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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Zum Polit-Debakel in Hessen:
Datum: 10. März 2008 um 8:43 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Wahlen
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
„Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes“ – aber Parteispezies und Interessenklüngeler schaden der Demokratie
Während das erbärmliche Getöse über das chaotisch wirkende hessische Polit-Geschachere im deutschen Blätterwald schon wochenlang hysterische Formen aufweist und die elektronischen Medien ebenso verrückt zu spielen scheinen, hilft der Blick in die Verfassung dieses Bundeslandes weiter. „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes“ ist in Paragraf 77 zu lesen. Und wenn man die hessische Verfassung durchsucht nach Koalitionsvoraussetzungen oder ähnlichen Bedingungen für die Wahl des Regierungschefs durch einen neugewählten Landtag, findet man nichts. Also kann es doch im Sinne dieser Verfassung und der dadurch fundierten Demokratie – nach dem bisherigen Scheitern der Vorweg-Koalitionsbemühungen – nur eine einzige Konsequenz geben: Roland Koch und Andrea Ypsilanti sind praktisch qua Verfassung verpflichtet, bei der konstituierenden Sitzung des Landtages am 5. April in Wiesbaden zur Wahl des Regierungschefs anzutreten. Und wer dabei in der obligaten geheimen Wahl der 110 Abgeordneten mindestens 56 Stimmen erhält, ist ordentlich gewählter Ministerpräsident. Alles übrige? Offen. Von unserem Leser Klaus Manthey, Berlin
So einfach stellt sich eigentlich die Lage dar – sofern insbesondere die tonangebenden Parteispezies die hessische Verfassung ernst nähmen, sofern die sogenannten Partei-Granden dem Geist der Demokratie wirklich durch Worte und Taten genügen wollten, sofern vor allem die Partei-Vorderen von ihrer inneren Einstellung her bereit wären, den Wählerwillen vom 27. Januar zu respektieren. Dieser Wählerwillen ist nämlich – entgegen allem öffentlichem Kampagnen-Geplappere und -Geschrei – klar und eindeutig.
Wer das amtliche Wahlergebnis studiert und analysiert, kann nichts anderes schlußfolgern. Die im neuen Landtag vertretenen fünf Parteien bekamen zusammen 2.621.968 Stimmen. Davon entfielen auf die CDU des Ministerpräsident-Kandidaten Koch 1.009.775 Stimmen und auf die FDP 258.550, also zusammen 1.268.325. Die SPD mit Ministerpräsident-Kandidatin Ypsilanti erhielt 1.006.264 Stimmen, die Grünen bekamen 206.610, die Linke verbuchte 140.769 Stimmen, folglich zusammen 1.353.643.
Die Gegenüberstellung der Stimmenblöcke für die beiden sogenannten Lager ergibt eine Differenz von 85.318 Stimmen zugunsten der Anti-Koch-Seite um Andrea Ypsilanti, Tarek Al-Wazir (Grüne) und Willi van Ooyen (Linke).
Entsprechend fiel die Mandatszumessung im neuen Landtag aus. Einerseits 42 CDU-Abgeordnete und 11 FDP-Parlamentarier, macht zusammen 53 verbal festgelegte Koch-Unterstützer. Und andererseits 42 SPD-Abgeordnete, 9 Grünen-Mitglieder und 6 Linke-Vertreter, mithin zumeist lautstark hervorgetretene 57 Anti-Koch-Politiker.
Also rechnerisch vier Abgeordnete mehr auf der Anti-Koch-Seite – aber auch tatsächlich? Und dabei zugleich auf der Pro-Ypsilanti-Seite? Niemand weiß das, niemand kann es wissen, niemand kann irgendwas beweisen – weil geheim eben geheim ist, weil allein eine geheime Wahl im Landtag Klarheit schaffen würde.
Dennoch müßte eine solche Entscheidung sich als mehr oder minder klare Angelegenheit erweisen, wenn sich die 110 Abgeordneten im Schutze der Landtags-Wahlkabine an ihre vor dem Bürgerentscheid abgegebenen öffentlichen Erklärungen halten würden. Wenn es eben nicht die Landtags-Pflicht zur geheimen Wahl des Regierungschefs, wenn es nicht die tatsächlichen oder vermuteten „U-Boot-Fahrer“ in möglicherweise allen fünf Parteien, die abgehoben agierenden Parteispezies mit ihren undurchsichtigen Macht-„Spielchen“ und die versteckt oder verdeckt operierenden Hinterzimmer-Klüngelanten gäbe. Und wenn es obendrein die vernünftige Vorschrift nicht gäbe, daß nur derjenige zum Ministerpräsidenten wird, der mindestens eine Stimme mehr als die der Hälfte der Landtagsmitglieder, also 55 plus eine oder 56, bekommt.
Dennoch ist der politische Willen der Mehrheit der hessischen Wähler eindeutig: Sie trafen auf der Grundlage der hessischen Verfassung gemäß dem dort festgeschriebenen Repräsentationsprinzip (oder: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes“) am 27. Januar ihre Entscheidung – natürlich auch und insbesondere im Blick auf die beiden einzigen Ministerpräsident-Kandidaten Ypsilanti und Koch, auf die Koalitionsaussagen der Parteien (in positiver oder negativer Form) und manch andere Aspekte.
