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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Demokratie? Welche Demokratie denn bitte?
Datum: 8. April 2016 um 14:18 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Finanzpolitik, Interviews, Lobbyismus und politische Korruption, Soziale Gerechtigkeit
Verantwortlich: Redaktion
„Die Demokratie ist die Hure der freien Welt, bereit sich nach Wunsch an- und auszuziehen, bereit, die verschiedensten Geschmäcker zufriedenzustellen“, stellt die indische Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy klar. Und der Autor und Unternehmensberater Wolfgang Koschnick sekundiert: Die entwickelten Demokratien seien eine gigantische Fehlkonstruktionen, die Krisen und Katastrophen am laufenden Band erzeugten und nicht in der Lage seien, selbst einfachste Probleme pragmatisch und nachhaltig zu lösen. Im Gegenteil richteten sich ihre „Lösungen“ in stets wachsendem Maße gegen die eigene Bevölkerung. Immer deutlicher würde daher, dass sich die Demokratien der Gegenwart in einer Systemkrise befänden und ihnen der Untergang drohe. Anlässlich des Erscheinens von „Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr. Abschied von einer Illusion“ sprach Jens Wernicke mit ihm.
Herr Koschnick, soeben erschien „Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr. Abschied von einer Illusion“. Wieso dieses Buch zu dieser Zeit? Was war, was ist Ihre Intention?
Das ist eine Thematik, die mich seit frühester Jugend immer wieder beschäftigt hat. Wahrscheinlich hängt es mit meiner politischen Sozialisation in den 1950er Jahren zusammen. Ich war in den 1950er Jahren als Jugendlicher wie die meisten meiner Altersgenossen begeisterter Demokrat und auch begeisterter Anhänger der amerikanischen Politik und des amerikanischen Lebensstils. Mehrere Aufenthalte in den USA haben diese Einstellung bestärkt.
Später habe ich mich wissenschaftlich mit Politik und dann als Bürger und Journalist mit der real existierenden Demokratie beschäftigt. In all den vielen Jahren wuchs die Erkenntnis, dass meine demokratische Begeisterung mit der real existierenden Demokratie so gut wie gar nichts mehr zu tun hat.
Und ich erkannte, dass es auch der Bevölkerung in jedem beliebigen demokratischen Land ähnlich ergeht. Nur schimpfen die Leute über die „Politiker“ und die Politiker über die „Politikverdrossenheit“ der Bevölkerung. Sie tun das, weil sie sich nicht trauen, von einem Konstruktionsfehler der Demokratien zu sprechen. Man könnte für einen Feind der Demokratie, des Rechtsstaats und der Bürger- und Menschenrechte gehalten werden. Diesen Eindruck mögen alle Leute, die den Grundgedanken der Demokratie akzeptieren, auf jeden Fall vermeiden. Man will nicht für einen Feind der Demokratie gehalten werden.
Konstruktionsfehler? Welcher denn?
Längst ist das politische System der entwickelten repräsentativen Demokratien in aller Welt völlig aus dem Ruder geraten. Es befindet sich in einer dauerhaften Schieflage, aus der es kein Entrinnen gibt. Der durch den Lobbyismus verzerrte Staat hat sich gegen die breite Bevölkerung zusammengerottet. Politische Entscheidungen werden nicht mehr durch das Volk, vom Volk und für das Volk gefällt. Die politische Kaste, das Kapital und die Lobbyisten treffen alle Entscheidungen im Schulterschluss gegen das Volk.
Und diese unselige Allianz trägt seit langem Früchte: Die entwickelten Demokratien in aller Welt – von den USA über Europa bis Japan – stehen vor dem gleichen Elend: Zwischen den Völkern und ihren Politikern ist ein tiefer Graben der Entfremdung aufgerissen, die Prozesse der politischen Willensbildung sind erstarrt, die Menschen haben kein Vertrauen mehr in das politische System, das System verdient auch kein Vertrauen mehr, in den Parlamenten und den politischen Parteien herrschen Hierarchien, es geht nicht mehr demokratisch zu, die Volksvertretungen nicken Regierungsentscheidungen nur noch ab, wichtige Entscheidungen werden in finsteren Hinterstuben getroffen, die politischen Institutionen sind handlungsunfähig, die Politiker taugen nichts, und der Staat ist bis über die Ohren verschuldet. Die Kluft zwischen Reich und Arm reißt in allen Demokratien nahezu täglich weiter auf, und die demokratische Politik sieht tatenlos dabei zu und unternimmt nichts dagegen.
Die politische Krise ist die Folge einer strukturellen Reformunfähigkeit der Institutionen und ihrer Politiker, einer wachsenden Kluft zwischen den Bürgern und Regierungen, zwischen Wählern und Volksvertretern, zwischen Gesellschaft und Staat. Als Regierungsform stoßen die Demokratien an ihre Grenzen, weil sie nicht mehr leisten, wozu sie da sind: die Interessen aller zu wahren und ihren Völkern ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie dienen nicht mehr dem Gemeinwohl, sondern nur noch den partikularen Interessen einzelner Gruppen.
Es mehren sich die Zweifel, ob die herrschenden Demokratien überhaupt noch handlungsfähig sind; denn die eigentliche Krise ist die Krise der repräsentativen Demokratie. Die strukturellen Schwächen dieses Ordnungssystems treten heute so krass hervor wie nie zuvor. Eine erfolgreiche Krisenbewältigung würde einen radikalen Politikwandel erfordern. Das jedoch können auf Wahlerfolge und Machterhalt fixierte, kurzsichtig orientierte politische Strukturen systembedingt kaum leisten.
Das erklärt auch, weshalb dringende Reformen unterbleiben und Schulden angehäuft werden, obwohl doch der Reformbedarf immens ist. Lange Zeit haben alle Demokraten stets geglaubt, kein Ordnungssystem sei so fähig, sich selbst zu reformieren, wie die Demokratie. Doch der Zustand der entwickelten Demokratien unserer Zeit lehrt das Gegenteil. Das System ist in totaler Unbeweglichkeit erstarrt. Die Krise der Demokratie ist tatsächlich da.
Viele hoffen noch immer, dass Demokraten mit den Problemen einer Gesellschaft besser fertig werden als Diktatoren. Das läuft auf das Pfeifen im Walde und auf die vage Hoffnung hinaus, dass weiter gut gehen wird, was in der Vergangenheit schon nicht funktioniert hat. Schön wäre es, wenn das so wäre. Es bliebe dann wenigstens das Vertrauen, dass die demokratischen Institutionen und ihre Repräsentanten alle Probleme doch noch lösen können. Aber gerade dieses Vertrauen ist verloren. Denn es sind eben diese Repräsentanten, die alle Probleme selbst geschaffen haben, die sie nun nicht lösen können.
