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Titel: Ukraine: „Der Bandera-Kult verhindert die Demokratisierung und destabilisert das Land“

Datum: 1. August 2016 um 9:08 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich:

Grzegorz Rossoliński-Liebe

Der Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe spricht im NachDenkSeiten-Interview mit Stefan Korinth über historische Gründe für die derzeitigen Verstimmungen zwischen Polen und der Ukraine, über die Bedeutung des Kultes um den früheren Nationalistenführer Stepan Bandera für die heutige ukrainische Politik und über blinde Flecke deutscher Holocaustforscher. Rossoliński-Liebe forscht und lehrt am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und hat die erste wissenschaftliche Biographie von Stepan Bandera geschrieben, die sich auch intensiv dem Kult um Bandera nach dessen Tod widmet. (Stepan Bandera: The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist: Fascism, Genocide, and Cult – englisch)

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Korinth: Herr Rossoliński-Liebe, kürzlich fand in Warschau der Nato-Gipfel statt. Die dort beschlossene Truppenstationierung im Baltikum und in Polen wurde auch mit Russlands Handeln im Ukraine-Konflikt begründet. Das Gastgeberland Polen steht dabei besonders eng an der Seite der Regierung in Kiew. Doch in den letzten Tagen gibt es in Polen auch heftige Diskussionen über das aktuelle Verhältnis zur Ukraine – und das hat historische Gründe. Können Sie uns erklären, was dahinter steckt?
 
Rossoliński-Liebe: Die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine haben sich in den letzten Jahren verschlechtert, selbst wenn Polen bei dem NATO-Gipfel eng an der Seite der Kiewer Regierung steht. Ein wichtiger Grund dafür ist die polnisch-ukrainische Geschichte bzw. die geschichtspolitische Instrumentalisierung oder Nichtaufarbeitung bestimmter Aspekte dieser Geschichte. Der Nato-Gipfel in Warschau fand kurz vor dem 11. Juli statt, an dem in Polen jedes Jahr an die Massaker in Wolhynien erinnert wird. Daher wurde in den Medien viel über dieses Thema berichtet und zu Recht auf den problematischen Umgang mit dieser Geschichte in Polen und der Ukraine hingewiesen. Auch in Deutschland haben Historiker diesen Aspekt der Geschichte lange vernachlässigt und sich nur um die Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten bzw. deutscher Truppen in der Ukraine gekümmert, als ob die Beteiligung ukrainischer Nationalisten am Judenmord und ihr Terror gegen die polnische Bevölkerung nicht ein Teil der Besatzungsgeschichte gewesen wäre.

Die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die im Frühjahr 1943 durch die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gegründet wurde, ermordete 1943 in Wolhynien und 1944 in Ostgalizien zwischen 70.000 und 100.000 Polen sowie einige Tausend Juden und eine unbekannte Zahl von Ukrainern. Am 11. Juli 1943 griffen ukrainische Nationalisten etwa 100 von Polen bewohnte Orte an und ermordeten mehrere Hundert Zivilisten, weshalb der Tag als der „Blutige Sonntag“ erinnert wird und den Terror der UPA in Polen symbolisiert. Die Geschichte der „ethnischen Säuberung“ in Wolhynien und Ostgalizien wurde erst in den späten 1990er Jahren erforscht und die Beteiligung der OUN und UPA am Judenmord war sogar bis vor wenigen Jahren kaum bekannt. Das machte der ukrainischen Diaspora und später Aktivisten in der unabhängigen Ukraine relativ einfach, den Bandera-Kult zu verbreiten und die OUN-Kader sowie UPA-Partisanen als Nationalhelden oder Freiheitskämpfer zu erinnern.

In Polen stößt jedoch dieses Narrativ auf Unverständnis und wird als eine Beleidigung nicht nur in Familien der Überlebenden empfunden. Auch wirft die Instrumentalisierung der Massengewalt ukrainischer Nationalisten in Wolhynien und Ostgalizien als ein „polnisch-ukrainischer Krieg“ oder eine „Nebenepisode“ der ukrainischen Befreiungsbewegung kein gutes Licht auf den heutigen Umgang mit der Geschichte in der Ukraine und verschlechtert die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine.