Exakt 4.370.463 Frauen und Männer hätten am 27. Januar wählen können. Lediglich 2.811.073 Wählerinnen und Wähler nutzten das ihnen bedauerlicherweise nur alle fünf Jahre zustehende Recht, ein Kreuz für diese oder jene Partei zu machen. Oder das Recht, der Wahlkabine fernzubleiben, was beklagenswerterweise 1.559.390 Menschen oder 35,7 Prozent der Wahlberechtigten taten. Überdies waren beachtliche 68.114 Stimmen oder 2,4 Prozent aller Bürgervoten ungültig. Zudem mußten rund 95.000 Stimmen für sonstige Parteien bei der Zuerkennung von Landtagsmandaten unberücksichtigt bleiben – wegen der 5-Prozent-Hürde.
Auch alll dies muß ein demokratisch denkender, um Fairneß bemühter Betrachter berücksichtigen und gewichten, wenn er im Geiste eines wohlverstandenen und praktizierbaren Parlamentarismus die aktuelle hessische Situation bewertet. Dazu gehört, daß jedes der 110 Landtagsmandate durchschnittlich 23.585 Stimmen „abdeckt“. Wer der Frage nachgeht, wie viele Stimmen jede der fünf Parteien für ein einzelnes Mandat benötigte, kommt auf Werte zwischen 24.042 (für einen CDU-Sitz) und 22.957 (für einen Grünen-Sitz). Für die Linken ergeben sich 23.462, für die FDP 23.505, für die SPD 23.959. Also liegen die mit einem Landtagsmandat “verknüpften“ Wählerstimmen ganz nahe beieinander. Oder anders: Jedes Mandat ist gleich viel wert oder gleichwertig.
Um so mehr ist es angebracht, die Gesamtverantwortung des neugewählten Landtages zu betonen und alle seine 110 Mitglieder aufzufordern, weiteren Schaden vom wertvollen demokratischen Staatskonstrukt fernzuhalten. Was eben allein heißen kann: „Die“ (110) „Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes“, wie die Verfassung ohne Wenn und Aber feststellt. Quasi als Befehl an die Abgeordneten – durch nichts einschränkbar, erst recht nicht durch parteiische Spezl-Wirtschaft, durch Hinterzimmer-Mauscheleien, durch plötzlich artikulierte „Gewissensnöte“ oder durch Interessenklüngel von irgendwelchen „Außerparlamentarischen“.
In genau diesem Sinne formulierte der bekannte Publizist, ARD-Fernsehmacher und Solar-Förderer Dr. Franz Alt dieser Tage: „Unser Wahlsystem sieht vor, daß alle Parteien, welche die 5-Prozent-Hürde überspringen, demokratisch gewählt sind. Das Wahlrecht kennt kein Zwei-Klassen-Parteiensystem. Es spricht nicht für die demokratische Reife der etablierten Parteien, eine neue, unbequeme Partei einfach ausgrenzen zu wollen. Gewählt ist gewählt! Und alle demokratisch gewählten Parteien sollten untereinander gesprächsbereit und eventuell auch koalitionsbereit sein. Alles andere ist schlicht eine Mißachtung des Wählerwillens.“
Exakt diese Mißachtung des Wählerwillens besteht schon lange Zeit, nunmehr forciert in der aktuellen Zuspitzung des hessischen Polit-Debakels, weil die Gesamtverantwortung der 110 Landtagsmitglieder vorsätzlich mißachtet oder absichtsvoll kaputtgemacht oder politgewollt beseitigt wird. Zum Beispiel dadurch, daß nicht nur die Koalitionsbereitschaft, sondern sogar die Gesprächsbereitschaft verweigert wird. Oder dadurch, daß alle fünf Parteien vor der Bürgerentscheidung des 27. Januar mehr oder minder unsinnige, ja weithin verantwortungslose Koalitionsversprechen oder -absichten formulierten und gebetsmühlenhaft wiederholten. Auch dies war bzw. ist eine Mißachtung des Wählerwillens, sogar ein krasses Mit-den-Füßen-Treten des Wählerwillens, den keiner der Partei-Oberen vor dem 27. Januar kennen konnte. Auch wenn schon im Januar zu „erfühlen“ war, daß es zu einem 5-Fraktionen-Parlament kommen könnte.
Um so entschiedener ist jetzt zumindest die umfassende Gesprächsfähigkeit der fünf Fraktionsführungen zu verlangen, damit die verworrene Lage schnellstens überwunden werden kann. Zumal es an der Koalitionsfähigkeit für Koch oder Ypsilanti, die allein in Frage kommenden Ministerpräsident-Kandidaten, fehlt. Auch diese Forderung ergibt sich als Konsequenz aus der unbestreitbaren Gesamtverantwortung aller 110 Landtagsmitglieder, die nicht in Gruppen oder als (Partei-) Fraktionen, sondern als Ganzes, eben als Hessischer Landtag für fünf Jahre, von der Bürgerschaft gewählt wurden. Also muß es die erste große Aufgabe dieses Landtags sein, am 5. April den hessischen Regierungschef neu zu wählen – und damit alle den Wählerwillen verfälschenden Tricks zu unterlassen. Nein zu dem demokratiegefährdenden Hirngespinst einer „geschäftsführenden Regierung Koch für ein Jahr bis zur Europawahl 2009“! Nein zur sich abzeichnenden Variante „Bürgerbeschimpfung – mit späteren Neuwahlen als Bürgerbestrafung“! Nein zu der Spinner-Idee „große Koalition CDU/SPD unter Petra Roth (CDU) und Jürgen Walter (SPD) – statt Koch und Ypsilanti“!
Also, Roland Koch und Andrea Ypsilanti: Am 5. April im neuen Hessischen Landtag in der nunmehr bürgerbestimmten Zusammensetzung Antreten zur geheimen Wahl – gemäß dem Bürgerwillen vom 27. Januar. Der Siegreiche führt die Regierung an, der Unterlegene die Opposition. Und dann wird man weitersehen …
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