In den entwickelten Demokratien wählen die handelnden Politiker und Staatsangestellten in einer gegebenen Situation immer diejenige Verhaltensalternative, von der sie den größten Nutzen erwarten, oder die bei nicht unterscheidbarem Nutzen mit den geringsten Kosten verbunden ist. Zentrales Axiom ist das Rationalitätsprinzip – genau wie in der klassischen ökonomischen Theorie. Der „homo politicus“ verhält sich also im Prinzip genauso wie der „homo oeconomicus“.
Dem liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass auch ein Politiker, ebenso wie jeder andere Mensch, seinen eigenen Nutzen zu maximieren versucht. In der Politik und in der Bürokratie besteht der Nutzen indes nicht allein in Geld, sondern ebenso in Macht, Wiederwahl, Medienapplaus, Pfründen, Privilegien, der Zahl der Untergebenen und höherem Budget.
Die Logik dieser Politik führt zu immer höheren Staatsausgaben. Vom Ziel der Wiederwahl getrieben, blähen die politischen Akteure die Staatshaushalte immer weiter auf. Politiker sind machtfixiert und nur an ihren Eigeninteressen orientiert. Um gewählt zu werden, verteilen sie wahllos Steuergeschenke.
Das Entscheidungsverhalten von Politikern und Beamten ist folglich das Produkt einer Summe von Nutzen maximierenden Individuen. Beamten versuchen ihr Budget, Politiker ihre Wählerstimmen zu maximieren, um bei der nächsten Wahl wiedergewählt zu werden. Für die Beamten steht nicht die effiziente Versorgung des Bürgers mit öffentlichen Gütern und Leistungen im Vordergrund, sondern ein möglichst hoher Output. Nur so können sie das Budget maximieren, um dann persönliche Ziele wie Macht, Einkommen, Prestige und Aufstiegschancen zu erreichen. Gelingt es den Beamten dagegen, durch die Optimierung von Organisationsstrukturen oder Arbeitsprozessen Einsparungen zu erzielen, müssen sie in der nächsten Planperiode mit einem kleineren Budget auskommen. Also lassen sie lieber die Finger davon.
In dieser Welt ist der demokratische Staat ein Leviathan: ein macht- und geldgieriges, nimmersattes Monstrum. Die Politiker maximieren ihre Macht mit der Menge des Gelds, das sie ihren Steuerbürgern abknöpfen, und müssen zugleich jene Gruppen umwerben, die ihre Wiederwahl sichern. So schaffen sie ständig neue Schlupflöcher und erhöhen anderswo die Steuern, um die daraus entstehenden Finanzlöcher zu stopfen. Ein Teufelskreis.
Der Kern des Problems besteht darin, dass das politische System den Parteipolitikern vielfältige Anreize bietet, besonders hohe Ausgaben durchzusetzen. Auch wenn sie grundsätzlich verstanden haben, dass eine überhöhte Staatsverschuldung ein schier unlösbares Problem darstellt, ist kurzfristig eine weitere Verschuldung für sie immer noch das kleinere Übel.
Da kann einer noch so edle Absichten haben. Das nützt überhaupt nichts; denn die Staatsverschuldung ist in allen demokratischen Staaten über viele Jahrzehnte hinweg unabhängig davon gewachsen, ob gerade ein gutherziger oder ein böswilliger, ob gerade ein linker oder ein rechter, ein liberaler oder ein konservativer, ein verschwenderischer oder ein sparsamer, ein gescheiter oder ein einfältiger Präsident oder Regierungschef regierte. Da liegt nicht der Kern des Problems.
Die Staatsverschuldung wächst unaufhörlich auf Grund systemimmanenter Zwänge und völlig unabhängig davon, wer oder was gerade regiert. Heute, im April 2016, ist die gesamte Weltwirtschaft mit 58 Billionen Dollar verschuldet. Die 15 am höchsten verschuldeten Länder trugen dazu über 49 Billionen bei. Sie sind fast ausnahmslos entwickelte repräsentative Demokratien.
Die „Global Debt Clock“ des Economist, also die Weltschuldenuhr, zeigt ein eindeutiges Bild: Als höchstverschuldet sind dort einzig und allein die entwickelten repräsentativen Demokratien tiefrot eingefärbt: Nordamerika, Westeuropa, Japan. Die übrigen Schulden, gerade mal 9 Billionen, verteilen sich auf die verbleibenden 185 Staaten der Welt. Der Rest der Welt ist im grünen Bereich. Jeder einzelne Staat kleckert im Schnitt ein paar Dollar hinzu. Nicht mehr. Einer der in Europa am höchsten verschuldeten Staaten ist übrigens Deutschland. Es schleppt seit vielen Jahren eine Schuldenbelastung von über zwei Billionen Euro vor sich hin, protzt zugleich mit der „Schwarzen Null“ und macht keinerlei Anstalten, die hohe Schuldenbelastung jemals abzutragen, obwohl es doch heute alle Mittel dazu in der Hand hätte: Die „Tiefroten zwei Billionen“ gehören zum Gesamtbild ebenso wie die „Schwarze Null“.
Die Erfahrungen aus vielen demokratischen Ländern machen in institutioneller Hinsicht mehreres deutlich:
Sie sprechen beständig von Schulden… Geht es also darum, den Sozialstaat zu zerschlagen und die Staatsausgaben also noch weiter zu senken? Ist dieses neoliberale Credo materieller Antrieb Ihrer Kritik?
Im Gegenteil, man sollte auch erst gar nicht so tun, also ob die Sozialausgaben der einzige Grund für hohe Staatsausgaben sind. Der Primat von Partikularinteressen führt doch zu massiven Fehlallokationen und sinnloser Verschwendung von Ressourcen.
Sagt Ihnen diesbezüglich die Parlamentarismuskritik etwa eines Johannes Agnoli etwas, der mit „Die Transformation der Demokratie“ die 68er diesbezüglich gut intellektuell bewaffnete? Ist es so in etwa das, was auch Ihnen am Herzen liegt?
Nun ja, ich habe in den 1960er Jahren auch bei Agnoli gehört, mich damals aber nicht sonderlich dafür interessiert. Gelesen habe ich ihn erst später wieder. Er ist einer von sehr vielen Autoren, mit denen ich mich immer wieder einmal beschäftigt habe. Inzwischen ist das eine ganze Weile her.
Und Ihre Kritik, verallgemeinern Sie die denn? Oder sehen Sie Ausnahmen von der allgemeinen Unzufriedenheit der Regierten mit ihrem politischen System?
Es gibt ein paar Länder, in denen das repräsentative System noch nicht seine selbstzerstörerische Eigendynamik entwickelt hat, wie die skandinavischen Staaten. Das hat aber eher damit zu tun, dass die weltpolitisch etwas im Windschatten liegen oder – wie die Schweiz – ein Mischsystem aus direkten und repräsentativen Elementen haben.
