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Titel: Textfassung des Vortrags von Albrecht Müller bei „Stopp Ramstein“. Und: Ist die Spirale der Eskalation zwischen NATO und Russland vom Himmel gefallen?
Datum: 21. Juni 2016 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Friedenspolitik, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Am 14. Juni hatten wir auf das Video mit der Rede „Wir wollen keine Konfrontation mit Russland und laden die USA herzlich ein, gemeinsam in Europa den Frieden zu sichern“ verlinkt. Hier folgt die Textfassung. Die Rede ist sehr aktuell – wie man zum Beispiel an den Einlassungen von Außenminister Steinmeier wie auch an einer heute (mit Sperrfrist 12 Uhr) veröffentlichten, im Kern begrüßenswerten Erklärung des Willy-Brandt-Kreises sehen kann. Eine kurze Kommentierung dieser Erklärung folgt später. Albrecht Müller
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Soviel vorweg: Die Autoren des Willy-Brandt-Kreises müssen sich die Fragen gefallen lassen, ob die „zwischen Russland und der NATO eingetretene Eskalationsdynamik“ vom Himmel gefallen ist und ob der Westen und Russland in gleicher Weise für die neue und gefährliche militärische Konfrontation verantwortlich sind. Meine hier folgende Rede vom 10.6.2016 in Kaiserslautern enthält die ausführliche Antwort auf diese Fragen. Die kurze Antwort lautet: Nein.
Einführung Albrecht Müllers
bei der Vortrags- und Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Kampagne Stopp Ramstein am Freitag den 10. Juni 2016 19:00 Uhr in der Versöhnungskirche, Kaiserslautern
Thema der Veranstaltung:
(Drohnen-) Kriege beenden!
(Der Text entspricht in wesentlichen Teilen der gehaltenen Rede, ergänzt um Teile des Entwurfs, die wegen der Kürze der Zeit beim Vortrag gestrichen worden waren.)
Guten Abend, verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Frau Reimann, lieber Herr Wimmer.
Was verbindet uns?
Erstens: Wir sind hier, weil wir gescheitert sind. Wir sind hier, weil wir betrogen worden sind.
Zweitens: Wir sind hier, weil wir trotzdem nicht aufgeben. Nicht weil wir Helden sind, es bleibt uns nichts Anderes übrig, wenn wir überleben wollen und wenn wir wollen, dass unsere Kinder und Enkel auch noch leben können.
Hoffentlich habe ich Sie mit diesen beiden Anfangsbemerkungen nicht hoffnungslos entmutigt. Aber: es bleibt uns nichts Anderes übrig, als der Wirklichkeit in die Augen zu schauen. Diese ist bitter:
Wir sind in der Zeit nach 1989 maßlos und in großem Stil betrogen worden.
Wir Älteren, die damals engagiert waren, sowieso. Die jüngeren, weil der Betrug ihre Zukunft betrifft, ja sogar ihr Leben kosten könnte.
Das klingt etwas rätselhaft. Es ist aber tatsächlich nicht rätselhaft. Ich will erläutern, was ich meine. Und dabei auf meine persönlichen Erfahrungen zurückgreifen:
Entspannung, Versöhnung und vertrauensbildende Maßnahmen raubten den Militaristen auf beiden Seiten die Argumente. Das ist sehr aktuell.
Unter der Überschrift „Frieden in gemeinsamer Sicherheit“ steht zu lesen:
„Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen.“
Und weiter heißt es von den militärischen Bündnissen Warschauer Pakt und NATO:
„Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.“
So weit waren wir schon einmal!
„Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen“,
heißt es dann noch. Und von Abrüstung und nicht von Aufrüstung ist die Rede. Der Text wäre wegweisend für heute.
Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die diese Politik mitbewirkt und mitgetragen haben und auch die handelnden Personen – von Helmut Kohl über Gorbatschow, Willy Brandt, Egon Bahr, Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Richard von Weizsäcker bis zu Willy Wimmer, den ich damals noch nicht persönlich kannte – wir alle waren überzeugt davon, dass es in Europa keinen Graben und keine Mauer und keinen Stacheldraht und auch kein Gegeneinanderrüsten mehr geben soll. Wir waren überzeugt davon, dass das auch geht.
Dann wurde alles anders. Wir wurden um die Früchte der Friedenspolitik betrogen.
