Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Warum ist die EU so unpopulär geworden? Sechs Vorschläge für den Neuanfang.
Datum: 29. Juni 2016 um 16:59 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Lobbyismus und politische Korruption, Soziale Gerechtigkeit, Steuerhinterziehung/Steueroasen/Steuerflucht, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
Mit dem Ausscheiden der Briten ist die Europäische Union nicht automatisch auf einem guten Weg. Jenseits des unerträglichen Verhaltens der britischen Konservativen belasteten und belasten auch eine Reihe von ideologischen und tatsächlichen Hypotheken die Arbeit und das Ansehen der Europäischen Union. Für einen Neuanfang der EU müssten die Voraussetzungen erst geschaffen werden. In einem Abschnitt A. werden diese Hypotheken genannt und kurz erläutert. In einem Abschnitt B. werden sechs zentrale Vorschläge gemacht. Bei diesen konstruktiven Überlegungen kann man getrost und optimistisch davon ausgehen, dass eine Wirtschaftsunion wie die EU mehr unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten zulässt als bisher angenommen und praktiziert wird. Von Albrecht Müller
Fehlentwicklungen und Hypotheken der Europäischen Union
Über die Fehlentwicklungen wird auch jetzt im Umfeld der EU Gipfel mit und ohne den britischen Premierminister nicht offen gesprochen. Teilweise werden die Geschäfte wie bisher weiter betrieben, zum Beispiel das Durchschleusen der Freihandelsabkommen ohne Rücksicht auf die Bedenken vieler Menschen, vermutlich der Mehrheit der Menschen in den Ländern Europas.
Hypothek: Die herrschende neoliberale Ideologie und das damit verbundene Personal, die führenden Köpfe der Union.
Der in Brüssel und Europa herrschende neoliberale Geist und die Ideologie, die Brüssel besetzt hat und die von dort weiterverbreitet wird – das sind Hindernisse und Hypotheken. Und für diesen Ungeist standen ja nicht nur die Briten Pate – federführend war über lange Zeit der portugiesische Kommissionspräsident Barroso.
Schauen wir uns die heute tonangebenden Politiker an: der Luxemburger Juncker, der Holländer Jeroen Dijsselbloem, der deutsche Schulz, der EU-Ratspräsident Tusk und im Hintergrund tonangebend die Deutschen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble – wie will man mit diesen Personen einen Neuanfang schaffen? Will man mit Juncker und dem Holländer die Steueroasen austrocknen? Das könnte zwar durch das Ausscheiden Großbritanniens leichter werden, weil Großbritannien von den Steueroasen besonders profitiert hat. Aber Luxemburg und die Niederlande haben davon ähnlich profitiert wie Großbritannien.
Und hat das vorhandene Personal erkennbar verstanden und akzeptiert, welche Bedeutung die europäische Errungenschaft der Sozialstaatlichkeit hatte und wieder haben könnte? – Die genannten Personen und andere mehr sind Stolpersteine und sie sind vorerst vorhanden und in Ämtern, auf jeden Fall scheiden sie als Motoren eines grundlegenden und sinnvollen Neuanfangs aus.
Offenbar herrscht heute beim Führungspersonal Europas kein ausgeprägtes soziales und kein Zukunfts-Bewusstsein. Wenn dies nicht fehlen würde, dann hätten wir massive Interventionen der Brüsseler Institutionen gegen die Jugendarbeitslosigkeit in europäischen Ländern erleben müssen. 50 % Jugendarbeitslosigkeit zuzulassen, ohne von Seiten der Kommission Druck auszuüben und zum Beispiel den Rücktritt anzubieten, das lässt tief blicken.
Ähnliches gilt für die Öffnung der Schere zwischen den Einkommen der arbeitenden Menschen und den oberen Einkommen. Eine skandalöse Entwicklung. Wo waren die Mahnungen aus Brüssel? Wo sind sie?
Zugegeben, es gibt Elemente des Rechtssystems, die sinnvollerweise angepasst bzw. angenähert werden sollten. Ein Unternehmer sollte sich innerhalb der Union zum Beispiel darauf verlassen können, dass Kaufverträge Kaufverträge sind und dass man sein Recht auf Zahlung einer Rechnung auch in einem anderen Land durchsetzen kann. Es gibt sinnvolle Regelungen für die Gesundheitsvorsorge und den Umweltschutz, die man sinnvollerweise vereinheitlicht. usw.
