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Titel: Franz Walter: Nachruf auf die SPD – eine Volkspartei implodiert
Datum: 5. Juni 2008 um 8:59 Uhr
Rubrik: Demoskopie/Umfragen, SPD
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
„20 Prozent für die Sozialdemokraten, wenn am Sonntag Bundestagswahlen wären: Wieder registrieren die Meinungsforscher von Forsa einen Minusrekord. Aber nicht nur die Wähler laufen der SPD weg – die Partei hat sich längst von sich selbst verabschiedet“, schreibt Franz Walter im Spiegel. Der Essay von Walter über den Niedergang der SPD ist eine Betrachtung von außen. Dabei kann man Vielem, was er beschreibt, nur zustimmen. Was ihm dabei allerdings völlig aus dem Blick gerät, das ist die Analyse, wie es und vor allem durch welche Kräfte innerhalb der Partei es zu dieser Implosion „der SPD“ kommen konnte. Es bleibt nach der Lektüre der Eindruck zurück, als sei der Zustand der SPD einer geradezu schicksalhaften Entwicklung geschuldet. Mit keinem Wort geht Franz Walter auf die Akteure innerhalb der SPD ein, die diese Partei in den Abgrund geführt haben. Es bleibt auch ausgespart, durch welchen politischen Kurs und mit welchen Mitteln das Führungspersonal diese Partei ruiniert hat.
Wie so häufig schreibt Franz Walter manches Richtige über die SPD, bei manchen Einschätzungen vermag ich ihm überhaupt nicht zuzustimmen. So teile ich keineswegs Walters Ansicht, dass „prominente Sozialdemokraten“ angesichts des trostlosen Zustands indifferent, träge oder lethargisch seien. Für mich stellt sich die Situation vielmehr so dar, dass etliche der „Regierungs-Sozialdemokraten“, wie Steinmeier, Steinbrück, Scholz, Tiefensee oder die Führung der Bundestagsfraktion von Struck bis Oppermann, sich mit aller Macht gegen eine Mehrheit oder jedenfalls gegen eine weit verbreitete Stimmung an der Parteibasis stemmen.Sie tun das – insofern gebe ich Walter recht – nicht offensiv und in einer argumentativen Auseinandersetzung, sondern indem sie in ihren Ämtern Fakten setzen oder mit Verfahrenstricks arbeiten.
Das kann man exemplarisch am Umgang der Führungsriege der SPD mit den Beschlüssen des Hamburger Parteitags oder mit dem dort verabschiedeten Grundsatzprogramm deutlich machen.
Auf diesem Parteitag wäre es zu einem Mehrheitsbeschluss gegen eine Privatisierung der Bahn gekommen, wenn nicht der Parteivorsitzende Kurt Beck in einer Art Vertrauensfrage einen Verfahrenskompromiss durchgesetzt hätte. Immerhin hieß es aber in dem verabschiedeten Beschluss noch: Die Deutsche Bahn bleibt ein Instrument der Daseinsvorsorge; private Investoren können sich zwar über stimmrechtslose Vorzugsaktien beteiligen, dürfen jedoch keinen Einfluss auf die Geschäftspolitik bekommen. Wörtlich: “Private Investoren dürfen keinen Einfluss auf die Unternehmensführung ausüben. Zur Erreichung dieses Ziels stellt die stimmrechtslose Vorzugsaktie die geeignete Form dar…eine andere Beteiligung privater Investoren lehnen wir ab.”
Kurt Beck gab bei seiner aufgeregten Intervention auf dem Hamburger Parteitag den Delegierten folgendes Versprechen ab:
„… dann sage ich Euch zu, dass wir bei dieser Beratung die hier deutlich gewordenen Sorgen und Bedenken einbeziehen werden. Und wenn bei dieser Beratung des Parteivorstandes unter diesen Anhörbedingungen, die ich angesprochen habe, diese Sorgen nicht völlig ausgeräumt sind, nicht völlig ausgeräumt sind, dann wird der Parteivorstand einer Regelung nicht von sich aus zustimmen, sondern die Entscheidung dem nächsten Parteitag übertragen.“
Schon wenige Tage nach dem Hamburger Parteitag brachten Tiefensee und Steinbrück, als ginge sie dieser Beschluss nichts an, das sog. Holding-Modell ins Gespräch. Danach sollten der Mutterkonzern im Bundeseigentum bleiben, die Töchter jedoch an die Börse gehen können.
Mitte April haben die Gremien der SPD – ohne einen Parteitag darüber entscheiden zu lassen – beschlossen, dass sich an den Betriebsgesellschaften (Fahrbetrieb und Güterverkehr) private Investoren mit bis zu 24,9 Prozent beteiligen können.