Genauso unbekannt wie das Wolhynien-Massaker ist hierzulande oft auch die Beteiligung von OUN und UPA am Holocaust. Warum wurden Juden damals auch für ukrainische Nationalisten zum Ziel?

Juden wurden von ukrainischen Nationalisten ähnlich wie Polen und Russen als Feinde betrachtet und ihre Beseitigung gehörte zum Programm der OUN, ähnlich wie die Vertreibung oder Ermordung von Polen in der Westukraine. Ukrainische Nationalisten haben sich bereits im Sommer 1941 an den Pogromen in der Westukraine beteiligt, von denen sie einige zusammen mit den Deutschen und andere alleine ohne die Anwesenheit deutscher Truppen durchgeführt haben. Danach schlossen sich durchaus viele OUN-Mitglieder der durch die deutschen Besatzer aufgestellten ukrainischen Polizei an, die die OUN zu unterwandern und zu kontrollieren versuchte. Als Polizisten halfen sie den Deutschen bei der Ermordung der Juden im Distrikt Galizien und in westlichen Teilen des Reichskommissariats Ukraine, vor allem in Wolhynien. In diesem Punkt überschnitten sich die Interessen der Nationalsozialisten und ukrainischer Nationalisten. Nachdem die OUN im Frühjahr 1943 die UPA gegründet hatte, schlossen sich ihr etwa 5000 desertierte ukrainische Polizisten an. Die UPA ermordete nicht nur Polen sondern auch Juden, die bis dahin überlebt hatten und sich meistens in den Wäldern oder unter Polen und Ukrainern versteckt haben.

„Die geschichtspolitische Instrumentalisierung ukrainischer Nationalisten als Freiheitskämpfer stößt auch in der Ukraine auf immer weniger Verständnis“

Ukrainische Nationalisten waren also eine Bewegung, die zwischen 1939 und 1945 mehrere Tausend Polen, Juden und danach während des Konflikts mit den sowjetischen Machthabern auch einige Tausend lokale und aus der Zentral- und Ostukraine versetzte Ukrainer ermordete und zwischen 1941 und 1943 die Deutschen als Polizisten bei der Ermordung des Großteils ukrainischer Juden unterstütze. Ihre geschichtspolitische Instrumentalisierung als Freiheitskämpfer stößt daher auf immer weniger Verständnis, neuerdings auch in der Ukraine.

Abgesehen davon, gibt es noch eine entgegengesetzte Instrumentalisierung der Geschichte, die durch polnische Nationalisten, rechtsradikale Organisationen in Polen und Russland sowie die russischen Medien betrieben wird. Diese Gruppen haben auch wenig Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte. Sie benutzen die OUN-UPA- und Bandera-Symbolik, um ihre politischen Visionen zu legitimieren. Polnische rechtsradikale Gruppen nutzen den Bandera-Kult, um alle Ukrainer in Polen als Unterstützer von Banderas Ideen anzugreifen. Russische Medien instrumentalisieren schon seit Jahren die durch die OUN und UPA begangenen Verbrechen sowie die Faschistisierung der Bewegung, um Putins Interessen in der Ukraine zu legitimieren. All diese Faktoren machen die Aufarbeitung der Geschichte nicht einfach und belasten die polnisch-ukrainische und ukrainisch-russischen Beziehungen. Das sollte jedoch Historiker nicht daran hindern, die Geschichte weiter zu erforschen und ihre Forschung an die Öffentlichkeit zu tragen, um dadurch der geschichtspolitischen Verwirrung und Radikalisierung der politischen Lage entgegenzuwirken.

Nun hat zwar der ukrainische Präsident Petro Poroschenko seinen Besuch beim NATO-Gipfel auch genutzt, um an einem Denkmal für die Wolhynien-Opfer Blumen niederzulegen, zudem gab es ein Vergebungsschreiben ukrainischer Bischöfe und zweier ehemaliger Staatspräsidenten, doch gleichzeitig werden die damaligen Täter und ihre Anführer, wie Roman Schuchewytsch oder Stepan Bandera in der heutigen Ukraine geehrt, indem das Parlament sie zu Helden der Ukraine erklärt und Straßen nach ihnen benennt. Wie ist dieser Zwiespalt zu erklären?

