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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Das Gerechtigkeitsverständnis der Volksparteien im Wandel Sozialpolitik in den Parteiprogrammen von CDU, CSU und SPD
Datum: 16. April 2008 um 10:18 Uhr
Rubrik: Soziale Gerechtigkeit, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Aufgrund der sich hierzulande immer mehr vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich einerseits sowie eines wachsenden Protestpotenzials im außerparlamentarischen Raum und Wahlerfolgen der neuen LINKEN andererseits ist die soziale Gerechtigkeit als Schlüsselthema auf die politische Agenda der Bundesrepublik zurückgekehrt. Mit dem Sozialstaat und Gerechtigkeitsfragen beschäftigten sich auch die etablierten Parteien zuletzt wieder intensiver als zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Seinerzeit beherrschte der Um- bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates alle Debatten über die Sozialpolitik, sowohl jene der rot-grünen Koalition wie auch der Union. Umso erstaunlicher ist, wie stark sich trotz fortbestehender politischer Gegensätze zwischen den Parteilagern in Bezug auf die angeblich notwendige Umgestaltung des Sozialstaates und das ihnen zugrunde liegende Gerechtigkeitsverständnis alle drei Programme gleichen. Manchmal reichen die Gemeinsamkeiten bis in die Begrifflichkeit und einzelne Programmformulierungen hinein. Von Christoph Butterwegge
Aufgrund der sich hierzulande immer mehr vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich einerseits sowie eines wachsenden Protestpotenzials im außerparlamentarischen Raum und Wahlerfolgen der neuen LINKEN andererseits ist die soziale Gerechtigkeit als Schlüsselthema auf die politische Agenda der Bundesrepublik zurückgekehrt. Mittlerweile kann man kaum noch ignorieren, dass viele Menschen eine andere Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik erwarten. Wie eine repräsentative Bürgerumfrage ergab, die das Institut für Demoskopie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, der Heinz Nixdorf Stiftung und der Ludwig-Erhard-Stiftung im August 2007 durchgeführt hat, hielten seinerzeit trotz des anhaltenden Konjunkturaufschwungs nur noch 15 Prozent der Menschen – ein historischer Tiefstand – die Verteilungsverhältnisse in Deutschland für gerecht.
Während die Befragten bei der Verwirklichung von Verteilungsgerechtigkeit erheblich mehr Defizite als die politischen, Wirtschafts- und Verwaltungseliten unseres Landes zu erblicken glaubten, schätzen sie „Leistungsgerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ nach dieser Untersuchung wesentlich geringer. Mit solchen Begriffen wird die soziale Gerechtigkeit im neoliberalen Mainstream-Diskurs seit geraumer Zeit entweder auf den freien Marktzugang für alle Wirtschaftssubjekte (typisch dafür ist Forderung nach „Verwirklichungschancen“ im Bildungssektor und auf dem Arbeitsmarkt) reduziert oder unter Hinweis auf die Globalisierung als „Standortrisiko“ im Kampf um Absatzmärkte und Großinvestoren denunziert.
Mit dem Sozialstaat und Gerechtigkeitsfragen beschäftigten sich auch die etablierten Parteien zuletzt wieder intensiver als zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Seinerzeit beherrschte der Um- bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates alle Debatten über die Sozialpolitik, sowohl jene der rot-grünen Koalition wie auch der Union. Da die Volksparteien nunmehr in der Großen Koalition vereint sind, sahen CDU, CSU und SPD, als sie im Herbst bzw. Winter 2007 ihre Grundsatzprogramme aktualisierten, offenbar wenig Spielraum für größere Kurskorrekturen und kühne Zukunftskonzepte. Denn ihren Regierungsmitgliedern fallen Parteien ungern in den Rücken, weil sie in der (Medien-)Öffentlichkeit sonst als zerstritten gelten würden. Gleichwohl mussten die Koalitionspartner ihr Profil schärfen, wenn sie die Menschen im Vorfeld der nächsten Bundestagswahl für sich gewinnen und 2009 selbst eine parlamentarische Mehrheit erringen wollen. Umso erstaunlicher ist, wie stark sich trotz fortbestehender politischer Gegensätze zwischen den Parteilagern in Bezug auf die angeblich notwendige Umgestaltung des Sozialstaates und das ihnen zugrunde liegende Gerechtigkeitsverständnis alle drei Programme gleichen. Manchmal reichen die Gemeinsamkeiten bis in die Begrifflichkeit und einzelne Programmformulierungen hinein.