Die NATO wurde bis an die Grenze Russlands ausgedehnt. Deutlich imperialistische Züge bestimmten und bestimmen jetzt die Politik des Westens.
Von dieser grundlegenden Änderung, vom Betrug, wie ich das nenne, hat die deutsche Öffentlichkeit nicht viel wahrgenommen. Willy Wimmer hat mir davon berichtet, dass Helmut Kohl, der Bundeskanzler, anfangs der Neunzigerjahre des Öfteren besorgt aus den USA zurückkam und davon berichtete, dass man dort offensichtlich nicht mehr viel von den gemeinsamen Verabredungen hielt. Er hat miterlebt, wie Helmut Kohl sich Sorgen machte wegen der Neigung der USA, die Konfrontation neu aufzubauen und die NATO nach Osten auszudehnen.
Willy Wimmer hat dann später, 2000, in einem Brief an den dann amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder von den imperialen Absichten berichtet, die auf einer Konferenz in Bratislava, die vom American Enterprise Institute und vom State Department gemeinsam ausgerichtet war, spürbar wurden. Da ging es um die Ausdehnung des Machtbereichs des Westens in Richtung Russland.
Heute müssen wir feststellen, dass die westliche Politik grundlegend auf den Kopf gestellt worden ist: Wir führen Krieg, auch wir Deutschen haben den Krieg auf dem Balkan mitgemacht. Die westlichen Alliierten führen im Irak, in Libyen, in Syrien, in Afghanistan, an vielen Stellen Afrikas Krieg.
Der Westen maßt sich an zu entscheiden, wie Völker und von wem sie regiert werden sollen; der Westen verfolgt deshalb an vielen Stellen die Strategie des sogenannten Regime Change – das ist eine Zielsetzung und eine Strategie, die wahlweise alle Länder betreffen kann, deren Regierungen uns nicht genehm sind: Gaddafis Libyen, Assads Syrien, demnächst vielleicht Putins Russland.
Der Auftrag der Bundeswehr wurde verändert. Die Beschränkung auf Verteidigung beseitigt.
Das sind wirklich gravierende Veränderungen.
Mir waren an zwei Ereignissen anfangs der Neunzigerjahre Zweifel daran gekommen, ob die im Westen führenden Kräfte die Erfolge der Ost- und Vertragspolitik erhalten und genießen wollen:
Es ist wahrscheinlich, dass im Umfeld der Verträge zur deutschen Einheit de facto die Vormachtstellung der USA über unsere Außen- und Sicherheitspolitik und vor allem die Nutzung deutschen Territoriums für Kriegshandlungen festgeschrieben worden ist. Aber dies kann nun wirklich kein Dauerzustand sein.
Wir sind um die Früchte der vergangenen Friedenspolitik betrogen worden. Das ist kein Zufall. Die ethische Grundeinstellung zum Umgang mit anderen Völkern, der Geist, der die Außen- und Sicherheitspolitik heute bestimmt ist ein diametral anderer als zu Beginn des Entspannungs- und Versöhnungspolitik.
In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Willy Brandt vom 28. Oktober 1969 heißt es:
„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen.“
„Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen!“
heißt es im oben zitierten Berliner Grundsatzprogramm der SPD.
In seiner Nobelpreisrede sagte Willy Brandt 1971:
„Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. Kein nationales Interesse lässt sich heute noch von der Gesamtverantwortung für den Frieden trennen. Jede Außenpolitik muss dieser Einsicht dienen.“
Wir sind inzwischen meilenweit von solchen Einsichten entfernt. Von deutschem Boden geht Krieg aus. Von deutschem Boden aus wird der Einsatz von Drohnen vermittelt und gesteuert, um Menschen zu töten.
Und der Geist der Verantwortlichen hat sich völlig verändert:
„Dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen“.
Das ist Originalton des amtierenden Bundespräsidenten Gauck.
Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen sind im Januar 2014 in München bei der Sicherheitskonferenz gemeinsam aufgetreten und haben mehr internationale Verantwortung gefordert und versprochen; damit war unmissverständlich mehr militärischer Einsatz gemeint.
