Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Kollektiver Wahn
Datum: 1. Dezember 2003 um 17:06 Uhr
Rubrik: Sozialstaat, Strategien der Meinungsmache, Veröffentlichungen der Herausgeber, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
Wie in Deutschland Meinungen gemacht werden. Über unreflektierte Modernisierungs- und Reformdebatten. Von Albrecht Müller, Frankfurter Rundschau Dokumentation.
I.
Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, prophezeite vor kurzem das Ende der Regierung Schröder durch grüne Überläufer – es sei denn, Schröder und die SPD besinnten sich auf einen radikalen Schwenk zu Reformen nach dem Muster von New Labour. Das ist die erfreulich offene Erklärung eines – aufgeklärten – Vertreters des Neoliberalismus 1 : entweder Ihr akzeptiert die Hegemonie unserer Ideologie, oder Eure Zeit ist abgelaufen.
Er kann so etwas ziemlich Dreistes öffentlich äußern, weil er sich wie der Fisch im Wasser fühlt. Die Meinungsführer unseres Landes glauben inzwischen unisono an den Reformstau als entscheidende Ursache unseres wirtschaftlichen Unheils und an die heilsame Wirkung von grundlegenden Reformen 2.
Dieser Glaube ist ein Beispiel von mehreren dafür, dass ziemlich irrationale, dafür fixe und kollektiv vertretene Ideen die politische Willensbildung beherrschen. Darunter leidet unser Volk nun schon weit über zehn Jahre. Und es sieht so aus, als würde das Leiden verschärft, weil sich die politisch Verantwortlichen zunehmend dem Druck beugen, den die geistigen Anführer, zu denen Norbert Walter gehört, erzeugen. Die Ergebnisse der Wahlen in Hessen und Niedersachsen werden eifrig benutzt, um den Druck zu steigern.
Reformen sind das unbestrittene Spitzenthema: Deutschland leide unter seiner Reformunfähigkeit und sei deshalb Schlusslicht in Europa, der Sozialstaat, das Modell Deutschland sei nicht mehr zeitgemäß, die sozialen Sicherungssysteme seien nicht mehr finanzierbar, die Steuern und Abgaben zu hoch, die Bürokratien seien unerträglich und Besitzstandswahrer bedrohten unsere Zukunft – so variiert die Diagnose. – Die Therapie beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Schuldenberg lautet: Modernisierung, Ruck, Strukturreformen, die permanente Reform unserer sozialen Sicherungssysteme, den Leuten mehr zumuten, mehr Eigenverantwortung, weniger Staat, mehr Privatisierung und weniger Regulierung.
Alle – fast alle – namhaften geistigen, politischen und medialen Kräfte kommen sich in diesen Tagen näher in Diagnose und Therapie. Die Kommentatoren vermerken mit Anerkennung, dass die Parteien mit Reformsignalen auf einander zugehen. Alle bewegen sich. Ist das nicht wunderbar?
Ohne Zweifel haben wir Reformbedarf. Da unterscheidet sich unsere Zeit nicht von anderen Zeiten. Aber dass die hohe Arbeitslosigkeit, die Insolvenzen und die Wachstumsschwäche unserer Volkswirtschaft, dass die hohen Schulden des Staates und die Haushaltsprobleme vieler Kommunen, dass die wirtschaftliche Stagnation und das Elend in vielen Regionen Ostdeutschlands vor allem eine Folge mangelnder Reformfähigkeit unseres Staates sei, das ist ein wahnhaftes Gedankenkonstrukt, eine gedankliche Obsession könnte man auch sagen. – Und dennoch bestimmt der “Gedanke”, unsere wirtschaftliche Misere sei die Folge von Reformunfähigkeit, die öffentliche Debatte.
II.
Das ist erstaunlich – und auch wieder nicht erstaunlich: Nicht erstaunlich ist es, weil dieser Glaube von Ideologen und Interessenvertretern genährt wird, die den Systemwechsel wollen und deshalb mit größtem Vergnügen behaupten, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten seien die Folge unseres Sozialstaatsmodells, und als Therapie die neoliberalen Rezepte bis hin zu aufgewärmten Reaganomics anbieten. Verkäuferisch geschickt nennen sie dieses Angebot in Anlehnung an gute alte sozialliberale Traditionen Reformen. Die Cleverness, mit der sie die Wirtschaftskrise ausschlachten, und die Effizienz, mit der sie den Glauben an die heilsame Wirkung der von ihnen gewünschten Reformen inszenieren, muss man bewundern.