Das SPD-Leitbild des „vorsorgenden Sozialstaates“
Während die beiden Unionsparteien ihre Grundsatzprogramme ohne erkennbare Widerstände revidierten, verlief die sozialdemokratische Programmdebatte sehr viel wechselhafter und kontroverser. Den im Januar 2007 vorgestellten „Bremer Entwurf“ zog die SPD-Spitze ein gutes halbes Jahr später wieder zurück, nachdem vor allem die Aufgabe des Traditionsbegriffs „demokratischer Sozialismus“ an der Parteibasis wie bei kritischen Intellektuellen großen Unmut hervorgerufen hatte. Dabei reichten die Monita von der Klage über mangelnde Zuspitzung bis zum Vorwurf der Profillosigkeit. Der überarbeitete, inhaltlich gestraffte und maßgeblich vom SPD-Vorsitzenden Kurt Beck geprägte Programmentwurf fand auf dem Hamburger Parteitag am 28. Oktober 2007 einhellige Zustimmung. Darin bekennt sich die Partei gleichfalls zum Leitbild des „vorsorgenden Sozialstaates“, welcher allgemeinen Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität und Altersarmut präventiv begegnen soll: „Wir entwickeln den vorsorgenden Sozialstaat, der Armut bekämpft, den Menschen gleiche Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnet, gerechte Teilhabe gewährleistet und die großen Lebensrisiken verlässlich absichert.“ Durch seine Tätigkeit, heißt es weiter hinten im Hamburger SPD-Programm, befähige der vorsorgende Sozialstaat die Menschen, ihr Leben selbstbestimmt zu meistern: „Vorsorgende Sozialpolitik fördert existenzsichernde Erwerbsarbeit, hilft bei der Erziehung, setzt auf Gesundheitsprävention. Sie gestaltet den demografischen Wandel und fördert eine höhere Erwerbsquote von Frauen und Älteren. Sie verhindert Ausgrenzung und erleichtert berufliche Integration. Sie entlässt niemanden aus der Verantwortung für das eigene Leben.“
Missverständlich ist das diesen Sozialstaat kennzeichnende und von anderen Sicherungsmodellen unterscheidende Adjektiv insofern, als selbstverständlich jeder Sozialstaat seine Bürger/innen vor dem Eintritt sozialer Risiken präventiv zu schützen sucht. Würde er das nicht tun, also beispielsweise auf Schaffung einer Rentenversicherung bzw. vergleichbarer Formen der kollektiven Altersvorsorge verzichten, könnte man schwerlich von einem Sozialstaat sprechen. Der damit verbundene Begriffswandel mutet auch deshalb merkwürdig an, weil man unter einem „Vorsorgestaat“ in der an Michel Foucault orientierten französischen Fachdiskussion das hergebrachte Staatsmodell versteht. Seit die Sozialversicherungen den institutionellen Kern moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit bilden, ist die Prävention laut François Ewald deren Primärfunktion: „Dem Staat kommt die Aufgabe zu, dafür zu sorgen, daß sich ein jeder möglichst prophylaktisch verhält. Über Institutionen wie die Sozialversicherungen wird er das Leben der Bevölkerung als solcher verwalten können, um sie besser vor sich selbst zu bewahren und ihr die Entfaltung der in ihr schlummernden Potentialitäten zu ermöglichen.“
Deutlicher als das Hamburger SPD-Programm stellen Matthias Platzeck, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier, prominente Vertreter des rechten Parteiflügels, zwei Sicherungsmodelle gegenüber: „Der überkommene Sozialstaat, der allzu oft ‚reparierend‘ erst dann eingreift, wenn soziale Schadenfälle wie chronische Krankheit, Bildungsmangel oder langfristige Arbeitslosigkeit schon eingetreten sind, ist nicht mehr auf der Höhe unserer Zeit – und er gerät unter dem Druck von Demografie und hoher Staatsverschuldung auch an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit. Effizienter und zugleich sozial gerechter ist der vorsorgende Sozialstaat, der in die Menschen, in Bildung, Qualifikation, Gesundheit, Lebenschancen und soziale Infrastruktur investiert.