Ansonsten besteht in allen repräsentativen Demokratien von den USA über Frankreich und Deutschland bis hin nach Japan Grund zu großer Unzufriedenheit, weil überall politische Entscheidungen „von oben nach unten“ und nicht demokratisch von unten nach oben getroffen werden. Die repräsentativen Demokratien werden ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht.
Alle Entscheidungen in politischen Parteien, in Parlamenten in Fraktionen in irgendwelchen Gremien werden über die Köpfe der Betroffenen hinweg von oben nach unten und mittlerweile auch häufig gegen die Interessen der Betroffenen von oben nach unten getroffenen. In den Parteien herrschen die Funktionäre, in den Parlamenten die Berufspolitiker, für die der Staat zum Selbstbedienungsladen geworden ist, in dem sie sich nach Lust und Laune bedienen können. Die politischen Parteien sind längst keine Organe lebendiger Demokratie mehr. Sie sind mit Staatsgeldern künstlich am Leben erhaltene Leichen, die ohne die staatlichen Millionen, die sie sich selbst zugeschustert haben, keinen einzigen Tag aus eigener Kraft überleben könnten. Die Parlamente in aller Welt sind reine Abnickvereine, die tumb und brav alles abnicken, was ihre Regierungen oder Fraktionsspitzen ihnen zum Fraß vorwerfen.
Der verstorbene Roger Willemsen sprach vom Bundestag in einer eher ästhetisierenden Betrachtung mit Recht als vom „Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee“. Wer die Realität der politischen Entscheidungsfindung in deutschen Parlamenten substanziell untersucht, kann eigentlich nur noch davon sprechen, dass er es mit dem „Schlachthaus der Demokratie“ zu tun hat.
Die Parlamentarier verbreiten ja gern das Ammenmärchen, sie müssten sich mit Diäten von rund 9.000 Euro in der Nähe der Armutsgrenze durchs Leben kämpfen. Das ist eine faustdicke Propagandalüge. Die meisten Abgeordneten haben sich bis zu 30.000 und 40.000 Euro im Monat aus vielen Töpfen an geldwerten Vorteilen zugeschustert. Das Mitleid der Werktätigen und Armen haben die nicht verdient.
Natürlich hat die ochlokratische Herrschaft in jedem Land ihre ganz spezifischen Ausprägungen, aber undemokratisch ist sie überall. In den USA sind gut die Hälfte aller Abgeordneten des Repräsentantenhauses Millionäre und die andere Hälfte ist im Prinzip ebenso üppig ausgestattet. Im Vergleich zu den Durchschnittsamerikanern sind die allesamt sehr reich. Da käme wohl niemand mehr auf die Idee von Demokratie zu sprechen.
In Deutschland ist der Bundestag und sind die Länderparlamente fest in der Hand von Angehörigen der öffentlichen Hand und Beamten und haben so oder so nur abzunicken, was ihre Fraktionsführer und Regierungen von ihnen verlangen. Mit Demokratie hat all dies nichts mehr zu tun. Es ist noch nicht einmal eine Karikatur von Demokratie. Es ist eine Verhohnepiepelung des demokratischen Gedankens.
Können Sie sagen, warum Kritik wie die Ihre offenbar so wenig verbreitet ist? Viel mehr Menschen müssten derlei doch längst erkannt haben und hiergegen angehen…
Es gibt massenhafte Demokratiekritik in allen Demokratien. Sie kommt aber meist in Gestalt einer etwas diffusen Kritik daher und auch eher als „Politikverdrossenheit“. Die endgültige Konsequenz wagen viele Menschen auch heute noch nicht zu Ende zu denken; denn die lautet: Der jämmerliche Zustand der Politik unserer Zeit ist die Folge des Niedergangs des demokratischen Systems. Er ist ein Systemfehler, der nicht zu kurieren ist, wenn man sich weiter weigert, ihn als solchen zu erkennen. Und er ist angelegt in den verkrusteten Strukturen der entwickelten repräsentativen Demokratien.
Es ist allerdings auch leicht nachzuempfinden, weshalb sich viele dagegen sträuben, die Krisen der Gegenwart als Systemkrisen der Demokratie zu erkennen. Demokratie ist untrennbar verknüpft mit der Achtung und Verteidigung von Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechten. Das macht sie so kostbar. Und niemand kann sich deren Abschaffung wünschen. Doch darum geht es ja auch gar nicht.
Die Systemkrise der Demokratie spielt sich auf einem ganz anderen Feld ab: den Mechanismen und Apparaturen der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung. Die Dauerkrise der konsolidierten Demokratien von den USA über Europa bis hin nach Japan hat zur Herausbildung einer von der Bevölkerung losgelösten politischen Kaste geführt, die ihr eigenes Wohl mit dem Gemeinwohl gleichsetzt und der die Interessen und das Wohlergehen der Bevölkerung weitgehend gleichgültig sind.
Die Krise der entwickelten Demokratien ist eine Krise des politischen Willensbildungsapparats und des Herrschaftssystems. Und diese Krise hat inzwischen eine Eigendynamik entfaltet, in der sich das System gegen die eigene Bevölkerung wendet und ihr in stets wachsendem Maße Schaden zufügt.
Totalitär wird also…
Nein, das würde ich auf gar keinen Fall sagen. Wir erleben ja eher eine sich liberal gerierende Oligarchie, eine Art milder Funktionärsdiktatur. Die hat überhaupt nichts Totalitäres.
Sie empfinden die Hartz IV-Maschinerie, den Niedriglohnsektor, das Troika-Diktat gegen Griechenland und anderes … nicht als totalitär? Die schiere Macht der oberen 1 Prozent, die immer mehr Menschen in soziale Not und also Armut zwingt?
Nein, beim besten Willen. Totalitär waren die Herrschaft der Stalinisten und der Nationalsozialisten. Aber die Hartz-IV-Maschinerie u.dgl. mögen meine Verachtung verdienen, aber mit Totalitarismus haben sie nun wirklich nichts zu tun.
Offensichtlich sind Sie ja gleichwohl Anhänger einer demokratischeren Demokratie. Diese zu verteidigen macht also Sinn?
In meinem Buch messe ich die real existierenden Demokratien an ihren eigenen Ansprüchen. Und die haben sich auf Grund der folgenden Charakteristika in ihr Gegenteil verkehrt:
Alles in allem ist das untere Drittel der Gesamtbevölkerung in den Parlamenten durch niemanden vertreten – weder durch eine nennenswerte Zahl von Abgeordneten noch durch die politischen Parteien. Das läuft allein in Deutschland auf rund 30 Millionen Menschen hinaus. Sie tauchen in der politischen Repräsentanz aller Demokratien gar nicht erst auf. Das System lässt sie links liegen. Die Volksvertreter vertreten mehr als ein Drittel des „Volks“ überhaupt nicht.