Banderas und Schuchewytschs Kult kommen aus der Westukraine, genauer aus Ostgalizien, wo ukrainische Nationalisten auch schwerpunktmäßig gewirkt hatten. In Ostgalizien tauchte der Bandera-Kult bereits in den späten 1980er Jahren auf. Das erste Bandera-Denkmal wurde in Staryi Uhryniv, seinem Geburtsort, am 14. Oktober 1990 enthüllt und einige Wochen danach durch eine Einheit des sowjetischen Geheimdienstes gesprengt. Der Kult wurde in die Ukraine teilweise durch die ukrainische Diaspora getragen, die Bandera im Kalten Krieg in Nordamerika und Westeuropa – vor allem nach seiner Ermordung durch den KGB in München am 15.Oktober 1959 – aufwendig und durchritualisiert verehrte. Teilweise war Bandera auch im antisowjetischen Erinnerungsnarrativ ukrainischer Dissidenten verankert, die sich als Demokraten verstanden. Interessanterweise ist der Bandera-Kult in der Westukraine so stark geworden, dass für den Führer der OUN Museen gebaut wurden, Straßen nach ihm benannt wurden und immer mehr Statuen für ihn in Städten und Dörfern enthüllt wurden. Kritik an ihm wurde lange als antiukrainische Propaganda abgewiesen.

Etwas Ähnliches passierte mit Roman Schuchewytsch und vielen anderen OUN-Mitgliedern und UPA-Partisanen, die heute auf Sockeln in der Westukraine an öffentlichen Orten oder Hauptstraßen stehen. Neulich haben auch ukrainische Abgeordnete beschlossen, eine wichtige Straße in Kiew nach Bandera umzubenennen und eine andere nach Schuchewytsch. Letzterer ist für die Morde an Polen, Juden und Ukrainern noch direkter verantwortlich als Bandera, weil Bandera seit Anfang Juli 1941 bis Oktober 1944 in Berlin und Sachsenhausen als politischer Sonderhäftling des Reichssicherheitshauptamtes gehalten wurde und von den Ereignissen in der Ukraine abgeschieden war. Schuchewytsch dagegen war vor Ort. Er erteilte Befehle, bildete Partisanen aus und hatte einen direkten Einfluss auf die Ereignisse in der Westukraine.

Warum ist dann Bandera der heute deutlich Bekanntere?

Weil er sich gut dafür eignete, zum wichtigsten Symbol der OUN und UPA sowie des antideutschen und antisowjetischen Befreiungskampfes aufzusteigen. Unter anderem deshalb, weil über sein Leben wenig bekannt war und es relativ einfach war, ihn als ein Opfer der Deutschen und der Sowjetunion bzw. Russlands zu interpretieren und diese Konstellation auf die gesamte Bewegung zu übertragen.

Auch heute fällt es Historikern noch schwer, Banderas Verantwortlichkeit für den Massenmord zu verstehen, obwohl diese Frage in meiner Bandera-Biographie analysiert und detailliert erklärt wurde. Insgesamt jedoch kann man in der Ukraine einen immer kritischeren Umgang mit der OUN und UPA beobachten, was auf die zahlreichen Publikationen über die Massengewalt ukrainischer Nationalisten zurückzuführen ist, die in den letzten Jahren erschienen sind und wenig Raum für geschichtspolitische Spekulationen lassen.

„Der Bandera-Kult macht die ukrainische Integration in die EU unmöglich und isoliert das Land“

Immer mehr Ukrainer sehen auch, dass der Bandera-Kult die Demokratisierung des Landes verhindert, seine Stabilisierung oder sogar Existenz gefährdet und die Integration in die EU unmöglich macht. Es sind also sowohl geschichtswissenschaftliche Publikationen als auch politische Umstände, die ein Umdenken der Geschichte des ukrainischen Nationalismus und des Holocaust auslösen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob die Geschichte in der Ukraine umgedacht wird, weil Ukrainer ihre Einstellung zu den „Helden“ aus der OUN und UPA ändern und ein Mitgefühl für die Opfer ukrainischer Nationalisten entwickeln oder ob sie in erster Linie aus politischen Motiven handeln bzw. an der Integration des Landes in die Strukturen der EU interessiert sind.

