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Titel: Putschversuch in der Türkei als Nabelschau – vergesst die Demokratie

Datum: 18. Juli 2016 um 12:09 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Länderberichte, Medien und Medienanalyse
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Es gibt Tage, da erschaudert man, wenn die ungefilterten politischen Statements unserer Mitbürger auf einen einprallen. Das vergangene Wochenende gehörte dazu. Kaum meldeten die ersten Ticker, dass in der Türkei ein Militärputsch stattfindet, fieberte in den sozialen Netzwerken die gefühlte Mehrheit der Nutzer für die Putschisten – Erdoğan, das wissen „wir“ ja spätestens seit Extra3 und Jan Böhmermanns Schmähgedicht, ist ein korrupter Unsympath, ein Islamist, der gerne prowestliche Demonstranten zusammenknüppelt und Kurden bombardieren lässt. Das ist alles korrekt. Aber rechtfertigt dies einen Militärputsch? Kann man die Demokratie retten, indem man sie abschafft? Oder geht es „uns“ eigentlich gar nicht um Demokratie? Will man den Putschversuch in der Türkei als Lackmustest für „unser“ Demokratieverständnis heranziehen, sind „wir“ wohl durchgefallen. Das ist aber auch kein großes Wunder, da unsere Politik uns mit denkbar schlechtem Beispiel vorangeht. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es gibt wohl am heutigen Tage nichts Undankbareres, als ausgerechnet Recep Erdoğan vor – im Kern natürlich berechtigten – Anfeindungen in Schutz zu nehmen. Erdoğan ist natürlich keine Lichtgestalt der Demokratie und der Menschenrechte und es gibt unzählige Gründe, ihn scharf zu kritisieren. Erdoğan hat jedoch auch vor zwei Jahren die Präsidentschaftswahlen in der Türkei bereits im ersten Wahlgang mit klarer Mehrheit gewonnen und seine Partei, die AKP, kam im letzten November bei den Parlamentswahlen auf fast 50% der Stimmen. Da kann man nun den Kopf schütteln und an der Weisheit der Wähler zweifeln; als Demokrat hat man dieses Ergebnis jedoch auch zu akzeptieren und zu respektieren. Demokratie heißt nun einmal „ein Bürger, eine Stimme“ und überspitzt ausgedrückt ist die Stimme eines bärtigen Hirten aus Anatolien in einer Demokratie nun einmal genau so viel wert wie die Stimme eines westlich orientierten Studenten in Istanbul. Der deutsche, kritische Intellektuelle, der sicherlich nicht einmal weiß, für was die Abkürzung AKP steht, maßt sich also an, besser zu wissen, was für „den Türken“ gut ist, als die türkischen Wähler. Welch Ignoranz, welch Borniertheit!

Es stimmt zweifelsohne, dass Erdoğan demokratische Elemente abgeschliffen hat und in der Türkei eine Präsidialdemokratie mit einem starken Präsidenten an der Spitze einführen will. Komischerweise finden das in den sozialen Netzwerken vor allem die Personen fürchterlich, die Hugo Chávez für dessen autoritären Stil in Venezuela bejubelt haben und noch heute jede Einschränkung demokratischer Rechte durch seinen Nachfolger Maduro rechtfertigen. Selbstverständlich würden diese Leute bei einem Militärputsch in Venezuela – zu Recht – Zeter und Mordio schreien. Aber warum bejubeln sie dann einen Militärputsch in der Türkei?

Was wäre denn nach dem Putsch gekommen?

Selbst wenn man konstatieren muss, dass Recep Erdoğan ein demokratisch gewählter, aber auch kritikwürdiger Präsident ist, so muss man sich bei einem Militärputsch doch bitte auch die Frage nach den möglichen Alternativen stellen und was ein solcher Putsch für eine Gesellschaft bedeutet. Die Vorstellung, dass eine putschende Junta nun „demokratischer“ als der ungeliebte Erdoğan sein könnte, ist mehr als naiv. Die Geschichte zeigt vielmehr ziemlich klar, dass vor allem die Menschen, die man als „intellektuell“ und „kritisch“ bezeichnen könnte, unter einer Militärjunta als erstes eingekerkert und gefoltert werden. Der Mythos von den laizistischen Generälen, die in der Türkei über die Demokratie wachen, ist bei näherer Betrachtung ein naives Märchen. Den türkischen Generälen ging es vielmehr um die kemalistische Tradition der Trennung von Staat und Religion, aber nicht um Demokratie oder gar Menschenrechte. Während der letzten türkischen Militärjunta wurden 650.000 politische Verhaftungen vorgenommen, die Folter gehörte zur Tagesordnung, Menschenrechte wurden de facto ausgesetzt, der Krieg im Inneren forciert und die Korruption und Vetternwirtschaft der Militärs schadete dem Land schwer. Dies Alles sollte man im Hinterkopf haben, ehe man der Türkei einen erfolgreichen Militärputsch wünscht. Nicht umsonst haben auch sämtliche politische Parteien der Türkei den Putschversuch bereits wenige Minuten nach den ersten Meldungen scharf kritisiert – auch die linke „Kurdenpartei“ HDP, die zu den erbittertsten politischen Feinden Erdoğans gehört.