Dahinter stecken handfeste Interessen. So wollen Teile der Wirtschaftselite endlich die sozialstaatliche Prägung unseres Landes loswerden. Andere hoffen auf direkte profitable Folgen von Reformen. Das gilt z.B. für die Versicherungswirtschaft und die sonstige Finanzindustrie; sie profitieren von der Umstellung sozialer Rentensysteme auf private Vorsorge.
Dass die neoliberalen Ideologen und die potentiellen Gewinner die wirtschaftliche Krise zum Druck auf Strukturreformen nutzen, ist wahrlich nicht erstaunlich. Erstaunlich ist, dass sich ein so breiter Kreis von publizistischen, politischen und wissenschaftlichen Meinungsführern für das gleiche Anliegen zur Verfügung stellt und die gleichen gedanklichen Konstrukte propagiert. Im Blick auf diesen Kreis, dem man böse Absicht nicht unterstellen kann, wird hier von einer gedanklichen Obsession und von kollektivem Wahn gesprochen.
III.
Diese unfreundliche Charakterisierung der laufenden Debatte bedarf der weiteren Erläuterung. Ich stelle sieben zugespitzt formulierte Beobachtungen zur Diskussion:
Erstens: Die Wirkungszusammenhänge werden nicht näher erläutert, sie werden einfach behauptet – ohne einigermaßen plausible Belege. Die deutsche Öffentlichkeit rennt so Diagnosen und Therapien hinterher, die höchst zweifelhaft sind.
Wie sollen Strukturreformen, wie soll der geforderte Ruck den Arbeitslosen Arbeit bringen? Was haben die vielen Insolvenzen mit dem angeblichen Reformstau zu tun? “Weniger Steuern, weniger Abgaben, weniger Staat” heißt es in der Göttinger Erklärung der CDU – wie soll daraus mehr Beschäftigung folgen? Wie funktioniert das konkret? Über welchen Wirkungsmechanismus soll z.B. die vom Arbeitgeberpräsidenten Hundt gerade wieder geforderte Erhöhung des Renteneintrittsalters die Wirtschaft beleben? Wie sollen uns die von New Labour entlehnten Privatisierungen und Deregulierungen aus der ökonomischen Patsche helfen? Wo ist konkret der Wirkungszusammenhang?
Es fällt schwer, die angebotenen Konstrukte nicht polemisch zu hinterfragen. Interessierten Lesern ist zu raten, sich einschlägige Texte wie die Wörlitzer Erklärung der BündnisGrünen, die programmatische Erklärung der CDU-Vorsitzenden zur “neuen Sozialen Marktwirtschaft”3, das Kanzleramtspapier4 oder die Rede des Vorstandschefs der Deutschen Bank, Josef Ackermann, beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt vom 16. Januar 2003 vorzunehmen – und zweimal zu lesen. Sie werden vornehmlich aneinander gereihte Signale und Behauptungen ohne logische Verbindungen finden.
Und selbst da, wo der Eindruck entsteht, als handle es sich um die Beschreibung von Wirkungszusammenhängen, erscheint das nur so. Das beste Beispiel ist der Kern der Argumentation: Wichtig sind ..”Reformen, damit die Lohnnebenkosten sinken und damit die Beschäftigung endlich wieder kräftig steigt.”5 Nahezu jede und jeder glaubt an diesen Zusammenhang wie an eine Erlösung.
Ich zitiere aus dem Kanzleramtspapier – nicht weil dieses Papier besonders schlimm ist, sondern weil es den Glauben an die erlösende Wirkung von Reformen, die die Lohnnebenkosten verringern, geradezu klassisch wiedergibt:
“Wie schädlich steigende Lohnnebenkosten sind, zeigt die Entwicklung seit der Wiedervereinigung: 1990 betrugen die Beitragssätze zur Sozialversicherung noch 35,5 Prozent. Bis 1998 waren sie auf den historischen Höchstwert von 42 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Arbeitslosigkeit von 2,6 Mio. auf 4,28 Mio. Arbeitslose im Jahresdurchschnitt gestiegen. Die Zahl der Erwerbstätigen ging von 38,5 Mio. auf 37,2 Mio. in 1997 zurück. Deswegen … ist eine der Kernstrategien der Bundesregierung die auf eine Absenkung der Lohnebenkosten abzielende Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme.”
