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Titel: „Riester beging Verfassungsbruch“
Datum: 2. Dezember 2015 um 9:28 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Interviews, Rente, Sozialstaat
Verantwortlich: Redaktion
Die öffentliche Daseinsvorsorge ist seit vielen Jahren unter Beschuss. Das betrifft das Bildungs- und das Gesundheitssystem, die Arbeitslosen-, aber auch die Rentenversicherung. Dass die Leistungsfähigkeit letzterer aufgrund politischer Entscheidungen inzwischen soweit reduziert wurde, dass Millionen von Menschen inzwischen eine Armutsrente droht – das ist inzwischen bekannt. Weniger bekannt dürfte es sein, dass die Politik beim „Abräumen“ der Rente, das den Markt für die privaten Versicherer bereitete, womöglich Verfassungsbruch beging. Das jedenfalls behauptet der Versicherungswissenschaftler Hans-Peter Schwintowski im Gespräch mit Jens Wernicke.
Herr Schwintowski, im Interview mit Report Mainz wiesen Sie unlängst darauf hin, dass das Streichen der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit unter Walter Riester ein Verfassungsbruch gewesen sei. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
In einem Sozialstaat wie der Bundesrepublik Deutschland gilt der Grundsatz, dass der Staat für eine hinreichende Grundversorgung im Bereich der Kranken-, Renten-, Berufsunfall- und Pflegeversicherung zu sorgen hat. Teil der Rentenversicherung war und ist das Risiko berufsunfähig zu werden. Genau gesehen ist Berufsunfähigkeit eine langanhaltende, dauerhafte Erkrankung eines Menschen, sodass er seinen Beruf nicht oder zu einem erheblichen Teil nicht ausüben kann.
Für diesen Fall, den niemand von uns vorhersehen oder ausschließen kann, trifft den Staat eine Gewährleistungsverantwortung. Er ist zwar nicht verpflichtet, eine Vollversorgung vorzuhalten, aber eine Grundversorgung muss sein.
Genauso handhaben wir das im Bereich der Pflege, der allgemeinen Rentenversicherung und der Krankenversicherung. Wir bräuchten also – wie früher – zumindest eine Grundversorgung für den Fall der Berufsunfähigkeit als Teil der Kranken- respektive Rentenversicherung. Wer oberhalb der Grundabsicherung eine bessere Rente haben möchte, müsste dies dann privat ergänzend versichern.
Welche Rechtsgrundlagen wurden hier denn genau verletzt? Und wodurch?
Verletzt wurde das Sozialstaatsprinzip, das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert ist. Außerdem hat der Staat als Rechtstaat auch seine – ebenfalls aus Artikel 20 resultierende – Gewährleistungsverantwortung verletzt.
Wie kommt es, dass niemand hiergegen protestiert hat bisher?
Es trifft nicht zu, dass niemand hiergegen protestiert hat. Vor einigen Jahren hat bereits der erste Ombudsmann der Versicherungswirtschaft, Herr Prof. Wolfgang Römer, in einem öffentlichen Vortrag auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Berufsunfähigkeitsversicherung als Grundabsicherung wieder in die Sozialversicherung zu integrieren. Und auch der Bund der Versicherten hat dies – soweit ich weiß – mehrfach öffentlich gefordert.
Ein Verfassungsbruch erscheint mir tatsächlich als ein sehr deutlicher und zudem gewichtiger „Unrechtsakt“ – und der Widerstand hiergegen daher eher mau. Warum laufen beispielsweise die Medien als Vierte Gewalt im Land hiergegen nicht Sturm – was meinen Sie?
Wahrscheinlich weil die Brisanz nicht so ohne weiteres erkennbar ist. Glücklicherweise werden nicht alle Menschen auf einmal berufsunfähig, das heißt, in den ersten Jahren haben auch die Medien gar nicht erkannt, dass hier eine Rechtsschutzlücke entsteht, die im Zeitablauf immer größer wird. Jetzt ändert sich das gerade.
Was wäre denn zu tun, um diesen Verfassungsbruch rückabzuwickeln? Muss jetzt irgendwer irgendwen verklagen – oder wird die Bundesregierung diese Streichung nun selbsttätig zurücknehmen müssen?
Nach meiner Meinung müsste eine Grundabsicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit wieder Teil der gesetzlichen Renten- respektive Krankenversicherung werden. Wenn der Staat dieses auf Dauer unterlässt, so sollte geprüft werden, ob im Wege einer Verfassungsbeschwerde eines berufsunfähig gewordenen Menschen, der nun keine Sozialleistung bekommt, der Staat zum Handeln verpflichtet werden kann. Das gleiche Ziel wäre zudem auch durch eine Petition erreichbar.
ARD: Viele fallen durchs Raster: Armutsrisiko Berufsunfähigkeit
Die staatliche Rente ist ja seit Jahren ganz allgemein unter Beschuss. Was wäre gegen weiteren Kahlschlag bei dieser und in anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge Ihrer Meinung nach zu tun? Was rieten Sie?
Jeder Schritt, der dazu führt, dass letztlich das Sozialstaatsprinzip und die daraus resultierende Gewährleistungsverantwortung des Staates im Bereich der Renten-, Kranken-, Berufsunfall- und Pflegeversicherung ausgehöhlt wird, müsste mit Verfassungsbeschwerde angegriffen werden.
Abgeordnete und Organe des Deutschen Bundestages hätten daneben die Möglichkeit, eine abstrakte Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht zu erheben.
Noch ein letztes Wort?
Neben der Frage, die Berufsunfähigkeit in Zukunft wieder – und zwar mit einer Grundabsicherung – in den Leistungskatalog der Sozialversicherung aufzunehmen, müssen wir meiner Meinung nach dafür sorgen, dass sehr viel klarer und transparenter wird, was eigentlich eine Berufsunfähigkeit ist, wann sie also objektiv vorliegt.
Zurzeit kann das niemand prognostizieren, weil es keine klaren Leitlinien dafür gibt, wann ein Mensch in einer bestimmten Lebenssituation eigentlich zu 100, zu 70, oder zu 50 Prozent berufsunfähig ist. Das sollten wir auf jeden Fall ändern. Und das ist ein Problem, das nicht nur die soziale, sondern auch die private Berufsunfähigkeitsversicherung in gleicher Weise betrifft.
Das Problem könnte beispielsweise gelöst werden, wenn wir an die medizinisch weltweit übereinstimmenden ICD-Standards für körperliche Beeinträchtigungen anknüpfen und erklären würden, wann wir der Meinung sind, dass bei einer bestimmten körperlichen Beeinträchtigung nach ICD Berufsunfähigkeit vorliegt. Das wäre eine große Erleichterung für alle Beteiligten.
Sie meinen, weil die wechselseitigen Rechte und Pflichten dann klar geregelt sind und jeder weiß, was ihm zusteht und worauf er einen Rechtsanspruch hat?
Eben das.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Professor Hans-Peter Schwintowski ist Versicherungswissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Mitglied der Reformkommission zum Versicherungsvertragsgesetz. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Bundesverbandes Öffentliche Dienstleistungen – Deutsche Sektion des CEEP e.V. und gehört dem „Wissenschaftlichen Arbeitskreis zur Bankgesellschaft Berlin“ an, einem Teil der Initiative „Bürger gegen den Bankenskandal“.
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