Aber, es gibt eine Fülle von Regeln und Grundsatzentscheidungen über das Zusammenleben, die eine Vereinheitlichung nicht verlangen. Im Gegenteil: der EU hätte eine größere Vielfalt der sozialen Regelungen gut getan.
Ich will ein paar Beispiele nennen. Sie betreffen so wichtige Fragen wie die Vorsorge vor den Risiken des Lebens, Krankheit, Alter, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit. Und sie betreffen zum Beispiel die Entscheidungen über die Produktion von öffentlichen bzw. privaten Gütern und Dienstleistungen.
Es ist unnötig, auf Privatisierung der Eisenbahnen, der Elektrizitätsversorgung, der Telekommunikation und der Wasserversorgung, zu drängen. Wenn zum Beispiel die Schweiz sich dafür entscheidet, ihre Eisenbahn staatlich zu besitzen und zu organisieren, dann könnte das ein passendes Vorbild auch für andere Staaten Europas sein.
Es war absolut unnötig, die Energieversorgung Deutschlands aus öffentlicher, vornehmlich kommunalpolitischer Verantwortung herauszulösen.
Es war unnötig, Stadtwerke zu privatisieren.
Es war nachweisbar sinnlos, die Wasserversorgung in Berlin und auch anderswo teilzuprivatisieren.
Hier könnten neue fruchtbare Ansätze geschaffen werden, indem man nüchterner und weniger ideologisch bestimmt überlegt, wie man die Aufteilung in öffentliche Vorsorge und private Produktion von Diensten und Leistungen organisiert.
Ein klarer Fall ist auch die Organisation der Risikovorsorge: wir haben bei uns ja erlebt, welche Tücken und Schwächen die Privatisierung der Altersvorsorge hat. Die Riester-Rente und die anderen Formen sind ausgemachte Flops. Hier könnte ein Land ein wirkliches Beispiel für Gesamteuropa sein, wenn es diese wichtige Risikovorsorge öffentlich organisiert. Wir Deutschen könnten dieses Beispiel sein, wenn wir uns dessen besinnen, dass die Gesetzliche Rente und das Umlageverfahren vorbildlich sind.
Der große Irrtum von Brüssel: privat organisiert sei effizienter und damit kostengünstiger.
Die Altersvorsorge ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass dies nicht stimmt. Öffentliche Verantwortung und die daraus folgende Organisation kann sehr effizient sein.
Hypothek: Der Mangel an ökonomischen Sachverstand.
Die schwache ökonomische Kompetenz wurde und ist immer noch an vielen Stellen sichtbar:
Hypothek: Die Großmannssucht der EU, sichtbar in der fast schon zwanghaften Manie zur Erweiterung der Europäischen Union.
Das ist für die gesamte Fehlentwicklung nicht unbedeutend. Wir sollten uns daran erinnern, dass der unmittelbare Anlass und Hebel zur Entwicklung der Krise in der Ukraine und dem damit verbundenen Leid und der Kriegsgefahr eng mit dem Erweiterungsstreben der Europäischen Union zusammenhing und -hängt.
Die Verantwortlichen könnten darauf hinweisen, dass dieser Drang nicht alleine selbst initiiert ist, dass NATO und USA das so wollen. Das ist vermutlich richtig. Deshalb kann der Hinweis auf die nächste Fehlentwicklung und Hypothek nicht fehlen:
Hypothek: Das zugelassene und geförderte Steuerdumping.
Die Verantwortlichen in der Europäischen Union hätten nicht zulassen dürfen, dass sich einzelne Länder wie zum Beispiel Irland und die davon profitierenden Wirtschaftskonzerne ihr Geschäftsmodell beim Steuerdumping gegenüber anderen europäischen Völkern suchen.
Hypothek: Die Demütigung einzelner Völker Europas, zum Beispiel der Griechen.
Dass dies zugelassen worden ist, dass die Kommission und der Präsident des Europäischen Rates und auch das Parlament nicht grundsätzlich und offensiv thematisiert haben, was hier vorgeht, ist ein bleibender Skandal. Er hat Wunden gerissen. Sie zu heilen wird ausgesprochen schwierig sein.
Hypothek: Die Verfilzung von Brüsseler Administration und Kommission mit den berichtenden Medien.
Letztere sind so eng mit dem Brüsseler Denken verfilzt, dass man von der notwendigen kritischen Begleitung des europäischen Geschehens in den deutschen Medien nicht mehr sprechen kann. Propaganda für die europäische Union und die europäischen Einrichtungen ersetzt nicht die Qualität der Politik. Die Brüsseler Propaganda ist ausgesprochen gut und erfolgreich. Aber sie hat mit dafür gesorgt, dass die Völker am Rande Europas nicht sachlich auf die Entwicklung der EU schauten und daraus für ihre Beitrittsbegehren Konsequenzen zogen. Sie haben sich an einer Propaganda orientiert. Und dann tritt danach oft tiefe Enttäuschung ein. Auch das ist ein aktuelles Problem.