Man muss sich darüber klar werden, wie verschieden der Geist ist,
Die eine Konzeption, die Konzeption der gemeinsamen Sicherheit geht davon aus, dass man sich mit allen Völkern verständigen kann, dass man sich dann allerdings darum bemühen muss. Zu diesen Völkern, um die man sich bemüht hat, gehörte bis 1990 auch Russland.
Die andere Konzeption, die Konzeption der Aufteilung der Welt in Gut und Böse, geht davon aus, dass man dem Bösen drohen muss, dass man rüsten muss, dass man abschrecken muss.
Wenn wir uns die neue Konfrontation zwischen West und Ost in Europa anschauen, dann sollten wir einmal innehalten und uns dessen erinnern, wie es zwischen Deutschland und Frankreich aussah, und wie positiv sich das Verhältnis zwischen unseren Völkern entwickelt hat: Mein Großvater war noch erfüllt von Verachtung für „die Welschen“, wie man zu seiner Zeit in der Kurpfalz die Franzosen nannte. Noch 1950 hat er mir Illustrierte aus dem siebziger Krieg des 19. Jahrhunderts gezeigt, wo der Sieg über die Franzosen gefeiert wurde. Dieser Geist war glücklicherweise nicht maßgeblich für das, was dann passierte: die Verständigung mit Frankreich. Heute kämen zumindest einigermaßen vernünftige Menschen nicht mehr auf die Idee, das Feindbild der Franzosen neu aufzubauen, wie man das mit Russland und Putin tut. Es geht also, trotz aller Unterschiede zwischen den Völkern.
Über die Dringlichkeit der friedenspolitischen Debatte
Wir sind betrogen worden. Aber es bleibt uns nichts Anderes übrig, als weiter zu machen, weiter zu demonstrieren und zu debattieren und Menschen auf die Notwendigkeit des friedlichen Miteinander aufmerksam zu machen.
Das ist wichtig, denn wir sind inzwischen von Menschen und Medien umgeben, die am Krieg nichts außerordentlich Schlimmes finden, die Kriege zu führen als etwas Selbstverständliches betrachten:
Am 8.6. lief im Deutschlandfunk eine Diskussion unter dem Titel „Amt und Würden“, moderiert von Stephan Detjen.
In dieser Diskussion sprach der ehemalige Chefredakteur des Rheinischen Merkur, Michael Rutz, davon, Bundespräsident Gauck habe uns vom „friedenspolitischen Mehltau befreit“.
Sie, liebe Freundinnen und Freunde, die Sie heute nach Kaiserslautern gekommen sind, um gegen die Nutzung Ramsteins für den Drohnen-Einsatz der USA zu protestieren, sind Bestandteil dieses Mehltaus.
Die Dringlichkeit der friedenspolitischen Aufklärung wird in einer solchen Äußerung sichtbar. Die Dringlichkeit wird darin sichtbar, dass Kriegstreiberei inzwischen hoffähig geworden ist. Im wahren Sinne des Wortes hoffähig. Der amtierende Bundespräsident Joachim Gauck nutzt das Schloss Bellevue dazu, um Stimmung für Kriegseinsätze zu machen und damit auch Stimmung für das, was von hier aus, von Ramstein aus, an Vernichtung und an völkerrechtswidrigem Mord betrieben wird.
Die Kriegsgefahr ist größer geworden. Das will ich an zehn Punkten, an zehn Risiken für den Frieden, sichtbar machen:
Mit der Beschreibung dieser zehn Risiken für den Frieden wollte ich nicht Angst machen. Ich wollte ein realistisches Bild von der veränderten Situation zeichnen. Es gibt so viele verschiedene Spieler in den heutigen Auseinandersetzungen und die Wirklichkeit der Welt ist so stark von militärischen Aktionen geprägt, dass es ganz und gar nicht abwegig ist, die Wahrscheinlichkeit eines großen Krieges für hoch zu halten.
Das ist die Botschaft, die ich ihnen vermitteln wollte. Mehr nicht. Und das sollte auch der Anstoß für Sie sein, sich zu engagieren und bei anderen Menschen dafür zu werben, dass sie sich in einer neuen großen Friedensbewegung zusammenfinden.
Unser Ziel ist klar: wir wollen in Europa gemeinsame Sicherheit. Auch mit Russland. Wir wollen die Zusammenarbeit und nicht die Konfrontation. Wir wollen keine neuen Feinde und keine neuen Feindbilder. Und wir wollen auch nicht, dass von unserem Boden Krieg ausgeht; wir wollen nicht, dass Menschen in anderen Regionen der Welt von hier aus bedroht und getötet werden.
