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Titel: Lesermail zu „Getrennt marschieren, vereint schlagen…”
Datum: 29. Februar 2016 um 10:40 Uhr
Rubrik: Leserbriefe, SPD, Wahlen
Verantwortlich: Albrecht Müller
NachDenkSeiten-Leser Reinhold Lang weist in seiner Leser-Mail zu unserem Beitrag vom 23.2.2016 auf eine Besonderheit des baden-württembergischen Wahlrechts hin, die zu einem überraschend guten Mandats-Ergebnis der CDU (oder der Grünen) führen könnte. Die baden-württembergische SPD sieht er vor dem Zerfall. Darüber hinaus entwirft er ein Szenario einer wirklich schlimmen Entwicklung insgesamt. Unrealistisch ist seine Skepsis nicht. Seine Schlusspassage ist wie seine Mail insgesamt hart: „Als überzeugter Europäer der ersten Stunde möchte ich, Verzeihung, kotzen, angesichts der galloppierenden renationalisierten und zugleich marktradikalisierten Entwicklung und miserablen politischen Führungsfiguren!“ Albrecht Müller
Hier die Mail von Dipl.rer.pol., Dir. i.R. Reinhold Lang aus Baden-Württemberg:
Betreff: Ihr NDS-Beitrag “Getrennt marschieren, vereint schlagen…”, vom 23.02.2016
Sehr geehrter Herr Albrecht Müller,
Ihre zutreffende Analyse, dass die jetzige SPD-Führung o.g. Wahlkampfprinzip nicht verstanden hat, muss noch mehr zugespitzt werden. Wer die politische Entwicklung in Deutschland, besonders seit der alle Gemüter immer stärker erhitzenden Flüchtlingsproblematik, genau betrachtet, kommt nicht um eine Feststellung herum: Da gibt es eine perfekte Arbeitsteilung zwischen der CSU (Seehofer hält mit seiner Rhetorik und Forderungen die AfD in Bayern klein) und der “sozialdemokratischen” CDU-Merkel-Linie “Das schaffen wir” ( a la Obamas “Yes, we can”) in der Restrepublik. Die AfD spielt außerhalb Bayerns mit einem Wählerpotential von gegenwärtig 10-15%-Anteil die Rolle einer radikalisierten “Ersatz-CSU”!
Die CDU hält damit für sich alle Optionen offen: eine Fortsetzung der Koalition mit einem geschrumpften und weiter einknickenden (erpressbaren) “Juniorpartner SPD”, eine Koalition mit den Grünen ( noch nie zuvor wie jetzt haben die grünen Führungsleute die CDU-Merkel-Leute so heftig umworben) und hilfsweise auch der FDP (bei einer 5%-Hürdennahme; deren Prinzip war seit Gründung der Republik sowieso stets: 5-10%-Wähleranteil bei gleichzeitig 20-35 prozentiger Machtteilhabe), mittelfristig sogar, falls die AfD sich als “Ersatz-CSU” etabliert, eine Machtoption mit diesen Kameraden. Bei einem Zerfall der AfD erhoffen sich die CDU-Strategen hingegen, einen Großteil der AfD-Stimmen wieder bei der CDU einfangen zu können.
Jedenfalls ist es Frau Merkel mit ihrer Politik gelungen, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen EU-Staaten die politische Achse nachhaltig nach rechts zu verschieben. Und genau das hat die niedersächsische Post-Schröder-Troika von Gabriel, Steinmeier und Oppermann strategisch nicht verstanden.
Am 13.März werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Ministerpräsidentschaften in Rheinland-Pfalz (dort fast sicher) und in Baden-Württemberg (hier noch abhängig davon, ob Kretschmann eine Mehrheit im Landtag erreicht) an die CDU verloren gehen. Sie müssen sich das besondere Wahlrecht in Baden-Württemberg anschauen: zu 70 direkt mehrheitlich gewählten Abgeordneten aus den Wahlkreisen kommen 50 Mandate gemäß prozentualem Stimmenanteil, mit Ausgleichsmandaten für Überhangmandate hinzu. In 2011 verfehlte Mappus nur die Mehrheit (zusammen mit der FDP), da sensationell, im Gegensatz zur Wahl in 2006 die CDU nur 60 Direktmandate erzielte (statt bisher 69; ein Direktmandat holte damals die SPD im Wahlkreis Mannheim I); dafür die Grünen aber in den Städten landesweit 9 Direktmandate (in Freiburg, Stuttgart, Mannheim, Heidelberg, Konstanz und im Wahlkreis 62, Landkreis Tübingen sogar nur mit 21 Stimmen Vorsprung vor der CDU; die SPD verteidigte erneut nur das eine Direktmandat in Mannheim, einer einstmaligen SPD-Hochburg). Ob sich dies am 13.März 2016 wiederholen wird, ist sehr zweifelhaft. Damit würde CDU-Wolf in der Lage sein, eine Koalition mit der FDP bzw. einer “umfallenden” Ba-Wü-SPD oder sogar eine “Schwarz-Grüne-Große Koalition” in Ba-Wü (allerdings wohl ohne Kretschmann) zu bilden.