Die Ausbreitung des Bandera-Kultes wurde leider überhaupt dadurch ermöglicht, dass Historiker in und außerhalb der Ukraine die Geschichte des ukrainischen Nationalismus nicht ernst genommen haben und unkritisch dem rechtfertigenden Narrativ gefolgt sind, das durch die Veteranen der Bewegung aufgestellt wurde. In den letzten Jahren haben jedoch immer mehr Historiker – darunter auch frühere Bandera-Apologeten gemerkt, dass der Bandera-Kult und die Verehrung der OUN-UPA das Land isolieren. Nachdem Bandera zum Helden der Ukraine 2010 ernannt wurde, verurteilte die Europäische Union diese Entscheidung.

Einige Jahre später nutzte Russland den Bandera-Kult, um seine geschichtspolitischen Interessen in der Ukraine zu legitimieren und zur politischen Destabilisierung der Ukraine beizutragen. Aber es waren auch die gewaltsame Überwindung des Janukowytsch-Regimes und die Spannungen zwischen politischen Gruppierungen innerhalb der Ukraine gewesen, die das Land schon vor dem Maidan und der Krimabspaltung politisch destabilisiert hatten. Einige dieser Gruppierungen berufen sich auf Banderas Erbe, andere gaben sich als pro-russisch aus oder hatten ein ganz anderes Konzept der Ukraine im Kopf als Personen, die sich mit Bandera identifizierten.

Dies führte dazu, dass ukrainische Politiker und Historiker, die bis dahin dem Bandera-Kult unkritisch gegenüberstanden und die Heroisierung der OUN-UPA als ein Teil der nationalen Geschichte oder einen natürlichen Beitrag zur ukrainischen Identität verstanden, ihre Einstellung zum ukrainischen Nationalismus revidierten bzw. sich dafür zu interessieren begannen, was die „ukrainischen Helden“ im Zweiten Weltkrieg eigentlich gemacht haben und warum das auch außerhalb der Ukraine eine Rolle spielt.

Wie sieht es denn mit dem Interesse ukrainischer Forscher an Bandera und seiner Bewegung aus? Sie haben die erste Biographie Banderas geschrieben, die auch seinen politischen Kult untersucht. Sehen Sie Veränderungen beim Umgang mit ihm und seinem politischen Erbe?

Das Interesse an der Erforschung Banderas Leben, der Geschichte des ukrainischen Nationalismus, des Judenmordes und des Zweiten Weltkrieges in der Westukraine nimmt zu. Das hängt natürlich mit den politischen Entwicklungen zusammen und der Erkenntnis, dass die nichtaufgearbeitete Geschichte immer wieder zurückkommt und das Leben in der Gegenwart beeinträchtigt. Ukrainischen Historikern fällt es jedoch schwer, meine Bandera-Biographie und die Studie seines Kultes zu rezipieren, weil ich in dem letzten Kapitel ihren Beitrag zur Propagierung dieses Kultes analysiert habe. Das hat einige Historiker verärgert, da sie sich als eine Gruppe verstehen, die die Geschichte nur erforscht und keine geschichtspolitischen Kulte betreibt. Nichtsdestotrotz rezipieren ukrainische Historiker meine Thesen, ohne auf die Studie hinzuweisen oder sie zu zitieren. In der Regel machen sie das sehr vorsichtig und meistens hinter einem Schleier von „Hybridität und Komplexität“ oder einer anderen Rhetorik. Aber auch diese Art der Rezeption ist gut und es freut mich, dass meine Forschung dazu beiträgt, den Prozess des Umdenkens einzuleiten und die Wand des Schweigens bzw. des kollektiven Nichterinnerns zu durchbrechen.

Womit sich ukrainische und auch deutsche Historiker immer noch schwer tun, ist Bandera und die OUN im Kontext des europäischen, globalen oder transnationalen Faschismus zu untersuchen, wobei hier die Interessen etwas anders sind. Ukrainische Historiker optieren dafür, die Ideologie der OUN als „integralen Nationalismus“ zu definieren, selbst wenn das ideengeschichtlich nur bedingt zu der OUN und UPA passt und nicht hilft, die Geschichte dieser Bewegung zu kontextualisieren oder sie innerhalb der europäischen Geschichte zu verorten. Ein Teil deutscher Historiker, vor allem Nationalsozialismusforscher und Osteuropahistoriker, verstehen den Nationalsozialismus als eine besondere Bewegung, die mit dem Faschismus, den sie nicht selten nur auf Italien reduzieren, nur bedingt etwas zu tun hatte, um die durch Deutschland zum großen Teil in Osteuropa begangenen Verbrechen nicht zu relativieren.