Wenn wir das zusammen mit den USA und anderen westlichen Mächten erreichen, dann ist das prima.
Die USA sind herzlich eingeladen. Auch die Nachbarstaaten Russlands in Osteuropa sind herzlich eingeladen, an dieser friedlichen Zusammenarbeit und am friedlichen Zusammenleben in Europa weiter mitzuwirken. So wie es 1989 und 1990 vereinbart worden ist.
Wenn den USA das nicht möglich ist, dann müssen wir nach Wegen suchen, unsere Beteiligung an Kriegen auf andere Weise zu beenden und wir müssen versuchen, gemeinsame Sicherheit in Europa unter einem begrenzten Teil von Teilnehmern zu organisieren. Das klingt kompliziert. Ich sehe aber nicht, dass wir notfalls eine andere Wahl haben.
Der erste Schritt wäre die Kündigung der Möglichkeit, Einrichtungen wie in Ramstein für den militärischen Einsatz in anderen Ländern zu nutzen.
Der zweite Schritt wäre die Befreiung aus der US-amerikanischen Vormundschaft. D.h. konkret: Wenn die USA nicht bereit sind, sich auf die Verabredungen von 1989 und 1990 zu verständigen, wenn sie an einer gemeinsamen Sicherheit in Europa, die den Frieden mit Russland einschließt, nicht interessiert sind, dann sollten wir uns aus dem Bündnis, aus der NATO, zurückziehen und wir sollten vorher versuchen, so viele andere Nationen Europas wie möglich, für diesen Schritt zu gewinnen.
Ein solcher Schritt wendet sich nicht gegen das Volk der USA. Es wendet sich gegen eine bestimmte Politik. Er wendet sich gegen die inzwischen eingerissene Vorstellung, die USA seien das einzige Imperium und sie hätten das Recht und die Pflicht, andere Völker als Vasallen oder Mitstreiter zu betrachten.
Der Wandel des Verhältnisses zu den USA und der Wandel der Notwendigkeiten im Umgang mit den USA
Viele Deutsche sehen in den USA eine Nation und in den dortigen Menschen ein Volk, das uns sehr geholfen hat: mitgeholfen bei der Befreiung von den Nazis, geholfen bei der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Man kann dieses Bild hinterfragen, aber es hat viel Wahres an sich und außerdem empfinden es sehr viele Leute so. Nicht alle.
Viele Deutsche sehen in den USA jene, die uns vor den Sowjets und den Kommunisten geschützt haben. Auch wenn man das anders sehen kann, generell kann man wohl sagen, dass in den fünfziger und sechziger Jahren so etwas wie ein abschreckendes Gleichgewicht der Kräfte bestand. Damals waren wir von den USA geschützt, heute werden wir benutzt.
Heute könnte man und müsste man wohl deutliche Grenzen setzen und zum Beispiel zu sagen wagen:
Bei aller Freundschaft zu US-Amerikanern:
Bei aller Freundschaft,
Bei aller Freundschaft,
Bei aller Freundschaft mit Amerika,
Die USA sind ein interessantes Land. Die US-Amerikaner sind oft kreativ und menschenfreundlich. Ich habe als junger Mensch in Heidelberg, meiner Heimatstadt, eine Reihe von produktiven kulturellen Erfahrungen mit US-Bürgern gemacht. Im Jazzclub Cave 54, mit dem Amerika-Haus usw.
Es gibt überhaupt keinen Grund, ein schlechtes Verhältnis zu US-Amerikanern zu haben.
Aber es gibt einige Gründe, die USA als imperiale Macht nicht mehr zu akzeptieren. Weil das gefährlich ist, weil der grundlegende Geist der Beherrschung und der Konfrontation einem friedlichen Zusammenleben der Menschen nicht guttut und im konkreten Fall Europas äußerst gefährlich wird.
Deshalb wird es die Hauptaufgabe der deutschen Politik in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sein, uns aus der Vormundschaft der USA zu lösen. Das ist eine Herkulesarbeit.
Unsere Sicherheit in Europa muss auf Zusammenarbeit und nicht auf Konfrontation und nicht auf Abschreckung beruhen.
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