Für ihr Stillhalten gegenüber Kurt Becks ungeschickt eingestielten Öffnungsversuch gegenüber der Linkspartei haben ihm seine Stellvertreter Steinbrück und Steinmeier die Privatisierung der Bahn abgepresst.
Ein ähnliches Überrumpelungsmanöver konnte man auch vor dem „Zukunftskonvent“ der SPD beobachten. Da verortete der Hamburger Parteitag die SPD ausdrücklich als „linke Volkspartei“. Zwei Tage vor dem Treffen legten Steinmeier und Steinbrück ein Papier vor, indem sie die SPD „wieder“ in die „Mitte“ rücken wollten. Und wieder gab Kurt Beck nach und unterzeichnete mit. Beide wussten sehr genau, dass es auf diesem Konvent vor allem um ein trotziges Aufbruchssignal gehen musste und dass keine Entscheidungen getroffen werden konnten, deshalb konnte ein solcher Richtungsschwenk ohne Widerspruch aus der Partei kommuniziert werden.
Das sind nur zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit, wie die Parteirechte mit der Partei umspringt. Dieses Ausmanövrieren der Partei durch die rechte Parteiführung machte seit Schröders Agenda-Verkündung Schule. Bis hin zum Coup der Ausrufung von Neuwahlen hat eine Parteiführung nach der anderen mit allen Mitteln versucht, eine Diskussion oder eine kritische Analyse über den politischen Kurs der SPD zu verhindern. Es gab keine Bestandsaufnahme der Agenda-Politik, es gab keine Aufarbeitung, warum die SPD Wahl für Wahl verloren hat, es durfte kein Nachdenken darüber geben, warum der SPD die Mitglieder in Scharen davon gelaufen sind. Die Flügelkämpfe „als Ausdruck elementarer Lebenswelten und Interessen“ (Walter) wurden – auch weil dem linken Flügel ein Kopf und eine informelle Organisationsstruktur fehlen – allenfalls unter der Decke ausgetragen, und mit jedem neuen Parteivorsitzenden, von Schröder über Müntefering und Platzeck bis Beck, musste die SPD zunächst einmal – diszipliniert wie die Parteitagsdelegierten der SPD eben immer waren – die jeweilige neue Führung unterstützen, ohne dass ernsthaft über Inhalte gestritten werden konnte oder wenigstens eine offene Klärung der politischen Ausrichtung herbeigeführt wurde.
Es herrscht ein Führungsstil, der inzwischen hauptsächlich von „bürokratischen“ Machtverwaltern an der Spitze der Partei geprägt ist. Verhaftet in ihrem vorausgegangenen Tun setzen die „Regierungs-Sozialdemokraten“ ihren Kurs mit Verfahrenstricks, „Personalklüngeln“, „intrigenhaften Scharmützeln“ (Walter) oder einfach damit durch, dass sie Fakten schaffen (z.B. die Bahnprivatisierung).
Die „Stones“, also die Steinmeiers und Steinbrücks, aber auch Scholz, Tiefensee oder Oppermann, verstehen und behandeln die SPD nicht mehr als eine Partei, in der sich Menschen zusammengefunden haben, um sich einzubringen und um gemeinsame politische Ziele zu verfolgen. Sie betrachten die SPD als ein in einer Parteiendemokratie notwendiges Übel, als einen Wahlverein, der den Amts- und Mandatsträgern zu folgen und zuzujubeln hat.
Die Schröderianer haben nie verstanden, dass die SPD – wie Franz Walter richtig schreibt – „eine Mitglieder- und Organisationspartei“ ist, die als Unterschichtenpartei auf die Sammlung von Menschen und Potenzierung von Organisationskraft angewiesen ist – weit stärker als ihre bürgerlichen Pendants, die über andere, materiell und kulturell wirksamere Ressourcen verfügen. Man könnte es etwas knapper auch so sagen: Schröder hat den „Genossen der Bosse“ gespielt und auf „Bild und die Glotze“ gesetzt – doch die Bosse und die Leitmedien haben weiterhin andere politische Kräfte unterstützt.
Steinmeier und Steinbrück verhalten sich auch als Politiker wie Karrierebeamte, nämlich so, als wären sie durch ihre Ernennungsurkunde ermächtigt, Entscheidungen zu treffen und diese mit ihrer Amtsautorität gegenüber unwilligen Genossen durchzusetzen. Ihnen geht es nicht mehr darum zu überzeugen, mitzunehmen oder Mehrheiten für Sachfragen zu organisieren, ihnen geht es um Gefolgschaft für die Ziele, die sie für richtig halten oder die sie durch ihr politisches Handeln gesetzt haben.
