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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Jeremy Corbyn schlägt zurück
Datum: 29. Juni 2016 um 11:38 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Länderberichte, Parteien und Verbände
Verantwortlich: Jens Berger
Was sich seit 1.00 Uhr Sonntagnacht in der britischen Labour Party abspielt, ist eine moderne Version der Nacht der langen Messer – ein sorgfältig initiierter Putsch einer kleinen Schar von Abgeordneten des rechten Parteiflügels, offenbar mit tatkräftiger Unterstützung einer einschlägigen PR-Agentur. Gestern haben über 80% der Labour-Abgeordneten im Unterhaus ihrem Parteichef das Vertrauen entzogen … auf der anderen Seite marschierten jedoch spontan mehr als 10.000 Corbyn-Anhänger im Zentrum Londons auf und stärkten ihm den Rücken. Eine kleine, privilegierte Parteielite, die am liebsten Tony Blairs neoliberale und neokonservative New Labour wiederhaben will, hat den Kampf mit der Parteibasis aufgenommen – sofern Corbyn stark bleibt, können die Putschisten diesen Kampf eigentlich nur verlieren. Von Jens Berger
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Vergessen Sie bitte schnell, was Sie aus den immer noch spärlichen Berichten der deutschen Medien über den „Machtkampf“ innerhalb der Labour Party zu wissen glauben. Es geht hier nicht um den Brexit und nicht darum, dass Jeremy Corbyn angeblich zu wenig Einsatz für das „Remain-Lager“ geleistet hätte. Diese Argumente sind vorgeschoben und sollen hier nicht näher debattiert werden.
Die Intrigen gegen den Parteivorsitzenden setzten vielmehr bereits kurz nach seinem überraschenden Wahlerfolg ein. Seitdem schießt ein kleiner Kreis von Parteieliten scharf, jedoch meist aus dem Verborgenen, gegen den bei ihnen verhassten Parteichef. Die „Rebellen“ gehören dem Lager derer an, die man in Großbritannien als die „Blairites“ – also die „Blairisten“ – bezeichnet; einer neoliberalen und neokonservativen Strömung innerhalb der Labour Party, deren führende Köpfe in der Fabian Society organisiert sind. Will man ein deutsches Pendant dazu finden, käme wohl am ehesten der Seeheimer Kreis der SPD in Frage.
Der offene Krieg innerhalb der Parteispitze begann bereits Anfang Dezember 2015 – also rund 50 Tage nach dem Wahlsieg Corbyns. In einer Unterhaus-Debatte über britische Militärschläge in Syrien ergriff Hilary Benn, der (nun ehemalige) Schattenaußenminister und Fraktionsvorsitzende von Labour im Unterhaus, das Wort und hielt eine emotionale Grundsatzrede, in der er Militärschläge gegen Syrien ausdrücklich begrüßte und sich damit frontal gegen seinen Parteichef stellte, der dies kategorisch ablehnt. Benn erhielt tosenden Applaus von den regierenden Tories und der Murdoch-Presse – Jeremy Corbyn wusste spätestens jetzt, dass seine schlimmsten Gegner im Kreis seiner Parteifreunde zu finden sind.
Zahlreiche weitere Kampagnen gegen Jeremy Corbyn folgten. Insider behaupten, dass die Informanten der Boulevardzeitungen, die sich bei diesen Kampagnen besonders hervortaten, stets Hilary Benn und Angela Eagle waren, die als Schattenministerin des rechten Parteiflügels ebenfalls den „Fabians“ angehört und während der letzten Tage immer wieder als mögliche Nachfolgerin von Jeremy Corbyn ins Spiel gebracht wurde. Beweisen lässt sich dies freilich (noch) nicht.
Es gibt jedoch harte Indizien, dass die „Fabians“ auch über externe Unterstützung verfügten. So fand der britische Blogger Steve Topple in einem überaus interessanten Hintergrundartikel heraus, dass der aktuelle Putschversuch zielgerichtet und minutiös aus dem Umfeld der PR-Agentur Portland Communications kam, bei der die ehemaligen PR-Berater Tim Allan und Alastair Campbell in führenden Positionen sitzen. Allan war früher der Chefberater und das PR-Genie von Tony Blair, Campbell ist der berühmt-berüchtigte Spin Doctor, der sich das „Irak Dossier“ ausdachte – also die gefälschten „Beweise“ für irakische Massenvernichtungswaffen, die von den USA und Großbritannien als Grund für den Zweiten Irakkrieg instrumentalisiert wurden. Campbells Hass auf Corbyn ist dabei nicht nur politisch motiviert. Spätestens nachdem Corbyn angekündigt hat, den für die nächste Woche erwarteten „Chilcot-Report“ über mögliche Kriegsverbrechen der Blair-Regierung als Grundlage für einen Untersuchungsausschuss zu nutzen, geht es für Campbell auch um strafrechtliche Folgen.