Diese Einstellung zur Faschismusforschung ist natürlich auch durch politische Entwicklungen vor und nach 1990 geprägt. In der Sowjetunion wurde das Wort „Faschismus“ als ein Schimpfwort benutzt. Man hat alle Sorten von politischen Feinden als „Faschisten“ bezeichnet. In den Kreisen von Historikern, die sich mit der Ukraine oder auch Polen beschäftigten, wurde die Faschismus-Forschung daher schlechthin ignoriert, um die östlichen Nachbarn nicht zu beleidigen oder zweideutige Erklärungsnarrative aufzustellen. In Folge wurde die angelsächsische und später die transnationale Faschismus-Forschung nicht rezipiert und Individuen, die es doch gemacht haben, wurden in der Regel angefeindet, als Nichtwissenschaftler diffamiert oder aus dem Betrieb verdrängt.
 
Hängt das auch mit aktuellen politischen Fragen zusammen?

Das Ignorieren der transnationalen Faschismusforschung durch deutsche Osteuropahistoriker, vor allem auf dem Feld der ukrainischen oder polnischen Geschichte, hängt natürlich mit politischen Fragen zusammen. Da ukrainische und polnische Historiker den Faschismus in ihren Ländern nicht erforscht haben oder erklärt haben, dass es in Polen oder der Ukraine keinen Faschismus gab oder dass „Faschismus“ nur als ein Kampfbegriff in den sowjetischen Diskursen oder von linken Gruppierungen in Westeuropa benutzt wurde, haben deutsche Osteuropahistoriker die Untersuchung dieses Themas auch ausgelassen und teilwiese sogar tabuisiert. Wenn jemand es doch untersuchte, dann wurde das als eine politische Tätigkeit verstanden und dem „nichtdisziplinierten“ oder „undifferenziert argumentierenden” Historiker wurde die Wissenschaftlichkeit abgesprochen.

„Die Abneigung, den Faschismus auch in der Ukraine, in Polen und im Baltikum zu untersuchen, wird sich auflösen“

Anders war es mit der kroatischen, rumänischen oder ungarischen Geschichte, wo die Erforschung des Faschismus international institutionalisiert und in den Ländern selbst nicht negiert wurde, wodurch niemand auf die Idee gekommen ist, Historiker anzufeinden, die den Faschismus in diesen Ländern untersuchten oder diesen Historikern politische Motive zu unterstellen. Natürlich hat auch der schon erwähnte politische Gebrauch des Wortes in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten, auch der DDR, eine Rolle gespielt und ebenso die Überzeugung, dass der Nationalsozialismus eine Bewegung war, dessen Geschichte nicht kontextualisiert werden sollte, um seine Verbrechen nicht zu relativieren. Ich glaube jedoch, dass auch die Abneigung gegenüber der Erforschung des Faschismus in der Ukraine, Polen oder den baltischen Staaten sich auflösen wird, da die Zahl der Publikationen über den Faschismus in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern zunimmt und die alten durch den Kalten Krieg geformten Strukturen auch an deutschen Lehrstühlen und Instituten nicht ewig halten können.
 
Warum haben ukrainische und deutsche Historiker die Erforschung Banderas und des ukrainischen Nationalismus so lange vernachlässigt und welche Rolle spielt das für die heutige Situation in der Ukraine?

Die Nicht-Erforschung der Geschichte der OUN-UPA bzw. der Massengewalt dieser Bewegung hat bereits im Zweiten Weltkrieg angefangen. Die propagandistischen Publikationen ukrainischer Nationalisten, darunter auch erste apologetische Bücher über die OUN und UPA wurden im Zweiten Weltkrieg und den ersten Jahren danach publiziert. Sie haben die Ermordung von Polen und Ukrainern, die Beteiligung am Holocaust oder die Faschistisierung der Bewegung ausgelassen.