Die Anhänger der Putschisten – so scheint es mir, auch wenn dies sicher eine Nabelschau ist – waren in der Nacht zum Samstag nicht in der Türkei, sondern in den sozialen Netzwerken Deutschlands zu finden. Hier feierte vor allem die Schwarz-Weiß-Malerei fröhliche Urständ. Da Erdoğan bekanntlich das „personifizierte Böse“ ist, können die Putschisten natürlich nur „die Guten“ sein. Es ist ohnehin erschreckend, wie Politik und Weltgeschichte vom „Publikum“ mehr und mehr als Spektakel wahrgenommen werden, bei dem man sich als Fan einer Seite anschließen und über die andere Seite herfallen muss; gerade so als schaue man sich ein Fußballspiel an. Als aufgeklärter, liberaler und linker Deutscher wird man sich jedoch weder Erdoğans AKP noch einer putschenden Generalität anschließen können. Das macht aber auch nichts. Uns sollte vielmehr bewusst sein, dass es hier nicht um „uns“, sondern um die Türken geht – ein Volk, dass mit klarer Mehrheit Erdoğan und die AKP gewählt hat und die dunkle Zeit der Militärdiktatur nicht nur aus einer Schnelllektüre der entsprechenden Seite aus der Wikipedia, sondern oft aus eigener Erfahrung kennt.

Die Eliten schreiten voran, wir stolpern hinterher

Aber kann man dem „normalen“ Nutzer der sozialen Netzwerke da überhaupt Vorwürfe machen? Die etablierten Qualitätsjournalisten sind ja auch nicht besser. Da fabuliert beispielsweise ein Frank Nordhausen in der Frankfurter Rundschau etwas von „Islamisten“, die die „Putschisten“ besiegt hätten. Nordhausen ist dabei keinesfalls alleine, auch viele seiner Kollegen zweifelten offen daran, dass „bärtige“ Männer überhaupt ein Recht darauf hätten, die Demokratie zu verteidigen. Ganz klar: Wenn ein westlicher Student im Gezi-Park gegen türkische Polizisten aufbegehrt, verteidigt er wie selbstverständlich die Demokratie. Stellt sich ein bärtiger AKP-Anhänger putschenden Militärs in den Weg, dann ist er nur ein Islamist, der mit Demokratie nichts zu tun haben kann. Demokraten sind immer nur die, die für den Westen und westliche Werte auf die Straße gehen. Wer einen Bart oder gar als Frau ein Kopftuch trägt, gehört nicht dazu! Wäre ja auch noch schöner.

Wie diese seltsame Deutung von Demokratie und Militärherrschaft aussehen kann, hat ja unsere hohe Politik vor drei Jahren vortrefflich demonstriert. Das ägyptische Volk hatte 2011 die Militärjunta unter Husni Mubarak vom Hofe gejagt und eine echte Demokratie eingeführt. In den ersten freien Wahlen wählten die Ägypter dann aber ausgerechnet die Muslimbrüder, also eine Bewegung, die man ganz sicher nicht als prowestlich bezeichnen kann. Ob der darauffolgende ägyptische Präsident Mohammed Mursi ein „lupenreiner Demokrat“ war – darüber lässt sich sicherlich vortrefflich streiten. Im Vergleich zu den Militärdiktaturen vor und nach ihm war er jedoch geradezu ein Solitär … aber das soll nicht viel heißen. Als im August 2013 das ägyptische Militär mit brachialer Gewalt die gewählte Regierung Mursi wegputschte, waren im Westen jedenfalls sowohl die allermeisten Politiker als auch fast alle Leitartikler der Meinung, dass dieser Putsch ein gutes und gerechtes Werk war. Demokratie? Aber doch bitte nicht, wenn die „dummen Araber“ auf einmal irgendwelche „Bärtigen“ wählen. Dann lassen wir das mit der Demokratie doch lieber.

Die Parallelen zum Putschversuch in der Türkei liegen auf der Hand – nur, dass es diesmal nicht die „Eliten“ aus Politik und den Medien, sondern das gemeine Volk war, das die Demokratie schnell vergessen hat. Wir lernen schnell und gründlich. Diesmal mussten wir jedoch tags drauf von den Eliten wieder „genordet“ werden. Denn auch für unsere Eliten gibt es da kleine, aber feine Unterschiede: Hätte Mohammed Mursi für „uns“ den IS bekämpft und „uns“ vor den Flüchtlingen aus den nahöstlichen Kriegsgebieten bewahrt, wäre er wahrscheinlich noch im Amt; zumindest hätte man den Militärputsch gegen ihn dann wahrscheinlich anders bewertet. Man lerne: Demokratie ist nicht gleich Demokratie und Militärputsch ist nicht gleich Militärputsch. Die Welt ist nicht schwarz, nicht weiß, sie besteht aus Grautönen. Warten Sie also besser ab, bevor sie der nächsten putschenden Junta zujubeln – er könnte die falsche sein.

Ceterum censeo: Auch ich kritisiere Recep Erdoğan und die AKP scharf. Seine „Reaktion“ auf den Putsch ist alles andere als demokratisch und es besteht die reale Gefahr, dass er den Putsch dazu nutzt, die Demokratie in der Türkei noch weiter zu beschädigen. Wenn man jedoch nur die Wahl zwischen einer „beschädigten“ Demokratie und gar keiner Demokratie hat, sollte man als Demokrat die beschädigte Demokratie vorziehen.


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