“ Wolfgang Schroeder, einer der Hauptprotagonisten des „vorsorgenden Sozialstaates“, stellt fest, dieses Konzept sei auf keinen Fall ein Bruch mit der „nachsorgenden“ Seite des deutschen Sozialstaates, die das Fundament jeder Sozialstaatskonzeption bleibe. „Vielmehr geht es darum, vor- und nachsorgende Elemente des Sozialstaates gezielter aufeinander zu beziehen, um einen Legitimation stiftenden Sozialstaat für das 21. Jahrhundert zu entwickeln, der die Bezeichnung ‚sozialdemokratisch‘ verdient.“
Sprachlich fällt allerdings der Gegensatz zwischen dem „vorsorgenden“ und einem versorgenden bzw. zwischen dem „vorsorgenden“ und einem fürsorglichen Sozialstaat ins Auge. Hierbei handelt es sich um eine Scheinalternative, denn präventiv wird der Wohlfahrtsstaat nur tätig, wenn man ihm die Möglichkeiten zur Intervention nicht entzieht, was im Rahmen der rot-grünen Reformpolitik aber schrittweise geschah. Wer die Sozialversicherungen mitsamt ihren Grundprinzipien der paritätischen Finanzierung über Beiträge und der Lebenstandardsicherung – in den westeuropäischen Industrieländern fast ein Jahrhundert lang das Instrument der organisierten Risikovorsorge schlechthin – schleift, wie es die SPD mit Gerhard Schröders „Agenda 2010“ und zahlreichen Reformmaßnahmen getan hat, kann nur um den Preis seiner politischen Glaubwürdigkeit als Fürsprecher eines „vorsorgenden Sozialstaates“ auftreten. Weshalb dem deutschen Sozialstaat ausgerechnet in einem Moment, wo er unter maßgeblicher Mitwirkung der SPD beispielsweise durch eine Teilprivatisierung der Altersvorsorge (Einführung der sog. Riester-Rente), die Aufgabe des Prinzips der Beitragsparität zwecks finanzieller Besserstellung der Arbeitgeber und schrittweise Absenkungen des Rentenniveaus die Fähigkeit zur solidarisch-kollektiven Vorsorgetätigkeit zugunsten der Arbeitnehmer/innen partiell verloren hat, das Etikett „vorsorgend“ angeheftet wird, erschließt sich höchstens aus dem Kalkül eines modernen Politikmarketings, das gezielt mit positiv besetzten Begriffen spielt, ohne diese noch mit eindeutigen Inhalten zu füllen.
Mit dem Paradigmenwechsel zum „vorsorgenden Sozialstaat“ verabschiedet sich die SPD womöglich endgültig vom Sozialversicherungsmodell à la Bismarck, wie Robert Paquet meint. Statt der kollektiven Abdeckung sozialer Standardrisiken avanciert die Stimulierung der Selbstverantwortung durch finanzielle Anreize des Staates zum Kerngedanken: „Die Eigenvorsorge führt aber tendenziell zu einer Individualisierung und Privatisierung der Risiken bzw. ihrer Absicherung, führt zu einer stärkeren Differenzierung der Sicherung insgesamt und bereitet praktisch der Senkung des Mindestniveaus den Boden vor für diejenigen, die keine oder nur sehr geringe Möglichkeiten zu einer eigenständigen Vorsorge mit weitergehenden Leistungsansprüchen haben.“ Wissen müsste die SPD eigentlich, dass der Abschied vom Sozialversicherungssystem einen hohen Preis hätte, und zwar nicht nur in finanzieller, sondern auch in legitimatorischer Hinsicht. Mehr Steuerfinanzierung heißt nämlich auch, dass die Regierung und die sie tragenden Parteien unmittelbar für die Folgen einer falschen Sozialpolitik verantwortlich gemacht werden dürften, während das Versicherungsmodell bisher als Puffer und damit entlastend gewirkt hat.
