In der vergangenen Woche wurden ein paar Strategieelemente der beiden Koalitionspartner sichtbar: Merkel und die Union möchten in unseren Köpfen verankern, dass sie ein heruntergekommenes Land übernommen haben; die SPD-Spitzen wollen uns einreden, dass die SPD dank Schröder bei der Bundestagswahl hervorragend abgeschnitten hat und, dass die Wähler der SPD für die Fortsetzung des Agenda-Kurses gestimmt haben.
- Die Union hatte offenbar ausgegraben, dass Kurt Georg Kiesinger (CDU), der Bundeskanzler der ersten großen Koalition von 1966-1969, in seiner ersten Regierungserklärung erklären musste: “Der Bildung dieser Bundesregierung, in deren Namen ich die Ehre habe zu Ihnen zu sprechen, ist eine lange schwelende Krise vorausgegangen, deren Ursachen sich auf Jahre zurückverfolgen lassen.” Damit musste der CDU-Bundeskanzler bekennen, dass seine Partei zusammen mit CSU und FDP eine krisenhafte Situation hinterlassen haben.
Angela Merkel und die Union haben sich etwas ähnliches ausgedacht: Sie möchten die harten und sozial unausgewogenen Einschnitte (Koch: „Heulen und Zähneklappern“) der Vorgängerregierung anlasten und der Bevölkerung einreden, Rot-Grün habe ein so schlimmes Chaos hinterlassen, dass die neue Bundesregierung für das Jahr 2006 noch nicht einmal einen „verfassungskonformen“ Haushalt vorlegen könne. Damit soll der Eindruck erweckt werden,, dass die hohen Schulden nicht die Konsequenz einer verfehlten Reformpolitik, sondern das Ergebnis schwerer handwerklicher Fehler rot-grüner Politik sind. So erhofft die Union eine Debatte über die Erfolglosigkeit der von Schröder eingeschlagenen und im Bundesrat von CDU und CSU mitverantworteten „Reformpolitik“ vermeiden und die gleichen Rezepte mit erhöhter Dosierung fortsetzen zu können. Wir haben in den NachDenkSeiten schon am 13.11. darauf hingewiesen, dass eine „Katastrophalisierung“ der politischen und ökonomischen Lage in Deutschland absolut kontraproduktiv ist.. Damals haben wir geschrieben: „Wenn man wirklich Mut machen und das Vertrauen in die eigene Kraft stärken will, dann darf man doch nicht schon von Anfang an weiter verunsichern und jammern, die finanzielle Lage des Staates sei prekär (Stoiber) und der Haushalt 2006 sei ´nicht verfassungskonform`. Wie kann eine neu startende Regierung eine solch defätistische Parole ausgeben? Das ist höchst unprofessionell.“
Nachdem die SPD zunächst nicht merkte, dass sie hier zum einen den „schwarzen Peter“ für den Schuldenberg zugeschoben bekommen soll und ihr zum anderen die Hypothek für die miese Wirtschaftsstimmung und damit für die absehbar schlechte weitere wirtschaftliche Entwicklung angelastet werden soll, kam die SPD-Spitze dann in der vergangenen Woche doch noch zur Einsicht, dass eine Regierung nicht mit der Feststellung eines Verfassungsverstoßes die Arbeit beginnen sollte. Diesen „schwarzen Peter“ wäre die SPD über die gesamte Legislaturperiode nicht mehr los geworden. Und außerdem hätte es die Stimmung im Land zusätzlich herunter gezogen.
Interessant an diesem Vorgang ist die Verzagtheit, mit der die SPD-Führung mal wieder operierte: Der hohe Schuldenberg ist nämlich ein Ergebnis der Regierungsarbeit vor allem von Schwarz-Gelb bis zum Jahre 1998. Kein Finanzminister vor Hans Eichel hat so massiv zu sparen versucht wie er. Dass die Sparabsicht von Rot-Grün zu keinem Sparerfolg wurde, liegt daran, dass die Regierung Schröder einmal abgesehen von ihrem „Steuersenkungswahn“ gerade auch mit ihrer makroökonomisch verfehlten „Sparpolitik“ prozyklisch die Konjunktur kaputt gespart hat. Die folgende Abbildung zeigt deutlich, wie massiv die Verschuldung des Gesamtstaates zwischen 1990 und 1998 stieg:
Abbildung 12 aus „Die Reformlüge“: Jährlicher Anstieg der Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte (in Milliarden Euro) in den Jahren um die Wiedervereinigung
Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/04, Berlin 2003, S. 573
- Während die SPD (wie auch die Union) im Wahlkampf noch davon sprach, es gehe um eine Richtungswahl und sogar Intellektuelle der „Sozialrhetorik“ Schröders Glauben schenkten, und hofften die SPD sei dabei, ihr soziales Gewissen wieder zu entdecken (siehe Tagebucheintrag vom 4.10.2005 zu einem Aufruf pro Schröder, in dem es hieß: „Nachdem sich die SPD von den gescheiterten neoliberal inspirierten Konzepten endlich wieder löst und ihren eigenen sozialdemokratischen Weg der Reformen geht.“), wird jetzt immer deutlicher, dass die Große Koalition nichts anderes bedeutet als die Stabilisierung und sogar noch die Verschärfung der von Schröder angelegten „Reformpolitik“. Trotz veränderter Tonlage des neuen SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck, betonen die SPD-Spitzen die Richtigkeit des Agenda-2010-Kurses und die Notwendigkeit weitergehender Reformen. So Matthias Platzeck nach dem Parteitag der SPD in Karlsruhe, so durchgehend Gerhard Schröder und so auch der neue Generalsekretär Hubertus Heil mehrmals, unter anderem letzte Woche in einem Interview mit der Mitteldeutschen Zeitung vom 17.11.. – Wer jemals an eine Richtungswahl glaubte, den hat die Große Koalition eines besseren belehrt. Man könnte auch sagen: Schlimmer hätte es für diejenigen, die auf einen „sozialdemokratischen Weg der Reformen“ und auf eine Loslösung der „SPD von den gescheiterten neoliberal inspirierten Konzepten“ gehofft haben, gar nicht kommen können. Doch wo waren die Stimmen derjenigen, die den damaligen Wahlaufruf unterzeichnet haben, etwa auf dem SPD-Parteitag?