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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Unsere Aufklärungsarbeit ist offensichtlich ziemlich wirkungslos. Weil auch das gebildete Bürgertum den größten Unsinn glaubt.
Datum: 22. April 2016 um 16:36 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demografische Entwicklung, Medien und Medienanalyse, Rente
Verantwortlich: Albrecht Müller
Am vergangenen Mittwoch hat ein Blick in das Feuilleton der FAZ den Eindruck bestätigt, dass unsere Aufklärungsversuche oft folgenlos bleiben. Da erschien auf Seite 10 über eine zwei Drittel Seite die Besprechung des neuen Buches von Thomas Straubhaar: „Der Untergang ist abgesagt. Wider die Mythen des demografischen Wandels“. Der Rezensent Schwägerl schreibt, der Ökonomieprofessor habe „als einer der ersten Autoren gewagt, den breiten Konsens zum unvermeidlichen demographischen Niedergang infrage zu stellen.“ – Was Sie also seit 2004 auf den NachDenkSeiten lesen können, was ich als Autor schon früher und dann umfassend in „Die Reformlüge“ belege, und auch Autoren wie Gerd Bosbach immer wieder beschrieben haben, dass nämlich die demographischen Veränderungen kein ernstes Problem darstellen und die ständig zitierten Bevölkerungsprognosen ohnehin fraglich sind, wird von der FAZ wie offensichtlich auch vom Autor Straubhaar als neu verkauft. Eigentlich müsste das Buch von Straubhaar und die Rezension bundesweit Gelächter auslösen. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Als einen Beleg für die frühe Darstellung des Problems nenne ich die Denkfehler Nr. 5 („Wir werden immer weniger“), Denkfehler Nr. 6 („Wir werden immer älter. Der Generationenvertrag trägt nicht mehr“) und Denkfehler Nr.7. („Jetzt hilft nur noch private Vorsorge“). Den Text zu diesen drei Mythen, der auch vor zehn Jahren schon in den NachDenkSeiten zu finden war, habe ich hier als PDF zusammengefasst. Schon fünf Jahre vorher hatte ich in einer Serie für das Kritische Tagebuch des WDR die Dramatisierung des demographischen Wandels widerlegt.
Wenn Sie den Text aus der „Reformlüge“ lesen, dann werden Sie verstehen, dass man auf eine Buchbesprechung wie in der FAZ vom 20.4.2016 und auf das Buch von Professor Straubhaar nur sarkastisch reagieren kann. Und Sie werden vermutlich verstehen, warum die Überschrift dieses Artikels ziemlich pessimistisch klingt. Dafür gibt es gute Gründe.
Der Professor müsste eigentlich des vielfältigen Plagiats angeklagt werden – des Klauens von Gedanken und Beobachtungen. Nichts davon geschieht. Autor und Rezensent können sich dessen sicher sein, dass nicht nur die Bild-Zeitungsleser, sondern auch die Gebildeten im Land – das sogenannte Bildungsbürgertum – die Horrorszenarien zum angeblich aussterbenden und vergreisenden Volk glaubten und bis heute glauben.
Die Tatsache, dass offensichtlich eine Mehrheit der Deutschen jahrelang Mythen hinterherlief und sich Sorgen machte, wo auch nach der Neuentdeckung von Professor Straubhaar Optimismus angezeigt wäre, ist nicht zum Lachen. Der Irrglaube, die üblichen „Denkfehler, Mythen und Legenden“ (= Untertitel von „Die Reformlüge“ 2004) hatten und haben große gesellschaftspolitische Bedeutung: die Sorge um die demographische Entwicklung, reduziert auf den Glaubenssatz „immer mehr Alte müssen von der schrumpfenden Zahl von Arbeitsfähigen ernährt werden“, wurde zum Beispiel dazu benutzt, um die Leistungsfähigkeit der bisherigen Form der Altersvorsorge privaten Interessen der Finanzwirtschaft auszuliefern. Dazu sind auf den NachDenkSeiten gerade in den letzten Tagen mehrere Beiträge erschienen. (Siehe hier und hier.)
Wie folgenlos die „Neuentdeckung“ des Professors aus Hamburg auch weiterhin ist, können Sie an der Reaktion von Politik, Wissenschaft und Medien insgesamt sehen. Auf der Basis der falschen Dramatisierung der demographischen Entwicklung wird politisch weitergewurstelt. Siehe dazu auch die Mail von Professor Gerd Bosbach an die NachDenkSeiten mit einem einschlägigen Text zu Schäubles Irrtümern. Sie hängt unten als Anhang an.
Unsere Aufklärungsversuche haben offensichtlich wenig gebracht. Oder sollen wir die Einsicht des Professors aus Hamburg als Erfolg feiern?
Anhang:
Mail von Professor Gerd Bosbach:
Schäubles Denkfehler in der Rentendebatte
Schäuble zelebriert eine Simpellogik: Werden wir älter, müssen wir länger arbeiten. Eingängig, aber falsch.
Die Lebenserwartung stieg von 46 auf 78 Jahre, die Lebensarbeitszeit sank von 70 auf 65 Jahre. Gleichzeitig sanken Jahres- und Wochenarbeitszeiten massiv. Und die Arbeitskräfte gingen dabei nicht aus, eher die Arbeitsplätze. Im Jahre 1999 betrug die offizielle Arbeitslosigkeit 4,1 Millionen.
Der Anteil der über 64 Jährigen stieg in dem Jahrhundert von 4,9 auf 16,7%, der Anteil der Rentner noch stärker. Und trotzdem ging es Allen materiell deutlich besser.
Schäubles Logik auf das Jahr 1900 angewandt versagt total. Der Grund: Er denkt ohne Wirtschafts- und Produktivitätsentwicklung, also völlig eindimensional!
(*) Irrtümlich wird oft die Quote der Bezieher von Grundsicherung (etwa 3%) als Armutsquote ausgegeben. So wird Armut aber nicht gemessen. Seit Jahrzehnten dient dazu die Schwelle von 60% vom mittleren Einkommen (Median) EU-weit als Maßstab. Und diese Quote steigt für über 64 Jährige seit 2009 kontinuierlich von 11,9% auf 14,4% in 2014 (Daten des Mikrozensus).
Freundliche Grüße aus dem Rheinland
Gerd Bosbach
Remagen/Köln, 22.4.2016
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=33092