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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Noch einmal „Spiegel“: Jetzt entdeckt die Redaktion überrascht, dass es auch noch industrielle Tätigkeit gibt
Datum: 13. Februar 2008 um 9:06 Uhr
Rubrik: Strategien der Meinungsmache, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
Spiegel-Lesern kann man offensichtlich nahezu alles zumuten. Bis vor kurzem wurde im Blatt der Abstieg beschworen, sogar der Wirtschaftsweltkrieg, jetzt liest man: „Überraschende Renaissance. Das Comeback der deutschen Industrie widerlegt die These, dass die Zukunft den Dienstleistungen gehöre. Produktionsfirmen sind der Wachstumstreiber – auch für den Servicesektor.“ Weitere Auszüge in der Anlage.
Das alles konnte man vor drei oder fünf oder noch mehr Jahren auch schon wissen. Aber damals musste man im „Spiegel“ und in Büchern und Fernsehsendungen seines Chefredakteurs Aust und des Berliner Büroleiters Steingart noch vom „Abstieg eines Superstars“ und vom „Fall Deutschland“ lesen, hören und sehen. Gehen Sie mit dieser Geschichte zu Spiegelabonnenten. Zeigen Sie ihnen, welcher Wetterwendigkeit und Beliebigkeit sie wöchentlich ausgesetzt sind. Albrecht Müller.
Gabor Steingart hat in seinem Buch „Deutschland. Der Abstieg eines Superstars“ (2003?), das der Spiegel in Auszügen abdruckte, ein düsteres Bild gerade auch der industriellen Entwicklung gezeichnet (siehe Anlage 2). Da war, wenn ich mich recht erinnere, davon die Rede, bei uns gingen die „Kerne“ der industriellen Entwicklung verloren, während zum Beispiel Frankreich an uns vorbeizieht. Vom kranken Mann Europas war in den Produktbeschreibungen dieses Buches die Rede. 2005 legte Steingart zusammen mit Stefan Aust und dem ZDF-Mann Claus Richter noch einmal nach. Und dann noch einmal 2006 mit „Weltkrieg um Wohlstand“, wieder in Serie abgedruckt im Spiegel. Dazu siehe: Steingart – Mittelmaß in der Sache aber Meister in der Kunst der Verführung.
Schon 2003 konnte man wissen, dass die Dramatisierung unbegründet ist und auch die Behauptung vom Verlust der industriellen Basis nicht stimmt: Die Exportstärke war damals schon erkennbar, es war sichtbar, dass Deutschlands Volkswirtschaft zum Beispiel gerade im Maschinenbau besonders stark ist; am 15.7.2005 (!) haben wir in den NachDenkSeiten über die weiter gewachsene Stärke des Maschinenbaus berichtet: Fast 20 Prozent Weltmarktanteil hatte der Deutsche Maschinenbau damals schon erreicht. Aber diese Kunde drang nicht bis in die Spiegelbüros in Berlin und Hamburg vor.
Es war schon 2003 erkennbar, dass die Abwanderung (auch wenn sie einzelne Betriebe und Menschen hart trifft) in der Summe dramatisiert wird; es war absehbar, dass das Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft ein modisches Geschwätz ist. Solche Veränderungen vollziehen sich nicht in radikalen Brüchen. In einer aufgeklärten Gesellschaft sollte man sich ohnehin zurückhalten mit Kategorisierungen von der Sorte Dienstleistungsgesellschaft, Industriegesellschaft, Finanzkapitalismus, Wissensgesellschaft und was da sonst noch im Angebot sein mag.
Mehrere der hier gängigen Denkfehler sind in meinem Buch „Die Reformlüge“ analysiert, zum Beispiel Denkfehler Nr.13 „Wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig“ . Das Buch erschien im August 2004.
Der Spiegel macht mit seinen Artikeln seine Leser verrückt. Einmal so. Und einmal anders. Und dann wieder so. Dahinter stecken keine klugen Köpfe.
Ich weise noch einmal auf die Empfehlung hin, an der Senkung der Auflage dieses neoliberalen Kampforgans mitzuwirken. Siehe unsere beiden letzten Artikel zum Thema: „Nachtrag zum Spiegel: Offenbar lernunfähig und zur weiteren Talfahrt entschlossen. Es gibt auf Dauer keinen Bedarf an einem unkritischen Mainstream-Spiegel“ und „Geben Sie den Spiegel-Redakteuren den richtigen Tipp: Kritisch sein, aufklären – andernfalls geht’s weiter bergab mit der Auflage und die Tantiemen fallen aus“.
Das ist ernst gemeint: die Qualität der öffentlichen Debatte in Deutschland und damit die Qualität der Politik wird sich vermutlich erst dann wieder bessern, wenn es mehr kritische Stimmen gibt; Stimmen, die hinterfragen, zweifeln, auf Umsicht und Weitsicht pochen. Der Spiegel war zumindest auf einigen Gebieten der deutschen Politik über längere Zeit eines dieser kritischen Organe und deshalb wichtig. Das ist passé. Aber es könnte wiederkommen. Das ist unsere Hoffnung.