Das erinnert an die in Gynäkologenkreisen berichtete “wissenschaftliche” Beobachtung, wonach in Brandenburg der Rückgang der Storchenpopulation direkt mit dem Rückgang der Geburtenrate korreliert. – Bei aller Sympathie für das Bundeskanzleramt: die Entwicklung zweier Ziffern im Zeitablauf nebeneinander zu stellen und dann daraus einen stringenten und einseitigen Wirkungszusammenhang zwischen beiden Faktoren – der Zunahme der Lohnnebenkosten und der Arbeitslosigkeit – abzuleiten, das ist zu Viel des Guten.
Vielleicht sind ja ganz andere Faktoren mit Schuld an der Arbeitslosigkeit – z.B. der Niedergang der Binnennachfrage oder die volkswirtschaftlichen Kosten der deutschen Vereinigung? – Oder: Die schwächelnde Konjunktur und die daraus folgende hohe Arbeitslosigkeit sind mit Schuld an den steigenden Lohnnebenkosten?
Auf dem Hintergrund komplizierter Wirkungszusammenhänge in der “Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme” die “Kernstrategie” für den notwendigen Aufschwung zu sehen – das ist schon sehr abenteuerlich. Ob Unternehmen ihre Produktion ausweiten oder sogar investieren, das hängt von einem Bündel von Daten und Erwartungen ab: vom Umsatz und den Absatzerwartungen, von den Gewinnen und den Gewinnerwartungen, von der Zinsentwicklung, von der Qualität der erreichbaren Arbeitnehmer, von der Steuerbelastung, etc. – und dann auch noch von den Lohnnebenkosten. Das ist ein Faktor unter vielen. Dass dieser eine Faktor nun einvernehmlich von nahezu allen Meinungsführern zum Kern erklärt wird, ist nur noch mit psychologischen Kategorien zu deuten.
Ohne Frage wäre es aus strukturellen Gründen sinnvoll, die Lohnnebenkosten zu senken und die bisher über Beiträge finanzierten Leistungen verstärkt über Steuern zu finanzieren. Das würde arbeitsintensive Produktionen entlasten. Aber dies würde an der Gesamtbelastung unserer Volkswirtschaft nichts ändern und den Durchbruch zur Belebung der Wirtschaft nicht bringen, zumal die notwendigen Systemänderungen sehr viel Zeit brauchen.
Zweitens: Reformen sind zu unrecht das Top-Thema. Diese öffentliche Debatte geht am Kern des Problems und seiner Lösung vorbei.
Wir sitzen mitten in einer Rezession, deren Überwindung die gesamte Aufmerksamkeit der politischen Klasse verlangen würde, – und beschäftigen uns mit der “Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme” 6, damit die Renten auch im Jahre 2050(!) noch finanzierbar sind. – Nebenbei: es ist typisch für die herrschende Unvernunft, dass man von Rezession nicht sprechen darf, obwohl das Wachstum stagniert und unsere Volkswirtschaft im letzten Jahrzehnt im Durchschnitt gerade mal 1,5 Prozent reales Wachstums p.a. erreicht hat. Zum Vergleich die 70er Jahre: im Durchschnitt 3,14 Prozent, trotz Ölpreiskrisen.
Wir wissen, dass es jetzt darauf ankäme, eine Aufbruchstimmung zu erzeugen und dem Standort Deutschland wieder das positive Image zu verschaffen, das er als Land mit andauernden Exportüberschüssen und immer noch modellhaften sozialen Regeln verdient. Der Bundeskanzler versuchte es gelegentlich, aber die Kolonne der Meinungsführer beklagt Deutschlands Reformunfähigkeit.
Wir wissen: die Unternehmer müssten ermuntert werden, ihre Lager wieder aufzubauen und Aufträge zu vergeben, und der Staat müsste auf allen Ebenen nachhelfen und überall investieren, wo es sinnvoll ist. Stattdessen ereifern wir uns über die mögliche Verletzung der Maastricht-Kriterien und maßgebliche Meinungsführer werben für weniger Staat. Man muss kein Keynesianist sein, um dies zumindest in der jetzigen Situation für absolut deplaziert zu halten.