Verehrter Franz Walter, nicht „die Partei hat sich längst von sich selbst verabschiedet“, „die Partei“ wurde in den letzten Jahren von ihrer Führung verabschiedet oder hat sich verabschieden lassen. Und gerade deshalb hält sich „die Verzweiflung darüber…(dass die Partei implodiert) bei denen, die es angeht, in Grenzen“. Es ist gerade nicht „die Indifferenz, die Trägheit, die Lethargie prominenter Sozialdemokraten…warum der Zustand der SPD zum Gotterbarmen ist“, sondern es ist umgekehrt das zähe Kleben an der Agenda und das verdeckte Lavieren für einen politischen Kurs, den die politische Prominenz gegenüber der Partei und der Bevölkerung durchgesetzt hat. Steinmeier und Steinbrück verteidigen nur noch das vermeintlich heldenhafte Bild, das nach ihrer Meinung ihr großer Zampano Gerhard Schröder im Buch der Geschichte hinterlassen haben soll.
Nicht die SPD als Partei hat sich „von der Arbeiterklasse“ entkoppelt, sondern es waren ihre führenden Leute, die diese Entkoppelung offen zum Programm erhoben. Steinbrück hat das schon im Jahre 2003 in einem Zeit-Interview auf den Punkt gebracht: „Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“
Die seit der Agenda-Ausrufung immer wiederkehrenden Anläufe, „soziale Gerechtigkeit“ neu zu definieren, angefangen vom „Fördern und Fordern“, über den „aktivierenden Sozialstaat“, die „Chancengerechtigkeit“ bis hin zur Orientierung auf die „Leistungsträger“ und „die Mitte“, haben den „kleinen Leuten“ nur allzu deutlich gemacht, dass sie ihre „Schutzmacht“ verloren haben.
Diejenigen, die die Lebenserfahrung gemacht haben, dass sie sich nicht alleine durchsetzen können, sondern dass sie eine politische Organisation, einen parlamentarischen „Betriebsrat“, eine Partei brauchen, die ihre Interessen gegenüber den strukturell mächtigeren Interessen in der Gesellschaft verteidigt, haben gespürt, dass sie von der SPD an den Rand gedrängt wurden, dass ihnen sogar vorgehalten wurde, sie würden sich nicht ausreichend anstrengen („Eigenverantwortung“), ja noch mehr, sie wurden als lästige Kostgänger des Sozialstaats abgestempelt (Hartz IV und die Gleichsetzung mit Sozialhilfeempfängern).
Deshalb verlor die SPD seit 1998 bei den Arbeitnehmern 15 Prozentpunkte und bei etlichen Landtagswahlen „gar ein Fünftel ihrer bisherigen Arbeiterwähler“. Ich stimme Franz Walter zu: „Der kühle, unsentimentale Exodus der Arbeiterklasse hat dem über ein Jahrhundert aufgeschichteten sozialdemokratischen Selbstverständnis den Kern genommen, mehr noch: hat der Partei ihre historische Voraussetzung und Zielsetzung – die Emanzipation der unteren Schichten – entzogen.“
Ich stimme Franz Walter auch zu: „Die SPD des Jahres 2008 ist keine Emanzipationsbewegung mehr“. Sie wurde zu einer Interessensformation der „Neo-Arrivierten in den ‚neuen Mitten’“ deformiert.
Ich kritisiere Franz Walter aber dafür, dass er nicht die Ursachen benennt, die zu dieser Deformation geführt haben. Er lässt die Verantwortlichen für den Niedergang der SPD ungeschoren und stellt keine Verbindung zwischen dem Kurs der Schröderianer in der Führungsriege und der Implosion der Partei her.
Indem Franz Walter nur davon spricht „die SPD“ befinde sich „im Herbst ihrer Geschichte“, fördert er nicht nur die Hoffnungslosigkeit der immer weniger werdenden parteiinternen Kritiker, er stärkt damit gleichzeitig die Siegeszuversicht vor allem ihrer konservativen Gegner.
Vermutlich hat deshalb der Spiegel diesen Essay abgedruckt, denn auf der gleichen Seite bietet das Blatt ein Diskussionsforum unter der Überschrift „Beck am Ende?“. Das soll wohl sagen: nicht die „Regierungs-Sozialdemokraten“ sind am Ende, sondern der hilflose Kurt Beck soll es also schuld sein. So schiebt man Steinmeier immer mehr in die Führungsrolle und die SPD als Partei vollends ins Grab.
Vielleicht wird Steinmeier erst 2009, wenn er sein Regierungsamt verliert, merken, dass er nur den Totengräber für die SPD gespielt hat.
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