Doch diese Hoffnung wird nur dann einlösbar sein, wenn die Redaktion merkt, mit der bisherigen Linie fällt die Auflage des Spiegel ins Bodenlose. Dabei müssen Sie mithelfen – in dem Sie Noch-Spiegel-Leser zum Beispiel mit dieser wetter-wendigen Geschichte zur industriellen Stärke unseres Landes bekannt und auf die völlig gegenläufigen Artikel und Serien aufmerksam machen, die noch vor kurzem im Blatt zu lesen waren.
Anlage 1:
Auszüge aus: Der Spiegel vom 10.2.2008, Seite 66 und 67
Überraschende Renaissance
Das Comeback der deutschen Industrie widerlegt die These, dass die Zukunft den Dienstleistungen gehöre. Produktionsfirmen sind der Wachstumstreiber – auch für den Servicesektor.
[…]
Die Aufträge stapeln sich in den Orderbüchern genauso wie die Räder in der über 90 Jahre alten Fabrikhalle im Stadtteil Sterkrade. In drei Schichten produziert die Belegschaft hier für Kunden aus aller Welt.
Um 60 Prozent stieg der Umsatz des Unternehmens in den beiden vergangenen Jahren. Um über ein Viertel stockte Walter die Belegschaft auf, 50 neue Arbeitsplätze entstanden, trotzdem nimmt der Auftragsstau kaum ab. “Das wird auch in den nächsten anderthalb Jahren nicht anders.”
[…]
Deutschland verfügt noch über viel mehr industrielle Kompetenz und Substanz als beispielsweise Großbritannien. Hierzulande gilt die Industrie, anders als dort, nicht als eine weitgehend überkommene Wirtschaftsform aus dem 19. Jahrhundert und die Dienstleistungsbranche nicht uneingeschränkt als das allein seligmachende Modell der Zukunft.
“Wir haben konsequent auf industrielle Kerne gesetzt, das zahlt sich jetzt aus”, meint Wirtschaftsstaatssekretär Pfaffenbach. “Wir können nicht davon leben, dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden.”
Zum anderen profitiert Deutschland von der industriellen Vielfalt, die sich hier erhalten hat. Mit China und Indien industrialisieren sich große Teile der Welt, und deutsche Unternehmen haben genau die Produktpalette im Angebot, die Schwellenländer dafür brauchen, von Werkzeugmaschinen über komplette Stahlwerke bis hin zu Autos, die sich der aufstrebende Mittelstand dort gern leisten möchte.
[…]
Deutsche Unternehmen haben sich zudem hervorragend auf die Erfordernisse der Globalisierung eingestellt. Sie haben sich spezialisiert, in ihren Nischen sind sie nicht selten Weltmarktführer. Gutehoffnungshütte Radsatz etwa ist weltweit führend im Markt für Niederflurstraßenbahnen. Räder aus Oberhausen rollen in Perth, Hiroshima und Vancouver.
Wesentliche Ursache des Erfolgs: Das Traditionsunternehmen hat immer wieder das Rad neu erfunden. Eine seiner Spezialitäten ist ein einzeln lenkbares Rad, mit dem Straßenbahnen durch engste Gassen kurven können. Die Konstruktion ist technisch anspruchsvoll, sie besteht aus 400 Einzelteilen. “Das kann nicht jeder”, meint Manager und Miteigentümer Walter.
[…]
So attraktiv ist mittlerweile der Standort, dass viele Unternehmen, die Fertigung ins Ausland verlegt haben, wieder zurückkommen. “Sicherlich sind die Löhne im Ausland niedriger, aber so einfach ist die Verlagerung dann doch nicht”, erklärt Bauer. Im Ausland müsse das Personal erst mühsam angelernt werden, was bei anspruchsvollen Tätigkeiten zuweilen Schwierigkeiten bereite. Aus der Ferne bietet der Heimatstandort dann doch Vorteile, die jederzeitige Verfügbarkeit von Material zum Beispiel
oder die Nähe zu Lieferanten, hat Bauer festgestellt.
Verlässliche Statistiken darüber, wie viele Unternehmen Arbeitsplätze wieder nach Deutschland zurückverlagern, gibt es allerdings nicht, genauso wenig wie zuverlässige Angaben darüber, wie viele ins Ausland abwandern.
Anlage 2:
Produktbeschreibungen von Amazon:
Die Gründe für diese Entwicklung sieht der Leiter des Berliner Spiegel-Büros hausgemacht: 1) Die Überdehnung des Sozialstaats führt zum Ausbluten der ökonomischen Grundlagen, weil das Wachstum nicht mehr Schritt hält. 2) Die als Reflex auf den “Führerstaat” mit dem Grundgesetz etablierte Atomisierung der politischen Macht hat zur Folge, dass sich die Akteure gegenseitig blockieren. Reformer haben es schwer in diesem Umfeld aus Besitzstandswahrern und Blockademachtverwaltern. Steingart hält diesen “deutschen Defekt”, wie er ihn nennt, zu Recht für ein lange unterschätztes Problem.
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