Drittens: Die gängigen Diagnosen und Therapien beziehen ihre Glaubwürdigkeit vor allem aus der Tatsache, dass viele, dass jedenfalls die bestimmenden Kräfte das gleiche sagen, vor- und nachsagen: Die Opposition und Teile der Bundesregierung, Spiegel und Focus, ARD und ZDF, Christiansen und Illner, Hahne und Roth, rechts und links. Und immer wieder. Einer sagt: mit dem Umlageverfahren ist die Altersversorgung nicht mehr zu finanzieren – und alle einflussreichen Multiplikatoren sagen es nach. Einer sagt: wir leben in einem Gewerkschaftsstaat – und Hunderte sagen es nach. Einer sagt: Keynes ist out – und von Abertausenden schallt es zurück. Einer sagt: wir brauchen endlich einen Niedriglohnsektor – und Legionen wiederholen es. Usw., usw. – Dadurch, dass viele das Gleiche wiederholen, wird die Lüge zur Wahrheit, diagnostizierte George Orwell.
Viertens: Bezeichnend für die vorherrschende öffentliche Meinung sind Übertreibung, Schwarzmalerei und eine gehörige Portion Selbstkasteiung.
Steigt das Durchschnittsalter unseres Volkes, rufen die Meinungsmacher “Überalterung” oder gar “Vergreisung” und sie sprechen vom “Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme”.
Menschen, die auf ihre durch Beitragszahlung erworbenen Rechte und den zugesagten Kündigungsschutz pochen, sind “Besitzstandswahrer”.
Der Staat ist eine einzige “Bürokratie”, “Deutschland ein Auslaufmodell” und die Globalisierung ganz “neu”.
Einem Land, dessen internationale Wettbewerbsfähigkeit exzellent ist, wird das Etikett “Deutsche Krankheit” angeheftet.
Fünftens: Denkfehler und mangelnde Einsicht in die Kompliziertheit gesellschaftlicher Regelungen prägen die gängigen Meinungen.
In gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen zu denken ist den modernen Meinungsführern fremd. So gilt als “Sparkommissar”, wer sagt: ich “will” sparen oder “ich setze meinen Konsolidierungskurs fort”. Wenn jedoch die Wirtschaftslage trübe ist, dann erlahmt gerade wegen des Sparens die Wirtschaft noch mehr, die Steuereinnahmen sinken und der Zuschussbedarf für die Arbeitslosen- und Rentenversicherung nimmt zu, so dass am Ende eines solchen gesamtwirtschaftlichen Wirkungsprozesses gerade die Sparabsicht den Sparerfolg zunichte macht.
Ein anderes Beispiel für einen geläufigen Denkfehler: Wenn Mini-Jobs weitgehend von Abgaben befreit werden – was einzelwirtschaftlich betrachtet ja recht attraktiv erscheint – wird man die Tendenz verstärken, reguläre Arbeitsverhältnisse in solche Min-Job-Arbeitsverhältnisse umzuwandeln. Damit fallen Beiträge aus und zwingen zu einer weiteren Verschärfung der Belastung der noch verbliebenen regulären Jobs.
Gravierende Probleme für die Vernunft politischer Willensbildung folgen daraus, dass die Einsicht in die Kompliziertheit und Sensibilität von Sozialtechniken verloren ging: 2002 wurde die Riesterrente eingeführt und in diesem Kontext auch von einer Jahrhundertreform gesprochen. Richtig an dieser Wertung ist, dass man Erfolg oder Misserfolg erst nach einer langen Frist beurteilen kann: Die Apparate der Lebensversicherer, die neu zu gründenden Fonds und die betroffenen Arbeitnehmer müssen sich auf die Neuregelung einstellen. Wer zu Beginn dieses Umstellungsprozesses schon die nächste Reform oder gar einen permanenten Reformprozess ausruft, zerstört den Erfolg des eigenen Werkes. – Die öffentliche Debatte zu vielen anderen Sozialtechniken ist von ähnlicher Sorg- und Ahnungslosigkeit gekennzeichnet.
