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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Systemänderung – was ist damit gemeint? Eine Umfrage.
Datum: 2. Februar 2016 um 9:02 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Ideologiekritik, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Albrecht Müller
Am 15. Januar hatte ich empfohlen, nach einer gesellschaftspolitischen Alternative zur herrschenden neoliberalen Ideologie und Praxis zu suchen und zehn „Pflastersteine“ dieses Dritten Wegs genannt. (Wdh siehe Anhang 2). Daraufhin kam vom NachDenkSeiten-Leser Gerhard Kilper der Hinweis, am gleichen Tag sei in „Le Monde“ über einen ähnlichen Vorschlag des Briten Atkinson berichtet worden. (Siehe Bericht in Anhang 1.) – In anderen Reaktionen auf den Artikel vom 15. Januar wie auch bei sonstigen Debatten über die richtige Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik taucht immer wieder die Anmerkung auf, ohne Änderung des Systems lasse sich die Lage der Mehrheit der Menschen nicht verbessern. Der Kapitalismus sei so, wie wir ihn erleben und lasse sich nicht verändern, auch nicht auf einem Dritten Weg. „Der Kapitalismus muss weg.“ – Ich will diesen Wunsch nach einer Systemänderung nicht kritisch kommentieren und stattdessen fragen, was mit Systemänderung gemeint ist. Diese Frage ist sicher schon tausendmal gestellt worden. Es wäre dennoch interessant, wie sie in der heutigen Zeit von NachDenkSeiten-Leserinnen und -Lesern beantwortet wird, soweit sie der Vorstellung von der notwendigen Systemänderung zuneigen. – Wir veröffentlichen die Antworten. Einzige Bitte: sachlich und maximal eine Seite. Und bitte angeben, ob wir mit Namen oder nur mit Initialen veröffentlichen sollen. Albrecht Müller.
Anhang 1: Mail von Gerhard Kilper vom 15.1.2016:
Lieber Herr Müller, zufällig stieß ich heute Abend in Le Monde auf die Besprechung eines Artikels (eines Buches, d. Verf.) des britischen Ökonomen Anthony B. Atkinson, der zu ähnlichen Schlussfolgerungen und Vorschlägen für einen Neuanfang in der Wirtschafts- und Finanzpolitik kommt wie Sie. Autor des Le Monde-Artikels ist Serge Audier. Originaltitel von Atkinsons Aufsatz: “Inequality. What can be done?“ (Atkinson war Vorbild und Ideengeber für Thomas Piketty)
Herzliche Grüße, Gerhard Kilper
Hier die Inhaltsangabe von Gerhard Kilper, verbunden mit einem dicken Dankeschön:
Serge Audier “Inégalités: inverser la tendance” (Inegalitäten: die Tendenz umkehren), Artikel in der heutigen Le Monde (vom 15.1.2016), Beilage „Critiques Essais“, Seite 7.
… Atkinson strebt das Ziel an, die westlichen Industrieländer, insbesondere Großbritannien, wieder auf das Inegalitäts-Niveau der Zeit vor den 1980er Jahren zurück zu bringen.
Atkinson meint, nur das Ziel der Chancengleichheit anzustreben genüge nicht, es müsse ein bestimmter Grad an gesellschaftlicher “Egalität der Resultate” erreicht werden.. Es mache doch keinen Sinn, die Gesellschaft im Sinne einer sportlichen Wettbewerbsveranstaltung zu organisieren, in der dann die Minderheit der Gewinner (fürstlich) belohnt wird… Die von Generation zu Generation weitergebene „Ungleichheit der Resultate“ schade im Übrigen auch dem Ziel der Chancengleichheit.
Unter Bezug auf die erlebte Egalitätsphase der Generationen vor 1980 meint Atkinson mit Hinweis auf die Geschichte, nicht nur während der beiden Weltkriege, sondern insbesondere auch danach habe es eine öffentliche Meinung gegeben, nach der das Zurückfahren der Einkommens-Ungleichheit dem verbreiteten „Gefühl sozialer Solidarität“ entspreche.
Darauf hätten Labour und Gewerkschaften nach 1945 den britischen Sozialstaat aufgebaut, während sich in den USA die Roosevelt-Revolution mit öffentlicher Intervention zur Steuerung von Konjunktur und Arbeitsmarkt bei gleichzeitigem Erstarken der Gewerkschaften durchgesetzt habe.Diese politischen Grundlinien in Verbindung mit progressiver Besteuerung hätten damals zu einer (grundlegenden) Transformation des Kapitalismus geführt.
Das Pendel sei dann mit den Einschnitten in soziale Leistungen des Wohlfahrtsstaates und mit Senkungen des Lohnniveaus bei gleichzeitig starker Spreizung der Löhne wieder (in Richtung Inegalität) umgeschlagen.