Drei zentrale Sozialstaatsziele nennt das Hamburger SPD-Programm: Sicherheit, Teilhabe und Emanzipation. Bei deren Verfolgung ist der vorsorgende Sozialstaat angeblich effektiver als jener, den man bisher kannte. Nicht verschwiegen werden dürfen allerdings seine Nachteile und Nebenwirkungen für die Betroffenen: Er greift tiefer in die Entscheidungsautonomie seiner Bürger/innen ein und beschneidet damit deren Freiheit, weil ihnen mehr Eigenverantwortung, Privatinitiative und Selbstvorsorge abverlangt werden.
CDU und CSU setzen gleichfalls auf „vorsorgende Sozialpolitik“, ihre neuen Grundsatzprogramme betten diese aber noch stärker als die SPD in den öffentlichen Diskurs über mehr Eigenverantwortung, Selbstvorsorge und Privatinitiative ein – alles Begriffe, die m.E. würdige Unworte des Jahres wären, weil sie kaschieren, dass öffentliche Verantwortungslosigkeit um sich greift und der Staat sich seiner Fürsorgepflicht gegenüber sozial Benachteiligten zunehmend entzieht. Das neue Leitbild unterstellt, dass sich der bisherige Wohlfahrtsstaat auf Nachsorge beschränkt habe, und suggeriert, durch präventive Maßnahmen lasse sich erreichen, dass Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armut erst gar nicht entstünden.
Es mutet beinahe wie die politische Quadratur des Kreises an, wenn der Sozialstaat mit weniger Geld ausgestattet mehr leisten, nämlich ergänzend für die Prävention zuständig sein und gleichzeitig die soziale Integration sicherstellen soll. „Vorbeugen statt nachbessern“ will die CDU in Anlehnung an den Volksmund, aber gerade wenn „das Kind bereits in den Brunnen gefallen“ ist, muss man sich auf den Sozialstaat hundertprozentig verlassen können. Da die Arbeitnehmer/innen beruflich flexibel und geografisch mobil sein, heute in Kiel und morgen in Konstanz, vielleicht aber auch nächste Woche in Tokio oder New York tätig werden sollen, brauchen sie im Zeichen der Globalisierung mehr denn je einen großzügigen Wohlfahrtsstaat und ein hohes Maß an sozialer Sicherheit.
Leitbilder der Union: „Chancengesellschaft“ und „Solidarische Leistungsgesellschaft“
Die Programmdebatte der CDU fand unter dem Motto „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit“ statt. Norbert Blüm kritisierte diese „Marketingsprache“ der Parteiführung unter Angela Merkel, mit der sie Inhaltslosigkeit bzw. Vagheit überdeckte, und fragte, welche Gerechtigkeit damit eigentlich gemeint sei: „Mehr Freiheit für das Finanzkapital, das die Globalisierung beherrscht, ergibt zwar eine ‚neue‘, andere Gerechtigkeit, aber keine, die sich mit dem christlichen Verständnis von Gerechtigkeit harmonisieren lässt.“ Blüm wies darauf hin, dass Gerechtigkeit der Freiheit bestimmte Grenzen setzt, denn sonst wäre sie seiner Meinung nach nicht mehr als die Möglichkeit zur Ausbeutung.