Tatsächlich bieten alle Parlamente ein Zerrbild der Sozialstruktur ihres Landes. Und je länger sie bestehen, desto stärker verzerrt sich das Bild. Die ohnehin schon überrepräsentierten Berufe richten sich in den Parlamenten ein und verstärken von Legislaturperiode zu Legislaturperiode ihre Machtpositionen. Die Parlamente sind Vertretungen gehobener und vorwiegend politischer Berufe. Je länger ein Parlament besteht, desto besser ausgebaut sind die Machtbastionen der vorherrschenden Berufe des öffentlichen Dienstes.
Die Verzerrung in der Repräsentation ist das Ergebnis eines Machtkampfs, der mit friedlichen und demokratischen Mitteln ausgetragen wird. Und diesen Machtkampf haben schon vor Jahrzehnten all jene Schichten gewonnen, die im Parlament überrepräsentiert sind. Die Kluft zwischen den Repräsentanten und denen, die sie repräsentieren sollten, aber nicht mehr repräsentieren, wächst von Jahr zu Jahr und von Legislaturperiode zu Legislaturperiode. Dieser Prozess ist in repräsentativen Demokratien unaufhaltsam und auch unumkehrbar.
Da nimmt es nicht weiter wunder, dass bei allen wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte stets das untere Drittel besonders nachhaltig zur Kasse gebeten wurde. Das sind ausgerechnet die Schwachen. Diejenigen, die sich am wenigsten wehren können. Wen wundert es da, dass die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten seit ungefähr 1990 stetig sinken?
Die Herrschaft der politischen Kaste betoniert sich immer stärker ein und ist inzwischen unumkehrbar in Stahlbeton gegossen.
Längst haben die Parlamente ihre Bestimmung völlig eingebüßt, das Volk zu repräsentieren. Sie sind zu Stätten verkommen, in denen sich Parteifunktionäre und Amtsträger treffen und Entscheidungen zur Kenntnis nehmen, die Parteigremien zuvor ausgekungelt haben. Ein Parteipolitiker wirft nicht im Moment seiner Wahl sein Wolfsfell ab und mutiert zu einem friedlichen Schaf, das die Parlamentswiese auf der Suche nach der blauen Blume des Gemeinwohls abgrast.
Mit der Professionalisierung politischer Laufbahnen kommt es zunehmend zu einem wechselseitigen Durchdringungsprozess von Behördenmitarbeitern, Beschäftigten und Amtsträgern aller politischen Ebenen von der Gemeinde bis hin zum Bund. Beamte und Angestellte begegnen einander in den politischen Parteien, in den Behörden und den politischen Ämtern. Die „politische Kaste“ aller Ebenen bleibt weitgehend unter sich, ihre Angehörigen tauschen sich untereinander aus und geben einander die Klinken in die Hände.
Die Politik hat sich ihrer Pflicht zur Unabhängigkeit und zur Neutralität gegenüber den partikularen Interessen auf ewig und alle Zeiten entledigt. Sie hat sich mehr oder weniger widerstandslos den Interessenvertretern ausgeliefert und ist zu ihrem willigen Helfer geworden. Sie hat sich unterworfen. Sie hat das Gemeinwohl auf dem Altar der partikularen Interessen geschlachtet.
Die Pflicht des Staats zur Unabhängigkeit und Neutralität ist aber nicht einfach eine belanglose Verpflichtung, bei der man sagen könnte: Es wäre ganz nett, wenn die eingehalten würde. Die Neutralitätspflicht ist eine der Fundamentalpflichten demokratischer und sogar vordemokratischer Staaten.
Selbst Friedrich der Große hatte vor 300 Jahren schon relativ genaue Vorstellungen von der Neutralitätspflicht des Staates, die heute unter dem Druck des Lobbyismus nach und nach zu Grabe getragen wird. Es ist keine wirkliche Übertreibung zu sagen, dass der demokratische Staat unter der Knute des Lobbyismus im Begriff steht, hinter den undemokratischen preußischen Staat Friedrichs des Großen im 18. Jahrhundert zurückzufallen.
Wenn ein Staat nicht einmal seine Neutralitätspflicht gegenüber jedermann erfüllt, ist er mit Sicherheit kein Rechtsstaat und eigentlich noch nicht einmal ein ordentlicher Staat. Ein Staat darf grundsätzlich nicht Partei ergreifen. Und wenn er Partei ist, ist er nicht Staat, und schon gar kein demokratischer, sondern ein diffuses Gebilde, das zur Beute von Interessengruppen und Konzernen geworden ist, eine demokratisch nur getarnte mafiöse Struktur.
Der durch den Einfluss mächtiger Lobbyisten deformierte Staat ist in der politischen Wirklichkeit eine Katastrophe für die breite Bevölkerung. Er ist schon längst nicht mehr eine neutrale, am Gemeinwohl orientierte unabhängige Instanz. Der Staat ist selbst zum Spielball privatwirtschaftlicher Interessen geworden. Er hat in entscheidenden Aspekten seine Existenzberechtigung verloren, weil er nicht mehr neutral und gerecht gegen jedermann ist, sondern Partei gegen die Bürger ergreift.
Die Aufteilung der Macht nach sozialen Gruppen gibt zwar den organisierten Interessen das Recht und auch die Chance, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, sie hat aber entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Asymmetrie bestehender Machtverhältnisse verfestigen konnte. Es gibt deutliche Machtungleichgewichte. Demokratische Politik müsste diesen Ungleichgewichten entgegenwirken und die Schwächeren unterstützen. Sie tut aber das Gegenteil. Sie rottet sich mit den Starken gegen die Schwächeren zusammen.
In Ländern der ersten Welt wurden die demokratischen Mechanismen wirksam unterwandert. Politiker, Medienzaren, Richter, mächtige Konzern-Lobbys und Regierungsbeamte pflegen untereinander diskrete, clever verzahnte wechselseitige Beziehungen und unterminieren dadurch die laterale Balance der Gewaltenteilung zwischen Verfassung, Gerichten, Parlament, Regierung und den unabhängigen Medien als struktureller Basis der parlamentarischen Demokratie. Zunehmend wird bei dieser Verzahnung auf Subtilität oder sorgfältig erdachte Verschleierung verzichtet.
Und, ja, gegen derlei anzugehen tut dringend not.
Viele erhoffen sich die Wende hin zum Besseren ja von mehr direkter Demokratie…
Ja, das ist ein besonders beliebter Irrtum. Kaum ein politisches Konzept erfreut sich derzeit so breiter Beliebtheit wie das der direkten Demokratie. Fast alle schwärmen davon: die Linken, die Sozialisten, die Sozialliberalen, die Moderaten, die Liberalen, die Konservativen, die gemäßigten und sogar die extremen Rechten. Selbst ausgewiesene Feinde der Demokratie wie Viktor Orbán planen eine Volksbefragung – natürlich nur über ein Thema, bei dem sie von vornherein wissen, was am Ende dabei herauskommt.