Dieses Narrativ wurde von John Armstrong, dem ersten professionellen Historiker, unkritisch übernommen, welcher die Geschichte der Bewegung in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren erforschte. Später wurde dieses Narrativ von der ukrainischen Diaspora weitergetragen. Armstrongs Monographie “Ukrainian Nationalism” galt bis vor wenigen Jahren als das Standardbuch über die OUN im Zweiten Weltkrieg. Niemand hat sich dafür interessiert, wie Armstrong an seine Befunde gekommen ist oder dafür, warum die Massengewalt der OUN und UPA in seiner Studie fast vollkommen abwesend ist. Die einzige Gruppe von Historikern, die während des Kalten Krieges die Beteiligung ukrainischer Nationalisten am Holocaust erforschte, waren jüdische Geschichtswissenschaftler wie Philip Friedman oder Shmuel Spector, aber ihre Arbeiten wurden außerhalb von Israel und bestimmten Historikerkreisen in den USA und Polen kaum rezipiert.

„Deutsche Historiker haben die Massengewalt der OUN nicht als ihre Forschungsaufgabe gesehen“

Deutsche Historiker haben die Verbrechen der Nationalsozialisten in der Ukraine in den 1990er Jahren zwar gründlich erforscht, aber sie haben sich nur bedingt für die Geschichte der OUN und UPA interessiert und haben die Massengewalt dieser Bewegung nicht als ein Bestandteil ihrer Aufgaben verstanden. Wahrscheinlich war das für die deutsche Geschichtswissenschaft damals nicht relevant oder deutsche Historiker wollten sich nur mit den deutschen Tätern auseinandersetzen und nicht in das Kompetenzgebiet ukrainischer Geschichtswissenschaftler begeben.

Darüber hinaus gab es auch methodologische Probleme. Um die Verbrechen ukrainischer Nationalisten zu erforschen, musste man die Berichte der Überlebenden und andere Egodokumente analysieren. Diese Dokumente wurden jedoch bis vor wenigen Jahren nicht zur Erforschung der Massengewalt benutzt. In Deutschland haben Historiker wie der frühere Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Martin Broszat, sogar erklärt, dass die Dokumente der Holocaust-Überlebenden keinen wissenschaftlichen Wert haben und „mystisch“ sind. Er hat diese für die Holocaustforschung zentralen Dokumente einer „rationalen“ und auf Akten der Nationalsozialisten gestützten Geschichtsbetrachtung gegenübergestellt. Obwohl diese Ansicht heute wohl niemand mehr teilt, hat diese Denkweise den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit dem Judenmord in Deutschland bis vor wenigen Jahren maßgeblich geprägt und die Erforschung des Holocaust in eine bestimmte Richtung gelenkt.

Die erste Publikation über ukrainische Nationalisten, in der die Egodokumente der Überlebenden herangezogen wurden, wurde in Deutschland von Franziska Bruder 2007 veröffentlicht. Im Gegensatz zu Büchern über die Verbrechen der Nationalsozialisten in der Ukraine wurde diese Publikation kaum rezipiert. Vor einem Jahr hat Kai Struve eine gründlich recherchierte Studie der Pogrome in der Westukraine im Sommer 1941 veröffentlicht. Ähnlich wie Bruder hat er mit Hilfe von Egodokumenten und einer breiten Basis anderer Quellen die Beteiligung ukrainischer Nationalisten am Holocaust und anderen Formen der Massengewalt erforscht. Obwohl er die Faschismusforschung standardmäßig ausgelassen hat und die Geschichte der OUN eher national als transnational dargestellt hat, hat Struve eine wichtige Studie über die Massengewalt im Sommer 1941 in der Westukraine vorgelegt, die die Instrumentalisierung dieses Aspekts der Geschichte in Zukunft schwieriger machen wird. Hoffen wir, dass diese Monographie wie auch Bruders Buch von 2007 sowie andere Publikationen, die schwierige Aspekte der ukrainischen Geschichte beleuchten und sie im europäischen Kontext erklären, ins Ukrainische übersetzt werden. Das würde dem Prozess der Geschichtsaufarbeitung in der Ukraine nur zugutekommen.


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