Eine Umkehr heute erfordere eine Politik als Kampf gegen die Inegalität (von Einkommen und Vermögen), für eine Rehabilitation der Rolle des Staates und der Gewerkschaften bzw. Genossenschaften in Gesellschaft und Wirtschaft…
Bei Wahl und Unterstützung neuer Technologien durch die Politik solle das Ziel möglicher künftiger Beschäftigung der Arbeitnehmer inbegriffen sein… Der Staat selber müsse für die Einhaltung von Zielmarken bei der Beschäftigung sorgen, indem er Garantien für die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst gebe. Der Staat müsse weitergehend in einem nationalen Dialog Anstöße für eine nationale Entlohnungspolitik inklusive eines ausreichenden Mindestlohns geben…, sowie eine mit einem staatlich garantierten Finanzfonds ausgestattete öffentliche Investitions-Autorität ins Leben rufen sowie Einkommensteuersätze deutlich progressiv erhöhen. Als Ergänzung zu bestehenden sozialen Schutzgesetzen solle auf gesamtstaatlicher Ebene ein nationales Partizipationseinkommen eingeführt werden, das, gekoppelt an ein Grundeinkommen, allen Kindern auf europäischer Ebene zustehen solle.
Für Atkinson sind alle diese Maßnahmen über Einkommens-Redistributionen und die neue Rolle des Staates /Sozialstaats in einer prosperierenden Gesellschaft finanzierbar. Auch die Globalisierung, deren Lauf man wieder korrigieren könne, sei kein Hindernis für eine nationale Richtungsentscheidung zugunsten einer weniger inegalitären Gesellschaft.
Manche Kritiker halten Atkinsons Vorschläge für zu zaghaft, andere wieder für zu volontaristisch. Wie dem auch sei, der britische Ökonom Atkinson setzt Margret Thachters „TINA“ ein brillantes Dementi entgegen!
Anhang 2:
Wiederholung des NDS-Textes vom 15. Januar 2016
Die gesellschaftspolitische Debatte in unserem Land – und nicht nur hier – ist verengt. Die Behauptung der früheren Premierministerin von Großbritannien Margaret Thatcher, es gebe keine Alternative zu der von ihr eingefädelten neoliberalen Politik, war und ist hochwirksam. Ihre Formel TINA – there is no alternative – hat sich wie Mehltau über die öffentliche Debatte gelegt und bestimmt auch die programmatische Debatte von Parteien, von denen man anderes erwarten könnte und müsste, und erklärt damit übrigens auch den Niedergang der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien.
Sie haben – zum Beispiel mit der Agenda 2010 von Bundeskanzler Schröder – den konservativen, neoliberal orientierten Kräften die Kohlen aus dem Feuer geholt und den Glauben verstärkt, es gäbe keine Alternative zur betriebenen Verschiebung der Einkommen und Vermögen nach oben, zum Aufbau von sogenannten Niedriglohnsektoren, zur Deregulierung und zur Privatisierung bisher öffentlich bereitgestellten Leistungen.
Das Ergebnis ist eine armselige gesellschaftspolitische Diskussion. Man kann deshalb ganz gut verstehen, dass Kritiker aus dem fortschrittlichen Lager „ausgehungert“ nach „Systemänderung“ rufen. In diesen Ruf einzustimmen wäre sinnvoll, wenn auch nur einigermaßen klar wäre, wie das andere System jenseits des „Kapitalismus“ aussehen könnte, und ob und wie es funktionieren würde.
Solange das nicht klar ist, bleibt nichts anderes übrig, als nach anderen Alternativen zu suchen. Aus meiner Sicht ist es der alte Dritte Weg, den zu verlassen es keinen sachlichen Anlass gab. Gemeint ist nicht der von Tony Blair, Gerhard Schröder und Anthony Giddens propagierte Dritte Weg des Schröder-Blair-Papiers. Die Nutzung des alten Begriffs durch diese Personen war ein propagandistischer Trick, um dieses etwas gefälliger aufbereitete Thatcher-Programm schmackhaft zu machen. Gemeint ist die ältere und immer noch aktuelle Vorstellung vom „Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus“.
Die Pflastersteine dieses Weges wären (in Stichworten):
Was hier als Elemente eines Dritten Weges aufgelistet ist, sind meist alte Bekannte. Das spricht weder gegen ihre Aktualität noch gegen ihre Effizienz und sachliche Richtigkeit. So hat sich beispielsweise die in Ziffer 1 genannte Soziale Sicherung der Altersvorsorge als fairer, gerechter und effizienter erwiesen als die propagierte und eingeführte Privatvorsorge.
Die Debatte des skizzierten Dritten Weges müsste begleitet sein von einer Diskussion der geistigen und ethischen Grundlagen unseres Zusammenlebens.
Mit diesem Weg verbunden ist eine klare Absage an die Kommerzialisierung aller Lebensverhältnisse und der ideologischen Vorstellung, jeder sei seines Glückes Schmied, und Egoismus sei das einzig sinnvolle Leitmotiv des Zusammenlebens.
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl sprach gelegentlich von der „geistig moralischen Erneuerung“. Weil er seine Parole nicht ernst nahm und in der praktischen Politik sogar dagegen anging, wurde nie getestet, ob eine solche Neuorientierung Mehrheiten hinter sich scharen könnte. Heute scheint mir die Orientierungslosigkeit so groß, dass Parteien, Verbände, Medien und auch Blogs, die sich die Neuorientierung weg von TINA zu eigen machen würden, durchaus Chancen hätten.
Darum geht es beim Vorschlag, den Dritten Weg in den nächsten Monaten und Jahren neu zu skizzieren, zu besprechen und zu debattieren. Wir müssen die bornierte Position der Alternativlosigkeit verlassen.
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