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Titel: Studiengebührenurteil des Hessischen Staatsgerichtshofs: Chancengleichheit durch Verschuldung
Datum: 13. Juni 2008 um 8:53 Uhr
Rubrik: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Hochschulen und Wissenschaft, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Sozialstaat
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Mit Wortverdreherei und juristischer Rabulistik gelingt es der Mehrheit der Richter am hessischen Verfassungsgerichtshof, den eindeutigen Wortlaut des Artikels 59 der Hessischen Landesverfassung in sein Gegenteil zu wenden. Aus der Unentgeltlichkeit des Studiums wird die Zulässigkeit des Bezahlstudiums für alle. Wer kein Geld hat, muss sich eben verschulden, dann hat er genauso viel, wie derjenige, der Geld hat. Ein klassischer Fall von Oberschichten-Justiz.
Art. 59 Abs. 1 der Hessischen Landesverfassung, an dem der Staatsgerichtshof das Gesetz zur Einführung von Studiengebühren zu bewerten hatte, lautet:
In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich. Unentgeltlich sind auch die Lernmittel mit Ausnahme der an den Hochschulen gebrauchten. Das Gesetz muss vorsehen, dass für begabte Kinder sozial Schwächergestellter Erziehungsbeihilfen zu leisten sind. Es kann anordnen, dass ein angemessenes Schulgeld zu zahlen ist, wenn die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder der sonst Unterhaltspflichtigen es gestattet.
Wer der deutschen Sprache mächtig ist, die Bedeutung der Worte kennt und darüber hinaus die deutsche Grammatik beherrscht, müsste nach dem Wortlaut dieser Verfassungsbestimmung Folgendes verstehen:
Der Wortlaut sagt also eindeutig, dass Begabte und sozial Schwächere zu fördern sind und nur die Gruppe, die wirtschaftlich dazu in der Lage ist, mit einem Schulgeld belegt werden darf.
Für die Mehrheit der Richter des hessischen Staatsgerichtshofs hat jedoch dieser Gesetzestext eine geradezu gegenteilige Bedeutung:
Für die Richter Paul, Teufel, Detterbeck, Kilian-Bock, Nassauer, Wolksi liest sich Art Art. 59 Abs. 1 HV so:
Wie konnte eine solche gleich dreifache Umkehrung eines Gesetzeswortlauts gelingen?
Warum die “Haushaltswirtschaft“ so ist, wie sie ist, ob das etwas mit der Steuerpolitik oder mit politischen Prioritätensetzungen bei der Aufstellung des Haushalts zu tun hat, interessiert die Richter nicht.
Das ist typisch für die inzwischen herrschende Lehre vom Sozialstaat. Soziale Rechte unterliegen sozusagen der staatlichen Barmherzigkeit. Sie haben allenfalls noch den Stellenwert eines Appells an das karitative Gewissen der Politiker. Die Obrigkeit kann nach Gusto mal großzügiger sein oder eben etwas weniger großzügig. Soziale Rechte verleihen nicht etwa einen Anspruch auf Förderung der sozial Benachteiligten, nein, der Gesetzgeber kann nach Auffassung der Richter von den durch solche Rechte eigentlich zu Fördernden sogar ein Opfer – wie eben die Studiengebühr – abverlangen.
Dabei wandelt sich das materielle Prinzip der Chancengleichheit, also der Herstellung möglichst gleicher Voraussetzungen zur Wahrnehmung von Bildungschancen, in das liberale Prinzip der Chancengerechtigkeit, wonach jeder unbeschadet seiner tatsächlichen Möglichkeiten nur die gleiche Zugangschance zu Bildung zu haben braucht. Die real bestehende Ungleichheit der Bildungschancen, etwa dass der eine Geld hat und der andere nicht, ist bei der formalen Chancengerechtigkeit unerheblich.
Kurz: Die hessische Landesverfassung schreibe nicht vor, ob die wirtschaftliche Lage zur Bezahlung der Studiengebühr sich aus den Einkünften der Eltern, aus dem Vermögen oder aus der Beschaffung des nötigen Geldes (durch Verschuldung) ergibt.