So viel Begeisterung aus allen Richtungen sollte jedermann wenn schon nicht misstrauisch, so doch wenigstens nachdenklich machen. Starke Elemente direkter Demokratie gibt es heute nur in einigen amerikanischen Bundesstaaten wie California oder Oregon und vor allem in der Schweiz. Aber auch dort herrscht ein Mischsystem: Das politische System der Schweiz ist bestenfalls eine halbdirekte Demokratie, in der das Volk zu einem gehörigen Teil auch durch das gewählte Parlament und seine Abgeordneten repräsentiert wird. Auch in Deutschland steht nur der Gedanke zur Diskussion, das bestehende schwerfällige System der repräsentativen Demokratie durch einige Elemente der unmittelbaren Demokratie aus dem Tiefschlaf zu wecken.
Den inhaltlich zutreffendsten Ausdruck zur Bezeichnung direkter Demokratie benutzt heute kaum jemand: Man spricht von sachunmittelbarer Demokratie, um ganz deutlich zu machen, dass Personalentscheidungen – also Wahlen – nicht zu den Charakteristiken einer lebendigen direkten Demokratie gehören. Personalentscheidungen werden von bundesdeutschen Politikern besonders gern und oft herangezogen, um den Nachweis zu erbringen, dass diese wagemutigen Speerspitzen des demokratischen Fortschritts nun dabei sind, „mehr Demokratie zu wagen“. Dabei tun sie das genaue Gegenteil, indem sie wahre Demokratie plebiszitär verfälschen.
Auch das Schweizer Mischsystem ist keine Insel der Seligen. Es ist jedoch ein Modell, das viele Schwächen der repräsentativen Demokratien nicht hat. Aber natürlich ist auch dieses System nicht unfehlbar. Fehlentscheidungen gibt es auch darin. So hat gerade 2014 eine Volksinitiative im Aargau durchgesetzt, dass die Kinder in den Kindergärten fortan nur noch Mundart und kein Schriftdeutsch sprechen dürfen. Ein Rückfall in finsterste Provinzialität und für Kinder, die später einmal den Aargau verlassen werden, eine Garantie für Rückständigkeit.
Allerdings sollten die Völker in repräsentativen Demokratien nicht gar zu viel Hoffnung in Elemente der direkten Demokratie setzen. In der Schweiz sind diese Modelle in geografisch kleinen Räumen und über einen jahrhundertelangen Prozess sehr organisch gewachsen. Man kann sie einem durch und durch repräsentativen System nicht einfach aufpfropfen. Doch genau das versuchen einige Politiker neuerdings und ohne Sinn und Verstand.
Das geht auch deshalb nicht, weil jede Variante von direkter Demokratie die Macht der politischen Repräsentanten einschränkt. Das werden die nicht freiwillig mit sich machen lassen. Dagegen wehren sie sich mit aller Macht.
Das erlebt man, wenn man mit den politischen Repräsentanten der politischen Parteien in Deutschland diskutiert. Plötzlich verteidigen diese so konziliant demokratisch gesonnen erscheinenden Menschen mit größter Energie das repräsentative System.
Der Grund ist leicht zu erkennen, jedes Element einer ernst zu nehmenden direkten Demokratie beschneidet die politische Macht der Repräsentanten. Es wäre naiv zu glauben, dass die das mit sich geschehen lassen, weil sie so gutherzig „mehr Demokratie wagen“ wollen. Natürlich verteidigen sie jedes Fitzelchen ihrer Macht und ihrer Privilegien.
Selbst wenn sie Formen der direkten Demokratie einführen, dann führen sie mit Garantie eine politische Schweinerei damit im Schilde und nutzen die als reine Akklamationsveranstaltungen für sich selbst und ihre Politik – so wie die SPD das oft gemacht hat, zuletzt bei der Abstimmung über den Koalitionsvertrag.
In einer lebendigen direkten Demokratie wie der Schweiz stimmen die Bürger über eine einzelne Verfassungsänderung, ein einzelnes Gesetz, eine einzelne Maßnahme oder eine einzelne Initiative mit genauer und detaillierter Beschreibung ab und treffen eine konkrete Sachentscheidung.
Elemente einer direkten Demokratie sind in repräsentativen politischen Systemen entweder gar nicht oder nur als Farce, als Karikatur ihrer selbst durchsetzbar. Das ist die traurige Realität. Es bleibt nur, weiter sehnsüchtig in die Schweiz zu schauen und zu hoffen, dass wenigstens Minimalelemente der direkten Demokratie sich in repräsentativen Gebilden durchsetzen lassen. Groß ist die Hoffnung nicht.
Auf welchem Weg könnten Sie sich denn vorstellen, eine „Demokratie“ zu erstreiten, die diesen Namen auch wieder verdient? Was täte not?
Ich fürchte, da besteht keine Hoffnung. Als die Bürger sich im 18. und 19. Jahrhundert gegen Absolutismus und Adelsherrschaft erhoben, verbanden sie mit der Forderung nach Demokratie den Menschheitstraum von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit nach Jahrhunderten der Ungleichheit, Unfreiheit und Unterdrückung. Dem privilegierten Adel setzten sie den Gedanken entgegen, dass ein politisches System nichts wert ist, wenn es nicht der größtmöglichen Zahl der Menschen das größtmögliche Glück bietet.
Wesentlich war nicht die formal einwandfreie Abwicklung von Wahlen und Prozeduren der politischen Willensbildung. Darüber herrschten durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Wesentlich war, dass es der Mehrheit der Menschen gut gehen sollte – oder zumindest besser als zuvor. Denn das ist das Urversprechen der Demokratie: Eine Demokratie, in der es den Menschen schlechter als vorher und von Jahr zu Jahr immer schlechter geht – gleich in welcher Hinsicht –, ist keinen Pfifferling wert.
In allen Demokratien geht es den Menschen wesentlich besser als in den vordemokratischen Systemen. Aber in den entwickelten Demokratien geht es ihnen wieder wesentlich schlechter als noch in den frühen Demokratien. In den entwickelten Demokratien geht es wieder bergab. Das ist ein säkularer und globaler Niedergang. Die Verhältnisse verschlechtern sich dramatisch und nachhaltig.