Sechstens: Denkverbote und Tabus verbauen den Weg zu realistischen Analysen und hilfreichen Lösungen.
Es gibt umfangreiche Texte über die Last der hohen Staatsverschuldung und der Steuern, der Sozialbeiträge und die Qual der hohen Lohnnebenkosten, ohne dass in einem Satz erwähnt ist, dass die deutsche Vereinigung gehörig dazu beigetragen hat. Rund 75 Mrd. Euro waren bisher jährlich an einheitsbedingten Transfers nötig. Zur Einordnung dieser Größenordnung: als Helmut Schmidt gegen Ende seiner Regierungszeit anfangs der 80er Jahre eine Neuverschuldung des Bundes von ca. 14 Mrd. € plante, nahm Otto Graf Lambsdorff dies zum Anlass, eine Regierungskrise auszulösen.
Man kann ja verstehen, dass um des nationalen Friedens willen nicht viel über die Lasten der deutschen Einheit geredet wird. Aber es ist nicht akzeptabel, dass die totgeschwiegene Last dann dem Sozialstaat zugeschrieben wird.
An dieser Stelle bleibt anzumerken, dass auch hier für ein Segment von Meinungseliten gilt: sie agitieren nicht ohne Vernunft, sondern aus kühler Berechnung. Für sie ist es ein Geschenk des Himmels, die Lasten der deutschen Vereinigung dem Sozialstaat anhängen zu können.
Würde man ohne Tabu diagnostizieren, dann wüsste man: Die deutsche Vereinigung lastet auf unserer Volkswirtschaft und setzt uns im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften tendenziell zurück; von dieser Last können wir uns – gesamtwirtschaftlich betrachtet – auch durch Umschichtungen und Finanzierungstricks nicht befreien. Jeder Vergleich mit anderen Ländern hinkt und deshalb sollten wir vorsichtig sein, die dortigen Rezepte zu übernehmen. Wir haben ganz andere Probleme als die Vorzeigeländer Großbritannien, Schweden, Niederlande, Dänemark und die USA.
Wir können die Belastung mindern, indem wir die Produktivitätszuwächse forcieren, die Menschen vorzüglich ausbilden und in dem wir die Kapazitäten an Arbeitskräften und Anlagen besser nutzen. Dann verteilt sich die Last auf mehr Schultern. Auch dies hätte für eine expansive Konjunkturpolitik gesprochen. Aber dagegen stand die Fixierung auf die neoliberale Angebotstheorie und die mit Vernunft nicht zu begreifende Stigmatisierung des Keynes’schen Instrumentariums. So war Deutschland nicht fähig zu einem gesunden Mix der Instrumente, in den USA war dies möglich.
Siebtens: Die Modernisierer sind die Propheten der Bewegung und des Neuen. Sie halten sich nicht bei der Optimierung des Bestehenden auf. Sie glauben an die heilsame Wirkung des revolutionären Akts.
Genau da treffen sich die Systemveränderer vulgärmarxistischer Prägung mit den Epigonen von Thatcher und Reagan. Um diese Beobachtung zu untermauern, komme ich noch einmal auf den Systemwechsel bei der Altersvorsorge zurück:
Der Nationalökonom Hans-Jürgen Krupp veröffentlichte in der FR zu Beginn der ersten Regierung Schröder 12 Thesen zur “Rentenreform ohne Systemwechsel”. Er machte konkrete Vorschläge zur Reform des “beitragsfinanzierten Alterssicherungssystems nach dem Umlageverfahren”, weil er der Meinung war, dass dieses System Zukunft habe.
Nichts wäre selbstverständlicher gewesen, offen darüber nachzudenken, ob ein reformiertes Umlagesystem oder ein tendenziell auf Kapitaldeckung umgestelltes System den Anforderungen einer modernen Gesellschaft und eines vereinigten Deutschland besser gerecht wird. Bei differenziertem Nachdenken spricht einiges für die Anpassung des alten Systems: schon der Vergleich der Verwaltungs- und Vertriebskosten hätte nachdenklich stimmen müssen, sie liegen beim privat finanzierten Kapitaldeckungsverfahrens drei- bis viermal höher als beim Umlageverfahren.
