und einzig erfolgversprechenden Projekte still und leise einzustellen. Alle!
Das grenzt schon an Sabotage. 1999 haben wir den letzten von einer handvoll Brunnen für Ramallah gebohrt. Im Jahr 2000 wurde er fertig und an die Wasserversorgung angeschlossen. Danach war Ruhe im Schacht. Nicht ein einziger Brunnen wurde seither gebohrt. Noch nicht einmal anvisiert und projektiert. Wir Deutschen haben uns aus dem gesamten Bereich des Zugangs zu Wasser leise verabschiedet. Bis heute. Das betrachte ich als den eigentlichen Skandal. Daran gemessen ist das Thema der gegenwärtigen Mediendebatte um die Wasserzukäufe in Salfit fast sekundär. Zu Salfit selbst gibt es noch erheblich skandalösere Geschichten, aber aus dem Bereich des Permitregimes und des deutschen Umgangs damit.
AM: Was meinen Sie?
CM: Nun, das „marode“ Salfit war gegen Ende der 90er Jahre Vorreiter, nämlich im Kläranlagenbau. Das waren deutsche GTZ- und KfW-Projekte. Vor fast 20 Jahren lagen alle Permits vor und wir begannen gerade mit den Bauarbeiten, als Israel dies rechtswidrig stoppte, und zwar mit der sogar offen ausgesprochenen Begründung, dass es die Erweiterung der illegalen Nachbarsiedlung Ariel behindere. Amnesty hat den Fall in seinem Bericht ausführlich beschrieben (AI 2009: 39). Die Bundesrepublik hingegen hat sich darüber nie öffentlich empört. Es gab keinen Skandal, kein Wort gegenüber der Presse oder den Steuerzahlern. Die Bundesregierung hat lieber gekniffen und damit de-facto den Weg frei gemacht für zwei Dinge: a) die Erweiterung illegaler Siedlungen und b) die oben angesprochene „marode“ Infrastruktur in Salfit. Das Projekt wurde eingestampft. Bis heute hat Salfit keine Kläranlage. Die gegenwärtige hitzige Debatte über Salfit zeichnet sich also sowohl durch Unwissenheit als auch durch Desinteresse aus, gerade wenn sich BMZ-Vertreterinnen empört zu Wort melden.
AM: Welche Gründe vermuten Sie hinter diesem Handeln der Bundesregierung?
CM: Nun, Israels Ressourcenegoismus kann ich ja ein wenig nachvollziehen. Er ist offenes Unrecht, aber aus deren Sicht verständlich. Völlig unverständlich ist, warum Deutschland dabei mitspielt.
Soweit ich weiß, gibt es nur einen einzigen Vorgang, bei dem sich eine deutsche Bundesregierung für ihre Untätigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit mit Palästina und für ihr penetrantes Schweigen gegenüber Israel rechtfertigen musste. Ansonsten haben auch insbesondere unsere Medien diesbezüglich bisher völlig versagt.
AM: Von welchem konkreten Vorgang sprechen Sie?
CM: Die LINKEN im Bundestag haben in den Jahren 2010 ff mehrfach nachgefragt, warum die Regierung alle Brunnenprojekte in den Orkus befördert hat, obwohl diese alles andere als abgeschlossen waren. (Entwicklungspolitischer Rundbrief Nr. 17/9 insbesondere Frage 29, Seite 15)
Sie fragten auch, warum die Regierung nur noch andere Arten von Wasserprojekten fördert, die nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun haben, nämlich dem, dass Palästinenser schlicht kein Wasser haben! Heute bauen wir Kläranlagen, legen Leitungen, bessern Wassernetze und betreiben sogenanntes capacity building – nur eines tun wir nicht: dafür sorgen, dass Wasser aus den Leitungen kommt!
AM: Wie lauteten die Antworten?
CM: Dirk Niebel (Von 2009 bis 2013 (Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Kabinett Merkel II) hat es nicht abgestritten. Im Gegenteil, er erklärte, das sei auch gut so! Wörtlich hat er die neuen Projekte, die mit Wasserförderung nichts mehr zu tun haben, verteidigt mit den Worten: „anstelle von zusätzlicher Rohwasserentnahme aus knappen, bereits übernutzten … Grundwasserressourcen“. Das ist eine schon 35 Jahre alte Mär Israels. Man muss das verstehen: Israel spielt sich als Beschützer der Ressourcen auf – so ist auch Oslo gestrickt. Israel hat wenig andere Gründe, die es für seinen Ressourcenraub anführen könnte. Deshalb nutzen sie dieses technische Konstrukt. Das ist aber falsch. Im Gegensatz zu Gaza sinken in der West Bank die Wasserspiegel nicht permanent, sondern schwanken jährlich. Mit dem Argument Ressourcenschutz hat Israel den Palästinensern jahrzehntelang das Bohren verboten, aber selbst fleißig weitergebohrt. Vom Westlichen Grundwasserbecken, dem sogenannten „Western Aquifer“, bekommen die Palästinenser noch nicht einmal 6% ab, aber die Israelis hat Niebel noch nie vor „zusätzlicher Rohwasserentnahme“ gewarnt. Niebel schützte folglich das palästinensische Grundwasser. Vor den Palästinensern! Das war schon eine Unverschämtheit – sozusagen deutsche Staatsräson, in Echtform.
AM: Welche Erklärung haben Sie für diese Politik?
CM: Es ist immer schwierig, die Motive von Politikern zu beurteilen. Ich kann ja nicht in ihre Köpfe hineinschauen. Aber ihre Taten sprechen eine eindeutige Sprache: Deutschland war nicht willens, seine eigenen Wasserprojekte zum Erfolg zu führen, weil unsere Regierung dann politischen Druck auf Israel hätte ausüben müssen. Das ist übrigens nicht nur im Wassersektor so. Etwas prägnanter ausgedrückt: Die Interessen der palästinensischen Projektpartner, die elementaren Lebensinteressen des Volkes – immerhin sprechen wir von der Mindestversorgung mit Trinkwasser! – werden geopfert auf dem Altar der guten Beziehungen zu Israel. Die Schuldigen sitzen also nicht nur in Israel, sondern ebenso in Berlin.
AM: Herr Messerschmid, ich bedanke mich für dieses Gespräch.
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