Unter sozialer Gerechtigkeit versteht die CDU in den „Grundsätzen für Deutschland“, welche ihr Hannoveraner Parteitag am 3. Dezember 2007 beschlossen hat, nicht etwa die Beseitigung oder Verringerung materieller Ungleichheit. Vielmehr sollen alle Mitbürger/innen die gleiche Möglichkeit haben, sich in Freiheit so zu entfalten, wie es ihren persönlichen Fähigkeiten entspricht: „Wir setzen uns dafür ein, dass jeder Mensch seine Lebenschancen frei und verantwortlich wahrnehmen kann. Dafür bietet die Chancengesellschaft die Voraussetzungen und Möglichkeiten. Sie wächst auf dem Boden möglichst gerecht verteilter Lebenschancen. Das erfordert gleiche Startchancen in Bildungswege und in die Arbeitswelt. Dazu gehört nicht, Unterschiede in den persönlichen Anlagen des Einzelnen zu leugnen. Wir wollen gleiche Chancen eröffnen, nicht gleiche Ergebnisse versprechen.“
Das auf dem 72. CSU-Parteitag am 28. September 2007 in München verabschiedete Grundsatzprogramm steht unter dem Motto „Chancen für alle! In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten“ und fordert eine „Solidarische Leistungsgesellschaft“, in der möglichst sämtliche Gesellschaftsmitglieder am ökonomischen und sozialen Fortschritt beteiligt werden sollen: „Mit der Solidarischen Leistungsgesellschaft schaffen wir Chancengerechtigkeit für die Schwachen und die Starken.“ Zwar bezeichnet das CSU-Programm den Sozialstaat als „tragende Säule unserer Gesellschaftsordnung“, bemängelt jedoch, er habe den „Vorrang privater Selbstverantwortung“ sträflich missachtet: „Der politische Irrweg des Versorgungsstaats schwächt die Eigeninitiative, untergräbt die soziale Verantwortung des Einzelnen und bringt die Menschen in eine falsche Abhängigkeit. Eine Politik, die Ansprüche an den Staat weiter vergrößert, ist bequem, schwächt aber unser Gemeinwesen und hilft dem Einzelnen nicht auf Dauer.“
Auch die CDU erklärt, es sei „besser, gerechter und ökonomischer“, für Kinder wie Erwachsene in Bildung bzw. Weiterbildung zu investieren, als Fehlentwicklungen durch Transferzahlungen oder soziale Maßnahmen zu korrigieren, weshalb die Maxime „Vorbeugen statt nachbessern“ gelte. Was unter einer „vorsorgenden Sozialpolitik“ zu verstehen ist, bleibt bei den Unionsparteien allerdings ebenso vage und unbestimmt wie im Hamburger SPD-Programm. Zwar bescheinigt das CDU-Programm dem Sozialstaat, Großes geleistet zu haben und unverzichtbar zu sein, kündigt jedoch grundlegende Veränderungen seiner Strukturen an, was mit den vielfältigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begründet wird. Ziel sei der „aktivierende Sozialstaat“, welcher die Individuen verstärkt motiviere und befähige, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Eigeninitiative zu entwickeln und Eigenverantwortung zu übernehmen. Bei der Aus- bzw. Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme will sich die CDU an drei Grundsätzen orientieren: „Sie müssen das Prinzip der Eigenverantwortung stärken, dem Prinzip der Generationengerechtigkeit entsprechen und dürfen das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit nicht verletzen.“ Außerdem soll ihre Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit reduziert werden und ihre Finanzierung künftig weniger über Beiträge und mehr über Steuern erfolgen, um die gesetzlichen Lohnnebenkosten der Unternehmen (gemeint sind die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) zu senken.
„Chancengleichheit“ als Ersatz für soziale Gerechtigkeit?
Was verbindet die „Chancengesellschaft“ der CDU, das Verlangen ihrer bayerischen Schwesterpartei nach „Chancengerechtigkeit in der Solidarischen Leistungsgesellschaft“ und den „vorsorgenden Sozialstaat“ der SPD miteinander? In allen Leitbildern spielen Bildung und Bildungspolitik eine Schlüsselrolle – die Bildung als Schlüsselressource im Standortwettbewerb der „Wissensgesellschaften“ und die Bildungspolitik als Hebel zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des eigenen Wirtschaftsstandortes und zur Verwirklichung von mehr Chancengleichheit. Zitieren wir zuerst den CDU-Programmtext: „‚Aufstieg durch Bildung‘, so lautet unser gesellschaftspolitisches Ziel. Alle müssen einbezogen, keiner darf zurückgelassen werden. Armut beginnt allzu oft als Bildungsarmut. Die Teilhabe aller an Bildung und Ausbildung ist ein Gebot der Chancengerechtigkeit.“ Diese wird im Grundsatzprogramm der CSU folgendermaßen definiert: „Chancengerechtigkeit bedeutet, allen jungen Menschen unabhängig von ihrem familiären und sozialen Hintergrund Bildung und Ausbildung zu ermöglichen.“ Auch bei der SPD steht die Bildung im Mittelpunkt aller Bemühungen. Sie wird im Hamburger Programm zum „zentralen Element der Sozialpolitik“ erklärt und als „die große soziale Frage unserer Zeit“ bezeichnet.