Aber über die Reform des Bestehenden nachzudenken, ist absolut unmodern. Die Antreiber unter den Reformern wollen die Systemänderung, den “Umsturz”, so lt. SPIEGEL ONLINE Josef Ackermann 7. Der große Rest der Meinungselite macht mit, weil Bewegung und Dynamik dem Zeitgefühl entspricht. Das Neue hat den Anschein der Qualität, ohne sie belegen zu müssen.
Das ist bezogen auf die Gestaltung und Veränderung gesellschaftlicher Regeln und Einrichtungen eine sehr irrationale Maxime. Denn diese sind von so komplexer Natur, dass die wohl überlegte, schrittweise Veränderung und Optimierung das der Demokratie und der Sache gemäße Verfahren ist.
Wer zu vorsichtigen Reformen rät, wie der Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, wird zum “Betonkopf” erklärt, zumindest zum “Symbol für Stillstand und Reformgeiz”8 – und lernt, dass Umsicht nicht zählt. Dynamik ist gefragt und nicht Reflexion darüber, wohin die Reise gehen soll und ob die Route zum Ziel führt. Revolutionäre und neue Neoliberale sind im Glauben an die heilsame Kraft der Bewegung vereint. Den Wahnsinn dieses Glaubens und seine seltsame Logik hat der Vorstandschef der Deutschen Bank – vermutlich unbeabsichtigt – offenbart. Ackermann wörtlich: “Wäre es nicht an der Zeit, nach 50 erfolgreichen Jahren Bundesrepublik die Strukturen neu zu entwerfen?”
Die permanente Reform ist volkswirtschaftlich betrachtet ein großer Kostenfaktor. Wir bräuchten in unserer öffentlichen Debatte eher etwas mehr Ruhe als den Ruck. Der Bundeskanzler hat diese Erkenntnis vor einiger Zeit zu beherzigen versucht. Er warb für die ruhige Hand. Diese vernünftige Einsicht ist ihm schlecht bekommen. Die herrschende Meinung und vielleicht auch die Gesetze der Mediengesellschaft verlangen Bewegung. In einem Essay nach dem anderen werden von ihm Systemreformen und Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden verlangt. Fast alle predigen das gleiche. Diesem massiven Druck soll Gerhard Schröder widerstehen? Ich denke, ja, das Sozialstaatsgebot nach Art. 20 unserer Verfassung verpflichtet ihn sogar dazu.
IV.
Die spekulative Blase der New Economy und der Börsen ist geplatzt. Die Vorstellung, unsere Welt in Deutschland würde besser, wenn wir uns mittels Strukturreformen von unserem Modell verabschieden, noch nicht. Die Neoliberalen haben ein Lügengebäude über die Bedingungen wirtschaftlicher Entwicklung und über die Probleme unseres Landes aufgebaut. Die deutsche Öffentlichkeit geht freiwillig in diesem Gebäude ein und aus und baut mit. Jedenfalls gibt es keinen nennenswerten Widerstand, nicht bei den Medien und nicht bei der Wissenschaft, nicht bei der Opposition und nicht bei der Regierung. Rot und Grün schicken sich an, auf eine Therapie einzuschwenken, deren Unwirksamkeit und Scharlatanerie offensichtlich ist – ein Treppenwitz der Weltgeschichte.
© Frankfurter Rundschau / 12. Februar 2003
«1 Der Begriff Neoliberalismus wird im heute üblichen Sinne verwendet, auch wenn dies wissenschaftshistorisch nicht korrekt ist.
«2 Der Begriff Reformen wird in diesem Beitrag ohne An- und Abführung in der heute gebräuchlichen Bedeutung gebraucht, auch wenn der Autor diesen Gebrauch für einen Missbrauch hält.
«3 Süddeutsche Zeitung vom 10.1.2003
«4 Thesenpapier mit dem Titel “Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit” vom Dezember 2002
«5 Das ist eine verdienstvolle Zusammenfassung des gängigen Glaubenssatzes durch das ZDF in der “Heute”-Sendung vom 13.1.03.
«6 “Wörlitzer Erklärung” von Bündnis90/Die Grünen; ähnlich in anderen einschlägigen Papieren.
«7 Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt am 16.1.2003
«8 Der Tagesspiegel 22.12.02
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=32