Die Möglichkeit zur Aufnahme eines Darlehens stellt also nach Meinung der Richter die Schwächergestellten mit den Bessergestellten gleich. Ein mittelloser Studierender muss sich eben für die Studiengebühr nur verschulden können, damit seine wirtschaftliche Lage demjenigen gleichgestellt ist, der aus einem betuchteren Elternhaus kommt, das die Studiengebühr aus der Westentasche bezahlen kann.
Somit ist für die Richter derjenige, der eine Hypothek aufnehmen muss, in der gleichen wirtschaftlichen Lage wie derjenige, der bar bezahlen kann.
Und also lautet der Beschluss, dass jeder was bezahlen muss:
„Der Gesetzgeber durfte sich für eine Erhebung allgemeiner Studienbeiträge
entscheiden, weil er aufgrund der Bereitstellung eines für jeden Studierenden verfügbaren Studiendarlehens unter den vom Gesetz geregelten Konditionen davon ausgehen durfte, dass die wirtschaftliche Lage aller Studierenden im Sinne des Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV die Zahlung des Studienbeitrags erlaubt. Als Konsequenz hieraus bedurfte es auch keiner individuellen Leistungsfähigkeitsprüfung der Studierenden mehr.“
Der Verweis auf ein bonitätsunabhängiges Studiendarlehen stellt also alle Studierende unter die Ausnahmeregelung des Art.59 HV, wonach sie wirtschaftlich in der Lage seien, Studiengebühren zu bezahlen.
Die Richter unterstellen also einfach, dass dadurch, dass man Schulden machen kann, sich die wirtschaftliche Lage eines Darlehensnehmers verbessere.
Dass ein Darlehen die wirtschaftliche Lage des Darlehensschuldner nicht verbessert, sondern eher verschlechtert und er zusätzlich noch durch den Zins schlechter gestellt wird, als derjenige der bar bezahlt, interessiert die Richter nicht. Für sie ist der Unterschied zwischen Arm und Reich ist aufgehoben, weil sich die Armen ja ein Darlehen nehmen können, wenn ihnen das nötige Geld fehlt.
Das Studium gilt als „unentgeltlich“, weil man es ja erst später bezahlen muss.
Und weiter heißt es im Urteil: „Die Inkaufnahme der finanziellen Belastung durch die Darlehensaufnahme erweist sich aus Sicht eines rational handelnden Studierenden auch in wirtschaftlicher Hinsicht als zumutbar und sinnvoll. Denn mit einem Hochschulabschluss wird typischerweise eine ökonomisch privilegierte Position auf dem Arbeitsmarkt erreicht.“
Hier stoßen wir also wieder auf das Leitbild des ökonomisch rational handelnden homo oeconomicus, der sein Studium als Investment in das eigene Humankapital begreift und sich wie ein Wirtschaftssubjekt das dazu notwendige Kapital bei der Bank holt. Das Gericht spricht sogar ausdrücklich an einer Stelle von einer „langfristigen Investitionsentscheidung“.
Der Studierende investiert also in seine wirtschaftliche Verwertbarkeit und setzt darauf, dass diese Investition für ihn Profit abwirft. Der Gedanke, dass ein Studium etwas mit Bildung zu tun hat, dass die Qualifizierung der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu gute kommt, dass Bildung etwas mit demokratischer und kultureller Teilhabe in einer lebendigen Demokratie zu tun hat, all das kommt diesen Richtern nicht mehr in den Sinn.
Auch jenseits der ökonomistisch reduzierten Betrachtungsweise eines Studiums verweigern die Richter sich der Wahrnehmung der Wirklichkeit:
Die Mehrheit der Richter am Hessischen Staatsgerichtshof scheint für alle diese Tatsachen und Argumente kaum mehr ein Gespür zu haben.
Die Begründungen für das Urteil sind eine typische Beispiele dafür, wie auch in der Justiz ökonomische Dogmen den Blick auf die soziale Wirklichkeit verstellen. Die Argumentation der Richter passt sich voll und ganz den Argumentationsmustern der konservativen Eliten im Lande an.
Kurz: Das Urteil über die Vereinbarkeit von Studiengebühren mit Art. 59 der Hessischen Landesverfassung ist ein klassisches Beispiel für eine „Oberschichten-Justiz“.
Die Lektüre des Minderheitenvotums der fünf unterlegenen Richter lohnt sich.
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