Konkret verband sich mit Demokratie stets das Versprechen wachsender Wohlfahrt, zunehmender sozialer Gerechtigkeit, nachhaltiger Chancengleichheit, Generationengerechtigkeit und der Überwindung von Elend und Armut. Das war und ist der Grundgedanke aller Demokratien: Dass die Menschen nicht Untertanen sind, sondern ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen können, dass nicht andere ihr Leben bestimmen, sondern sie selbst, und dass es ihnen besser ergeht als zuvor. Nur die freien und gleichberechtigten Bürger sind die legitimen Inhaber der staatlichen Ordnungsmacht und Herrschaftsbefugnis. In der Demokratie ist daher das Spannungsverhältnis zwischen bürgerlicher Freiheit und staatlicher Ordnungsmacht unaufhebbar. Nur dann hat Demokratie ihren höheren Sinn.
Doch wozu braucht man überhaupt noch eine Demokratie, wenn sie nicht einmal das mehr leistet?
Die frühen Jahre der sich entwickelnden Demokratien waren Zeiten des Aufbruchs und der Zukunftshoffnung für nahezu alle Menschen. Sie brachten Freiheiten, von denen viele Bürger lange kaum zu träumen wagten: Freiheit der Meinungsäußerung, eine freie Presse, den freien Zugang zu Informationen, Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit, Freiheit der Religionsausübung, Rechtsstaatlichkeit und viele Menschen- und Bürgerrechte mehr. Sie sind und bleiben für immer und ewig die grandiosen Errungenschaften der Demokratie.
Aber unter der demokratischen Oberflächenstruktur haben sich im Laufe der Jahrzehnte Formen der politischen Willensbildung und der politischen Herrschaft herausgebildet und verfestigt, die dem Geist einer lebendigen Demokratie krass zuwiderlaufen.
Die Machteliten haben sich in den Demokratien wie Krebsgeschwüre festgefressen und die Kontrolle über die Prozesse der Willensbildung usurpiert. Das Volk hat nur noch wenig und immer weniger mitzubestimmen. Die Demokratie findet weitgehend ohne das Volk und im Laufe der Jahrzehnte zunehmend auch immer offensichtlicher gegen die Bevölkerung statt.
Die entwickelten Demokratien der Gegenwart lösen so gut wie keine der Menschheitshoffnungen ein, derentwegen so viele Menschen auch heute noch unerschütterlich an die Segnungen der Demokratie glauben.
Ohne Zweifel: Die Menschenrechte und die Bürgerrechte, der Rechtsstaat sind heute in den meisten Demokratien verankert. Und das soll nicht gering geachtet werden. Ohne diese Rechte wären die demokratischen Systeme schon lange überhaupt nichts mehr wert.
Das Gesamtsystem der demokratischen Repräsentation ist zum Gegenteil seiner selbst mutiert. Die Staatsgewalt geht nicht mehr vom Volk aus, und sie wird auch nicht mehr für das Volk und schon gar nicht vom Volk ausgeübt. Das Volk spielt in den entwickelten Demokratien nur noch eine untergeordnete Rolle – als Legitimationsbasis für die Ausübung von Herrschaft, als Quelle grenzenlosen Schröpfens, als Staffage und Claque für die öffentliche Polit-Show und als Plebs für pompöse PR-Klamauk-Spektakel.
Das führt zwangsläufig dazu, dass alle Kräfte des politischen Systems im Ergebnis die Lage des Volks progressiv verschlechtern. Darin unterscheiden sich die entwickelten Demokratien nachhaltig von den demokratischen Idealen der frühen Jahre.
Inzwischen hat das Kapital seine Herrschaft mit der tatkräftigen Hilfe der gewählten Repräsentanten in Stein gemeißelt und wird sie nicht mehr aus der Hand geben.
Deshalb lässt sich dieser über Jahrzehnte schleichende Prozess auch nicht einfach wieder zurückdrehen. Die Kräfte, die ihn in Gang gesetzt haben, haben die Machtstrukturen grundlegend umgebaut. Und diejenigen Kräfte, die im Verlauf dieses Prozesses Macht errungen haben, zeigen keinerlei Neigung, sie je wieder aus der Hand zu geben. Alle Versuche à la „mehr Demokratie wagen“ oder ein bisschen „mehr direkte Demokratie“ prallen wirkungslos an den verhärteten Strukturen ab.
Die Folge ist: Nur wenigen geht es gut, der breiten Bevölkerung geht es zunehmend schlechter. Die untere Schicht der Bevölkerung wächst und wächst und wächst, und die mittlere Schicht schrumpft und schrumpft…
Und vor allem: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden und vergrößert sich immer mehr…
Ja, große Teile der Bevölkerungen leben in bitterer Armut. Selbst in relativ reichen Ländern wie Deutschland.
In allen entwickelten Demokratien wächst die Armut. Kinder aus armen und bildungsfernen Schichten haben deutlich schlechtere Chancen als Kinder aus bürgerlichen Familien. Eine wachsende Zahl von Bürgern kann sich und ihre Familien von ihrer Hände Arbeit nicht oder kaum noch ernähren. Altersarmut breitet sich aus, weil viele Rentner von ihren Renten nicht mehr leben können.
Die gestern und heute lebenden Generationen haben die Einkünfte künftiger Generationen schon heute aufgezehrt und zehren sie ungerührt weiter auf. Der Mittelstand wird in einem sich über Jahrzehnte erstreckenden Prozess buchstäblich zwischen den Fronten zerrieben – als direkte Folge des demokratischen Systems; denn er ist die einzige verbliebene große Sozialschicht, die einstweilen noch ohne gar zu großes Risiko ausgesaugt werden kann. Doch wie lange noch?
Die Unterschicht ist weitgehend zerschröpft und muss sogar vom Staat alimentiert werden. Und die oberste Oberschicht lässt sich nicht ohne ein für die politische Kaste viel zu hohes Risiko anzapfen. Davor schreckt die ach so demokratische Politik zurück. Die wahren Herren im System bleiben unangetastet.
Der Abstand der wirklich Reichen vom Rest der Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten geradezu exponentiell gewachsen. Er hat längst Ausmaße erreicht, die alle Vorstellungen sprengen. Damit kein Missverständnis aufkommt: Dies kann man ausnahmsweise nicht den demokratischen Systemen der entwickelten Welt zur Last legen. Aber man kann ihnen zur Last legen, dass sie der Ausbreitung einer Plutokratie nicht Einhalt gebieten.
Die entwickelten Demokratien tun nichts dagegen, dass die Herrschaft der Superreichen die fromme Mär widerlegt, wir lebten in einer Leistungsgesellschaft; denn die wirklich Reichen aller Länder haben ihre Vermögen nicht durch Leistung und schon gar nicht durch Arbeit, sondern durch Erbschaft erworben. Und sie erhalten und mehren es auch nicht durch Leistung und Arbeit. Ihr Kapital erhält und mehrt sich ganz von selbst – wenn auch mit tatkräftiger staatlicher Förderung. Die demokratische Politik ist ein williger Helfer der Plutokratie und ein Feind des Volks.