Wenn man die „soziale Vererbung“ der Armut durch schon im Kindesalter wirksame Selektionsmechanismen bekämpfen möchte, sind ein quantitativer Ausbau und eine qualitative Verbesserung des Bildungssystems der Bundesrepublik vom Elementarbereich bis zum Hochschulwesen zweifellos unerlässlich. Die soziale Selektivität unseres Bildungssystems wird von den Unionsparteien jedoch gar nicht ernsthaft in Frage gestellt, denn man verteidigt trotz anderslautender PISA-Ergebnisse die hierarchische Mehrgliedrigkeit des Sekundarschulwesens und die Privilegierung des Gymnasiums: „Das vielfältige gegliederte Schulwesen hat sich bewährt und erfolgreich weiterentwickelt.“
Bildung darf nicht mystifiziert werden, wie das alle Parteien in ihren neuen Grundsatzprogrammen tun, und ist auch keine Wunderwaffe im Kampf gegen die Kinderarmut. Was entscheidend zum individuellen Aufstieg beitragen kann, versagt nämlich als gesellschaftspolitischer Königsweg: Wenn man allen Kindern und Jugendlichen mehr Bildungschancen eröffnet, konkurrieren sie um die wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze am Ende womöglich nur auf einem höheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen. Um die Erwerbslosigkeit und die (Kinder-)Armut als gesellschaftliche Phänomene zu beseitigen, bedarf es nach wie vor, ja sogar dringender denn je der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen.
Alle drei Programmdokumente enthalten nur ein vages Bekenntnis zur Verteilungsgerechtigkeit. So heißt es in den CDU-Grundsätzen, das Gerechtigkeitsziel fordere, „Belastungen angemessen zu verteilen. Deshalb ist es gerecht, dass die Stärkeren einen größeren Beitrag für unser Gemeinwesen leisten als die Schwächeren.“ Und im Hamburger SPD-Programm wird ziemlich verwunden festgestellt, die Menschen müssten unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Geschlecht gleiche Lebenschancen haben: „Also meint Gerechtigkeit gleiche Teilhabe an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Kultur und Demokratie, gleichen Zugang zu allen öffentlichen Gütern. Wo die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen die Gesellschaft teilt in solche, die über andere verfügen, und solche, über die verfügt wird, verstößt sie gegen die gleiche Freiheit und ist darum ungerecht. Daher erfordert Gerechtigkeit mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht.“
Sehr viel deutlicher als Verteilungsgerechtigkeit fordern die Programmdokumente Chancen- und Teilhabegerechtigkeit, was nicht zuletzt dem neoliberalen Zeitgeist geschuldet sein dürfte. Obwohl das Volksvermögen so groß und die Kluft zwischen Arm und Reich so tief wie nie zuvor ist, gilt die Forderung nach Umverteilung heute als ideologisch verstaubt. Letztlich weichen die Parteiprogramme der Kardinalfrage nach den im Finanzmarktkapitalismus bestehenden Herrschafts-, Eigentums- und Machtverhältnissen aus. Statt einer Umverteilung des privaten Reichtums, der mächtige Kapitalinteressen entgegenstehen, soll mehr Bildung für die Armen zu größerer Chancengleichheit führen. Bildungsarmut, auf die sich der Programmdiskurs aller Volksparteien konzentriert, basiert jedoch auf der materiellen Unterversorgung und Benachteiligung in anderen Lebensbereichen. Umgekehrt ist gute (Weiter-)Bildung eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Chancengleichheit im Berufsleben.