(Quelle: www.kreis-tuebingen.de – Genaue Angaben zur Ermittlung der recht komplizierten Sitzverteilung bei der LT-Wahl seit 2011 sind einsehbar hier bzw. hier)
Wenn ich über das Land fahre, fällt mir auf, dass in vielen Ortschaften kein einziges SPD-Wahlplakat mehr zu sehen ist, als Ausdruck dessen, dass es dort wohl keine SPD-Aktiven, geschweige denn funktionierende SPD-Ortsverbände mehr gibt. Falls die SPD in Baden-Württemberg, so meine Prognose, unter 15% abschneiden wird, wahrscheinlich dicht bei 12% und weniger als AfD erreicht, wird ein solches Ergebnis den Zerfall der SPD-Basis weiter vorantreiben. Dann “Glück auf” für die SPD-Niedersachsen-Troika in Berlin auf ihrem opportunistischen, transatlantischen, prokapitalistischen Rückfall-in-den-Kalten-Krieg- Marsch hin zum Bundes-SPD-Ziel: “Vorwärts zum Projekt “18%-minus”! Diese Bundestags-SPD klammert sich verzweifelt an die eitle Hoffnung, wenigstens als “Juniorpartner” in Berlin weiterhin mit Pöstchen an den Zapfhähnen der Macht versorgt zu werden, gerechtfertigt mit der kommenden Verdummungsparole: “Wir wollen kein zweites Weimar!”
Deshalb wohl auch weiter vorwärts zur “marktkonformen Gesellschaft”! Die hier zu nennenden Narrative (auch wenn Sie den Begriff nicht mögen) lauten:
“erweiterte Strukturreformagenda” mit wiederkehrender Deregulierung, Entstaatlichung durch weitere Privatisierung bisher noch teilstaatlicher Bereiche wie Gesundheitsdienstleistungen, Autobahnen- und Brückenbau (Stichwort PPP), Sozialabbau und Verschlankung des Sozialsystems, keine Vermögenssteuer und massive Privilegien bei der Erbschaftssteuer bei Unternehmen bzw. Unternehmensstiftungen, schrittweise Abschaffung des Bargeldes und damit Totalkontrolle über die Konten der Bürger*innen (im Falle einer erneuten massiven globalen Finanzkrise), “markträumende” Löhne und Gehälter, Aushöhlung von Mitbestimmung auf allen Ebenen (über transnationale Zoll- und Handelsverträge Entmachtung des EU-Parlaments und der nationalen Parlamente bis runter zu den Gewerkschaften und Betriebsräten) durch Schaffung eines arbeitgeberfreundlichen Arbeits- und Unternehmensrechts, durch eine außerparlamentarische Gesetzesschreiberlobby anwaltlicher Großkanzleien statt einer fähigen Ministerialbürokratie, durch “außenpolitische Verantwortung” über aktive Teilnahme an NATO+US-Kriegseinsätzen auch außerhalb des Völkerrechts und Steigerung der Militärausgaben auf 2% des Bruttosozialprodukts, durch massenhafte Heranzüchtung neoliberaler, angepasster Nachwuchsakademiker “a la bolognaise” (die mit der Schere im eigenen Kopf), freiwilliger Gleichschaltung einer weiter oligopol- und monopolisierten neoliberalen “Qualitäts-Presse” und sonstigen Medien, insbesondere auch im Internet, verbunden mit einem, das ist absehbar, quasi neofeudalen Kniefall sogar vor einem US-Präsidenten Trump, einer weiteren Aushöhlung und Missachtung der Grundrechte unserer Verfassung (in den Schulen soll jetzt marktkonformes Wissen auf dem Weg “in eine unternehmerische Gesellschaft” eingepaukt werden; was Grundrechte sind, weiß kein Schwein, wozu auch? ) und bei Bedarf neuen Berufsverboten in Form von Arbeitslosigkeit für etwaig gefährlich werdende kritische, unangepasste Geister usw. usf. Als überzeugter Europäer der ersten Stunde möchte ich, Verzeihung, kotzen, angesichts der galloppierenden renationalisierten und zugleich marktradikalisierten Entwicklung und miserablen politischen Führungsfiguren!
Mit freundlichen Grüßen, leider gibt es keine bessere Botschaft,
Reinhold Lang
Dipl.rer.pol., Dir. i.R.
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Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=31649