Noch 1970 gehörten dem reichsten Zehntel der bundesdeutschen Gesellschaft 44 Prozent des gesamten Volksvermögens. 2012 gehören ihm über 66 Prozent. Diese gigantische Umverteilung vollzieht sich in allen entwickelten repräsentativen Demokratien der Welt.
Einem einzigen Prozent der Bevölkerung gehören heute 35,8 Prozent des Vermögens, das heißt, sie besitzen mehr als die ärmeren 90 Prozent der Menschen. Denen gehören zusammen nämlich nur 33,4 Prozent des gesamten Vermögens. Die Superreichen des Geldadels arbeiten nicht und sie leisten nichts. Sie lassen ihr Kapital arbeiten. Sie sind keine Unternehmensgründer und auch keine Unternehmenslenker. Sie sind Anleger und verwalten das Vermögen, das ihre Väter und Großväter geschaffen haben. Doch Geldvermehrung durch Vermögensverwaltung ist keine Leistung. Die Geldelite ist auch keine Leistungselite. Die demokratische Politik hat diese gigantische Umverteilung von unten nach oben auf jeden Fall nicht verhindert. Im Gegenteil, sie hat nach Kräften mitgeholfen, sie wachsen und gedeihen zu lassen.
Die entwickelten Demokratien sind keine Leistungsgesellschaften mehr. Sie haben sich selbst von Leistungsgesellschaften zu ergebenen Dienern und Handlangern des Kapitals gewandelt. Wer mit seinem Vermögen Geld verdient, zahlt pauschal 25 Prozent Kapitalertragssteuer. Wer sein Einkommen durch Arbeit erzielt, zahlt hingegen bis zu 45 Prozent.
Das demokratische System schafft keine Gerechtigkeit. Es schafft krasse Ungerechtigkeit und lässt sich davon auch durch nichts abbringen. Im Gegenteil: Es perpetuiert sie. Die Superreichen tragen in immer geringerem Maße zum Gemeinwohl bei, obwohl sie für sich selbst doch so gern das Bild von der Lokomotive in Anspruch nehmen, die den Zug des allgemeinen Wohls in Fahrt bringt. Doch sind sie noch nicht einmal ein Bummelzug, sondern nichts als eine überdimensionierte Riesenbremse, die allen Fortschritt behindert.
1960 trugen die Gewinnsteuern der Kapitaleigentümer etwa 35 Prozent zu den Einnahmen des Staats bei, während die Massensteuern der arbeitenden Menschen nur ein bisschen mehr aufbrachten, nämlich 38 Prozent. Zwischen Kapital und Arbeit herrschte damals noch so eine Art fragiles Gleichgewicht.
Die Zeiten sind längst vorüber. Das Gleichgewicht ist gekippt. Die fortschreitende Entwicklung der Demokratien hat überall den gleichen Prozess in Gang gesetzt: Die Reichen werden reicher. Alle anderen werden ärmer.
Heute zahlt das Gros der Bevölkerung mit seinen Massensteuern 71 Prozent des gesamten Steueraufkommens. Die Gewinnsteuern liegen unter 20 Prozent. Also wächst der Reichtum des Geldadels ganz von selbst. Er braucht nicht einmal selbst etwas dafür zu tun. Er kann sich hinsetzen und dabei zuschauen, wie sein Vermögen blüht und unaufhörlich wächst.
Die oberste Oberschicht ist fein ‘raus. Den Staat finanzieren die arbeitenden Menschen aus der Mittelschicht. Die Angehörigen der obersten Oberschicht tragen noch nicht einmal Peanuts dazu bei. Doch wie lange wird das noch möglich sein, wenn die Mittelschicht weiter schrumpft? Denn deren Wohlstand sinkt.
Hier zeigt sich einmal mehr die selbstzerstörerische Eigendynamik der entwickelten Demokratien. Die einzige Bevölkerungsschicht, auf der das politische und wirtschaftliche System dauerhaft ruht, wird nach und nach von den Rändern her angefressen und aufgezehrt. Und das wird so lange gehen, bis die Mittelschicht im Kern vernichtet ist.
Wir leben längst wieder in einem Herrschaftssystem, das nur noch formal eine Art Demokratie ist. Soziologen wie Sighard Neckel befassen sich seit langem mit der Thematik. Das „Schrumpfen der Mittelschicht”, die „Erosion des Leistungsprinzips” und die „Refeudalisierung” der Gesellschaft sind Standardthemen der Soziologie aller demokratischen Länder.
Was hat die vermeintliche Volksherrschaft dem Volk gebracht? Ein in reinen Formalismen erstarrtes politisches System, in dem das Volk nichts zu sagen hat und das in Wahrheit eine Herrschaft über das Volk darstellt, hinter deren scheindemokratisch polierter Fassade soziale Ungerechtigkeit, Chancenungleichheit, bittere Armut und großes soziales Elend sich ständig und unaufhaltsam weiter ausbreiten.
Die gewählten Repräsentanten des Volks sehen dem unwürdigen Schauspiel gelangweilt zu. Sie sind nicht in der Lage, etwas dagegen auszurichten; denn sie haben nicht die Macht und auch nicht das Interesse, grundlegende Veränderungen durchzusetzen. Sie sind ja gut versorgt.
Doch dem breiten Volk in allen entwickelten Demokratien geht es immer schlechter. Es ist ein Skandal, dass in einem der reichsten Länder der Welt jedes siebte Kind unter 15 Jahren, in Ostdeutschland sogar jedes vierte Kind von Hartz IV leben muss. In Berlin ist jedes dritte Kind auf Hartz IV angewiesen.
Im Ruhrgebiet liegt die Kinder-Armutsquote bei steigender Tendenz mit 25,6 Prozent sogar noch deutlich höher als in Ostdeutschland. Trauriger Spitzenreiter im Städtevergleich ist Gelsenkirchen mit einem Anteil von 34,4 Prozent armer Kinder. In Städten wie Mülheim oder Hamm wuchs die Kinderarmut in den fünf Jahren von 2007 auf 2012 um bis zu 48 Prozent. Die Demokratie beschert dem Volk die nachhaltige Pauperisierung ganzer Generationen. Die Jahr für Jahr wachsende Armutsquote beträgt im Bundesdurchschnitt 15,5 Prozent. Für eines der reichsten Länder der Welt ist das eine Schande.
Es ist dies aber nicht das Werk eines finsteren Diktators, der sein Volk aussaugt. Es ist das Werk einer auf dem Boden des repräsentativen Parteienstaats gedeihenden, teils gewissenlosen, teils gleichgültigen und teils einfach auch nur hilflosen und unfähigen Politikerkaste, die sich ständig mehr mit sich selbst beschäftigt und der das eigene luxuriöse Hemd näher als die verschlissenen Hosen der breiten Bevölkerung ist.