Das für CDU, CSU und SPD gleichermaßen zentrale Ziel der Chancengleichheit korrespondiert mit einer Überakzentuierung der Leistungsgerechtigkeit, während die an das Solidaritätsprinzip gebundene und für den bisherigen Sozialstaat konstitutive Bedarfsgerechtigkeit weit dahinter zurücktritt. Jene über 1,928 Millionen Kinder unter 15 Jahren, die auf dem Höhepunkt des gegenwärtigen Konjunkturaufschwungs (März 2007) nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit in sog. Hartz-IV-Haushalten lebten und mit einem Regelsatz von 208 EUR im Monat auskommen mussten, dürften kaum dieselben Lebenschancen im Hinblick auf die Besetzung gesellschaftlicher Schlüsselpositionen erlangen wie der Nachwuchs privilegierter Bevölkerungsschichten, wenn sich die materiellen Ressourcen der Gesellschaft immer stärker bei wenigen Kapitaleigentümern und Spitzenverdienern ansammeln. Schließlich nennen die beiden reichsten Männer der Bundesrepublik, die Gebrüder Albrecht (Eigentümer der Aldi-Ketten Nord und Süd), auf der anderen Seite des sozialen Spektrums ein Privatvermögen von 37,5 Mrd. EUR ihr Eigen.
Zu den (Tot-)Schlagworten, die in den Programmdokumenten der Unionsparteien, aber nicht im sozialdemokratischen Grundsatzprogramm auftauchen, gehört das der „Generationengerechtigkeit“. So betont die CSU: „Die demographische Entwicklung macht die gerechte Partnerschaft der Generationen in einem zukunftsfesten Sozialstaat zu einer entscheidenden sozialen Frage der nächsten Jahrzehnte.“ Die folgende Definition legt die bayerische Regierungspartei ihren Ausführungen zugrunde: „Generationengerechtigkeit heißt, aus Verantwortung für die kommenden Generationen zu handeln und nicht auf deren Kosten zu leben.“ Wenn ein Wohlfahrtsstaat demontiert wird, seine Transferleistungen für Bedürftige gesenkt und die gültigen Anspruchsvoraussetzungen verschärft werden, obwohl der gesellschaftliche Reichtum zunimmt, kann jedoch weder von sozialer noch von Generationengerechtigkeit die Rede sein. Denn offenbar findet eine Umverteilung statt, von der gerade die Mitglieder bedürftiger Alterskohorten nicht profitieren. Beispielsweise verschlechtert die Erhöhung des Rentenzugangsalters von 65 auf 67 Jahre eher die Arbeitsmarktchancen künftiger Generationen. Wer – wie die Union – nach „Generationengerechtigkeit“ ruft, müsste eigentlich darum bemüht sein, dass Heranwachsende auch künftig einen hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat und das gewohnte Maß an sozialer Sicherheit vorfinden, statt Letztere immer mehr zu beschneiden und die Menschen stärker der privaten Daseinsvorsorge zu überantworten.
Zusammenfassung und Ausblick: Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit ohne Umverteilung von Geld?
Parteiprogramme sind sowohl Spiegelbilder gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen wie auch Resultate innerparteilicher Machtverhältnisse, Strategiedebatten und Formelkompromisse, die Grundüberzeugungen und ideologische Richtungsentscheidungen ihrer Urheber zum Ausdruck bringen. In allen drei Programmdokumenten sind einerseits die Tendenz, den Um- bzw. Abbau des Sozialstaates unter Hinweis auf die Globalisierung und den demografischen Wandel als Sachzwang darzustellen, sowie andererseits ein gewandelter, von neoliberalen Einflüssen nicht freier Gerechtigkeitsbegriff unübersehbar.
„Fördern und Fordern“, der regierungsoffizielle Werbeslogan für das als „Hartz IV“ bekannt gewordene Gesetzespaket, hat über die Leitbilder „Chancen-“, „Solidarische Leistungsgesellschaft“ und „vorsorgender Sozialstaat“ den Weg in die Grundsatzprogrammatik von SPD, CDU und CSU gefunden. Obwohl sich die sozialen und ökologischen Probleme seit geraumer Zeit zuspitzen, bieten die Volksparteien kaum Hinweise, wie ihnen durch eine große Kraftanstrengung der Gesellschaft und/oder zielgenaues Eingreifen des Staates beizukommen wäre. Arbeitslosigkeit und Kinderarmut lassen sich weder durch eine Pädagogisierung des Armutsproblems noch durch die Fetischisierung der Bildung bewältigen und durch Leerformeln wie „Chancengleichheit“ oder „Generationengerechtigkeit“ höchstens ideologisch entsorgen. Floskelhafte Bekenntnisse zur Gerechtigkeit sind keine Lösung, wenn man (Sozial-)Politik auf der Regierungsebene gestalten und dafür bei den Wähler(inne)n mit Erfolg um mehr Vertrauen werben will.