So unerwartet das Brexit-Votum der Briten ausfiel, so spontan nutzte der rechte Parteiflügel die Chance, den Brexit gegen Corbyn zu verwenden. Sonntagnacht um 1.00 sollte Hilary Benn den ersten Dolch in den Rücken des Parteivorsitzenden rammen. Benn kündigte Corbyn um diese Zeit telefonisch an, dass er ihn am nächsten Tag öffentlich für den Brexit mitverantwortlich machen und seinen Rücktritt fordern würde. Corbyn blieb keine Wahl – er entließ Benn von allen seinen Ämtern. Dies war der geplante Startschuss für Phase 2. Von nun an sollten rund alle zwei Stunden eingeweihte Mitglieder des Schattenkabinetts ihren Rücktritt erklären. So sollte der Eindruck eines sinkenden Schiffs vermittelt und ein Mitläufer-Effekt generiert werden. Mit Erfolg – aus ursprünglich zehn eingeweihten Schattenministern wurden schlussendlich zwölf Abtrünnige und vor allem in den hinteren Reihen des Unterhauses wollten zahlreiche „Ratten“ schnellstmöglich das vermeintlich sinkende Schiff verlassen und liefen zu den „Blairites“ über, so sie nicht ohnehin schon dem rechten Parteiflügel angehörten. Den bisherigen Höhepunkt erreichte die Revolte gestern Nachmittag, als die Fraktion mit 172 zu 40 Stimmen dem Parteivorsitzenden das „Misstrauen“ aussprach. An dieser Stelle sollte eigentlich Schluss sein. Doch der rechte Parteiflügel hat die Rechnung ohne die Parteibasis, ohne die Sozialen Netzwerke und ohne den Parteivorsitzenden selbst gemacht, dessen Standhaftigkeit nur mit der eines Claus Weselsky zu vergleichen ist.
Momentum-Solidaritätskundgebung vom 27. Juni
Während die Putschisten hinter verschlossenen Türen ihren nächsten Schritt planten, strömten mehr als 10.000 (konservative Schätzung der Londoner Polizei) meist junge Corbyn-Anhänger den Parliament Square, um ihrem politischen Vorbild den Rücken zu stärken – spontan, nur auf Basis gegenseitiger Einladung in den Sozialen Netzwerken. Dieses „Momentum-Movement“ ist die „Fußtruppe“ des linken Labour-Flügels. Und dieser linke, junge Parteiflügel hat mittlerweile die Partei für sich eingenommen. Seit Corbyns Wahlerfolg konnte die Partei die Zahl ihrer Mitglieder von rund 200.000 auf rund 400.000 verdoppeln. Dass Jeremy Corbyn die absolute Mehrheit der Parteibasis hinter sich hat, steht also außer Zweifel. Corbyns zweite große Stärke ist, dass er auch die mächtigen Gewerkschaften hinter sich hat, die mit ihrem Geld, ihrer Logistik und ihrem Einfluss im Umfeld von Labour der wichtigste interne Machtfaktor sind. So lange Corbyn die Gewerkschaften an seiner Seite hat, wird er den Kampf um die Partei daher auch nicht verlieren können. Und die führenden Gewerkschaftsfunktionäre haben sich bereits klar und deutlich auf Corbyns Seite positioniert.
Welche Möglichkeiten haben die Putschisten jetzt noch? Immerhin haben ja 80% der Abgeordneten Corbyn das Vertrauen entzogen. Ja, aber hier muss man unbedingt zwischen dem Unterhaus und der Partei unterscheiden. Die Abgeordneten des Unterhauses wurden von der Labour Party in den jeweiligen Wahlkreisen nominiert. Der Parteivorsitzende wiederum wurde von der gesamten Parteibasis gewählt und nur die Parteibasis kann ihm daher auch das Misstrauen aussprechen. Abgeordnete können eine Regierung, nicht aber einen Parteivorsitzenden über ein Misstrauensvotum zu Fall bringen. Die Putschisten mögen zwar die Mehrheit der Medien auf ihrer Seite haben, nutzen wird ihnen das jedoch nichts, solange die Basis Corbyn weiterhin unterstützt.
Wie könnte der Machtkampf ausgehen? Momentan sieht alles danach aus, dass Jeremy Corbyn seinen Führungsanspruch durch Neuwahlen von der Parteibasis bestätigen lassen will. Danach werden die Abgeordneten des rechten Parteiflügels zu zittern haben. Denn die Basis wird dann auch darüber zu entscheiden haben, wer bei den nächsten Wahlen – die schon sehr bald stattfinden könnten – für Labour auf Wahlkreisebene antreten darf. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass der rechte Parteiflügel dabei kräftig dezimiert wird. Noch nicht einmal die Corbyn-Nachfolgerin in spe Angela Eagle hat ihren eigenen Wahlkreis hinter sich. Dank des Putsches von rechts hat Labour also die Möglichkeit, sich nicht nur als Partei neu zu erfinden, sondern auch die Parteieliten auszutauschen. Drücken wir den britischen Genossen die Daumen, dass dies gelingen wird.
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