Wie eng man den Zusammenhang zwischen Demokratie und der wachsenden Verarmung der Bevölkerung auch sieht: Die Demokratie ist kein taugliches Instrument, das geeignet wäre, der Kluft zwischen Arm und Reich Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil, die Politik in allen entwickelten Demokratien fungiert als williger Helfershelfer, der die ohnehin schon tief klaffende Kluft nach Kräften weiter aufreißt.
Als Folge dieser gigantischen Umverteilung wirtschaftlicher und politischer Macht hat sich auf der ganzen Welt die Einkommens- und noch viel mehr die Vermögensverteilung zu Gunsten der Reichen und Superreichen und zum Nachteil der restlichen Bevölkerung massiv verschoben. Schulden machen reich. Genauer: Sie machen einige wenige enorm reich und die meisten anderen arm.
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Rogoff spricht davon, dass heute längst wieder Vermögensmacht wie zu Zeiten der rücksichtslosen „robber barons“ im 19. Jahrhundert, des entfesselten Raubtierkapitalismus und auf dem Höhepunkt der Ungleichheit herrscht.
Die demokratisch gewählten Entscheidungsträger tragen die Hauptverantwortung für diese unheilvolle Entwicklung. Sie haben die entscheidenden Weichenstellungen durchgesetzt und die Unternehmenssteuern und die Steuern auf Kapitaleinkünfte und Vermögen radikal gesenkt. Sie sind eben nicht die Vertreter der Interessen ihrer Wähler, sondern die Handlanger der Plutokraten.
Die resultierende Strukturveränderung ist eine unmittelbare Folge fehlender Besteuerung von Unternehmen und Superreichen sowie der immensen Staatsverschuldung. Sie hat dazu geführt, dass heute viel zu viel Geld in der Welt im Umlauf ist. Und je mehr Geld zirkuliert, desto wichtiger wird es. Heute beherrscht die Geldwirtschaft die Realwirtschaft, statt ihr zu dienen.
Der Wert aller Aktien, die 2013 gehandelt wurden, betrug 64,2 Billionen Dollar. Doch alle Arbeitnehmer der Welt verdienten im selben Jahr nur 50 Billionen Dollar. Und das sind die Märkte von Optionen und anderen Geldwetten: gigantische 1.800 Billionen Dollar. Etwas kann nicht stimmen mit dem Finanzsystem, wenn mit Geldgeschäften ein Vielfaches von dem verdient wird, was Milliarden Arbeitnehmer und Maschinen erwirtschaften.
Ohne das Geld derjenigen, die von der Staatsschuldenkrise profitiert haben, lässt sich die öffentliche Verschuldung nicht abbauen. Aus der heutigen Verschuldung von 78,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts werden in nur einer Generation 130 Prozent bei einem realistischen Wachstum von nur einem Prozent und bei niedrigen Zinsen. Und wenn die Zinsen nur auf drei Prozent ansteigen, explodieren die öffentlichen Schulden auf 250 Prozent des BIP. Es bestehen kaum Chancen, auf herkömmlichen Wegen aus den Schulden herauszukommen.
Doch nicht nur, dass es breiten Kreisen der Bevölkerung immer schlechter geht und ihnen immer tiefer in die Taschen gegriffen wird, um die Herrschaft der politischen Kaste aufrecht zu erhalten. Die sozialen Kosten des Systems „repräsentative Demokratie“ sind viel zu hoch. Sie übersteigen bei weitem seinen Gewinn.
Das politische System mit seinem umfangreichen Apparat und der Notwendigkeit für die politischen Parteien, Wahlen zu gewinnen und das mit Wahlgeschenken zu finanzieren, haben die Finanzen der entwickelten Demokratien in aller Welt und auf allen Ebenen ruiniert.
Das politische System der entwickelten repräsentativen Demokratien verschwendet massenhaft Ressourcen, die dringend gebraucht werden. Die politische Kaste mit ihren zehn- bis zwanzigtausend Personen verbraucht nicht nur für sich selbst gigantische Geldmengen. Sie verursacht vor allem eine immense Fehlleitung von Steuereinnahmen und eine immense Staatsverschuldung.
Das kostet das Volk weit mehr, als die Gegenleistung wert ist. Politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen, deren Inhalt vom Primat des Machterhalts und Machtgewinns von Parteien bestimmt ist, können der breiten Bevölkerung nicht nützen. Sie schaden ihr immens.
Die demokratische Politik mit ihren unzähligen Fehlleistungen ist das Geld nicht wert, das sie fehlleitet und verprasst. Eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung der entwickelten Demokratien muss zwangsläufig zu dem Ergebnis kommen, dass ihr Nutzen gering ist und ihre Kosten immens sind.
Sie kritisieren also die undemokratischen Zustände im Land, um schließlich festzustellen, dass gegen den Weg in die Diktatur ohnehin kein Kraut gewachsen ist? Wir sollen uns gar nicht erst wehren, verstehe ich recht?
Nein. Man wirft mir mitunter vor, meine Kritik an den entwickelten repräsentativen Demokratien sei ja höchst berechtigt. Aber „bloß Kritik“ sei ja geistlos. Ich solle doch auch eine Lösung des Problems vorschlagen.
Wer das sagt, hat noch nicht einmal im Ansatz begriffen, dass meine Kritik auf die in allen Demokratien in ein- bis zweihundert Jahren herangewachsene, in Stein gemeißelte Strukturen zielt.
Ich wäre ja schon froh, wenn die meisten Leute sich darüber im Klaren wären, dass die Demokratien der Welt auf den eigenen Niedergang zusteuern. Sie haben derzeit ja nur ein rudimentäres Bewusstsein dieses drohenden Untergangs.
Mit lustigen Vorschlägen, die ein Autor aus einem kleinen Dorf am Bodensee dafür macht, wie man den Untergang der verkrusteten entwickelten repräsentativen Demokratien vermeiden könnte, könnte sich der Autor nur blamieren. Bedeutete das doch: „Mit ein paar ulkigen Tricks kommt man da wieder ‘raus!“
Man muss das noch einmal deutlich sagen: Es handelt sich um eine schwerwiegende STRUKTURKRISE.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Wolfgang Koschnick ist Buchautor, Fachjournalist und Unternehmensberater. Er studierte Volkswirtschaft und Politikwissenschaft in Kiel, Houston (Texas) und Berlin und schloss als Diplom-Politologe ab. Als Journalist war er in den USA unter anderem für den Boston Globe, das San Francisco Chronicle und zahlreiche andere Zeitungen und Zeitschriften tätig – später auch von Deutschland aus. Er war Leiter der Auslandsabteilung im Institut für Demoskopie Allensbach und Chefredakteur der Fachzeitschriften Horizont, ZV+ZV und Copy. Er lebt in Allensbach am Bodensee.
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