Noch nie wurden Privatinitiative, Eigenverantwortung und Selbstvorsorge der Bürger/innen so stark betont wie in den neuen Parteiprogrammen, was deshalb erstaunt, weil man früher damit viel mehr bewirken konnte als im Zeichen der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung. Heute sind Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wohlhabender, deren Mitglieder allerdings überwiegend hilfloser und schutzbedürftiger. „Der schrittweise Abbau sozialer Sicherungen und der Rückzug des Staates aus der Verantwortung für eine solidarische Daseinsvorsorge trifft (…) hochgradig individualisierte Individuen, die dem kalten Wind einer radikalen Marktvergesellschaftung schutzlos ausgeliefert sind, weil ihr Habitus nun ganz grundlegend durch die schrittweise Gewöhnung an ein Mindestmaß an Schutz vor den Unwägbarkeiten des Alltags in der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft geprägt ist, einer Gesellschaft, die dazu übergeht, nur noch sehr begrenzt solidarische Haftung für ihre Mitglieder zu übernehmen.“
Die formale Chancengleichheit, deren Verwirklichung CDU, CSU und SPD anstreben, garantiert höchstens Verfahrensgerechtigkeit, aber nicht mehr. Für jene Menschen, deren soziale Lage prekär ist, resultiert daraus nicht die Möglichkeit, beruflich Fuß zu fassen und in die höheren Etagen der Gesellschaft aufzusteigen. Unglaubwürdig wird, wer die Bildungs- als besonders zukunftsträchtige Form der Sozialpolitik interpretiert und gleichzeitig von der Schule über den Weiterbildungssektor bis zur Hochschule alle Institutionen dieses Bereichs privatisieren möchte. Denn das heißt, sie für Wohlhabende und deren Nachwuchs zu reservieren. In einem solchen Bildungssystem stoßen Kinder nur noch auf Interesse, wenn sie (bzw. ihre Eltern) als zahlungskräftige Kunden firmieren. Kontraproduktiv wirken zweifellos die Beschneidung der Lernmittelfreiheit (Verpflichtung der Eltern zur Zahlung von Büchergeld), die Schließung von (Schul-)Bibliotheken aus Kostengründen und die Einführung von Studiengebühren. Hier bezieht die SPD eine ganz andere Position als CDU und CSU: „Jeder Mensch hat das Recht auf einen gebührenfreien Bildungsweg von Krippe und Kindergarten bis zur Hochschule.“
Damit sie in Freiheit (von Not) leben, ihre Bedürfnisse befriedigen und ihre Pläne verwirklichen können, brauchen die Menschen nach wie vor Geld, das sie bei Erwerbslosigkeit, Krankheit und im Alter als soziale bzw. Entgeltersatzleistung vom Sozialstaat erhalten müssen. Mehr soziale Gleichheit bzw. Verteilungsgerechtigkeit bildet immer noch, ja mehr denn je die Basis für wirksame Partizipationschancen benachteiligter Gesellschaftsschichten. Dies gilt beispielsweise für die (Aus-)Bildung und den Arbeitsmarkt. Ohne ausreichende materielle Mittel steht die Chance, an Weiterbildungskursen teilzunehmen und ihre persönlichen Arbeitsmarktchancen zu verbessern, etwa für Erwerbslose nur auf dem Papier. Wollten die Parteien reale Chancengleichheit für alle Bewohner/innen – unabhängig von ihrer Herkunft und den jeweiligen Umständen, unter denen diese leben – schaffen, müsste der von ihnen regierte Staat die sozial Benachteiligten gezielter fördern und durch eine gerechtere (Steuer-)Politik für mehr sozialen Ausgleich sorgen.
Der Beitrag ist erstmals erschienen in Soziale Sicherheit 3/2008
Zeitschrift für Arbeit und Soziales, Bund-Verlag Frankfurt a.M.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=3154