Dieser Gedanke ist wichtig, weil die Gefahr groß ist, dass sich die führenden Personen darauf verständigen, Europa mit Propaganda wieder populär zu machen und auf diese Weise versuchen, auf die notwendigen Veränderungen in der Sache verzichten zu können.
Sechs Vorschläge für den Neuanfang
Ich beschränke mich auf einige wenige wichtige Punkte.
Die EU muss auf die sozialstaatliche Tradition Europas zurückgreifen.
Sozialstaatlichkeit ist ein gutes und europäisches Prinzip des Zusammenlebens. Soziale Sicherheit ist das Vermögen der „kleinen Leute“. Das hätte praktische Konsequenzen: Systeme der sozialen Sicherung fürs Alter oder bei Krankheit oder bei Arbeitslosigkeit müssen wieder „hoffähig“ werden, das heißt anerkannt und verbal und sachlich gefördert werden.
Die Verteilung von Einkommen und Vermögen muss auch von Brüssel her als großes Thema erkannt und thematisiert werden. Die europäischen Einrichtungen sollten Druck darauf ausüben, dass in den einzelnen Ländern die Besteuerung so angelegt wird, dass wenigstens ein Stück Umverteilung von Einkommen und Vermögen geschaffen wird.
Die Rechte von Arbeitnehmern und Arbeitnehmern müssen gestärkt werden.
Massive Beschäftigungspolitik. Konkret: Die deutsche Bundesregierung sollte ein 100-Milliarden-Programm auflegen.
Zu tun gibt es genug. Die Infrastruktur ist verrottet. Es fehlt an Bildung und ökologischer Vorsorge. Und das Programm ist spielend leicht zu finanzieren.
Heiner Flassbeck hat in einem Artikel aus Anlass der Sperrung einer Brücke im Saarland ein solches Programm und seine Finanzierung schon näher erläutert. Hier ist der entsprechende Artikel.
Ein solches Programm hätte eine hilfreiche und segensreiche Wirkung für Deutschland. Es würde zugleich abstrahlen auf andere Länder Europas und damit insgesamt helfen. Es wäre auch eine Art Wiedergutmachung für den üblen Umgang Deutschlands mit Völkern, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind – unter anderem auch deshalb, weil die europäische Union versäumt hat, für eine einigermaßen gleichgewichtige Entwicklung der Leistungsbilanzen und der dahinter steckenden Lohnstückkosten zu sorgen. Siehe oben A. 3.
Die europäische Kommission, der europäische Rat und möglichst auch das Parlament sollten öffentlich erklären, dass es künftig jedem Volk der Europäischen Union überlassen ist, zu entscheiden, welche Leistungen, Dienste und Güter privat organisiert und produziert oder öffentlich produziert werden.
Die Daseinsvorsorge sollte in der Regel öffentlich betrieben werden. Ähnlich auch Bildung und Ausbildung.
Damit wird die Vielfalt in Europa gefördert. Es entsteht indirekt auch eine Art wohltuender Wettbewerb um die besten gesellschaftlichen Lösungen, um die beste Sozialtechnik sozusagen.
Europa sollte sich vom Einfluss der USA lösen.
Das hat praktische Konsequenzen zum Beispiel für den Umgang mit den Freihandelsabkommen. Dafür spricht letztlich nichts.
Es hat praktische Konsequenzen für militärische Aktivitäten. Europa sollte explizit und implizit auf den Abbau der Konfrontation in Europa setzen, die Sanktionen gegen Russland beenden und seine Zukunft in der Gemeinsamen Sicherheit zwischen West und Ost suchen, so wie das 1989 und 1990 vereinbart war. Europa lädt die USA ein, am Prozess zum Abbau der Konfrontation in Europa mitzuwirken. Die USA bleiben unser Partner. Sie sind aber nicht der Imperator.
Zum Abbau der Konfrontation ist es wichtig, dass die europäischen Einrichtungen das intensive Gespräch zwischen Russland und der EU suchen und dabei die Völker an der Grenze zu Russland in besonderer Weise einbeziehen. Das wird nicht einfach. Aber es gibt in der jetzigen Situation keine Alternative.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=34029