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Titel: „Brauchbare Illegalität“ – Über das Verschwinden der Moral aus der Wissenschaft
Datum: 27. November 2015 um 9:13 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Lobbyismus und politische Korruption, Wertedebatte
Verantwortlich: Jens Berger
Die Sendung Kulturzeit des Senders 3sat befragte am 3. November 2015 den Bielefelder Organisationssoziologen Stefan Kühl zu den Korruptionsskandalen der letzten Zeit. Seine Antworten haben Götz Eisenberg[*] zu einem Kommentar veranlasst.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Die Moderatorin fragt Herrn Kühl, was seine Wissenschaft zu den Vorwürfen gegen den DFB und gegen den Volkswagenkonzern, die Weltmeisterschaft im eigenen Land gekauft beziehungsweise die Abgaswerte manipuliert zu haben, zu sagen habe. Regelverstöße, sagt Herr Kühl seien in Firmen und Organisationen normal und nötig, „um flexibel auf Marktanforderungen reagieren zu können“. Unternehmen seien so gesehen „professionelle Heuchler“. Kühl nennt diese Verhaltensweisen im Anschluss an seinen Lehrmeister Niklas Luhmann „brauchbare Illegalität“. Diese garantiere wirtschaftlichen Erfolg, und keine Firma oder Organisation könne auf solche Praktiken verzichten.
Kühl macht seinem Namen alle Ehre und spricht darüber nüchtern, ohne jede ironische Brechung und ohne einen Hauch moralischer Empörung. Wenn er sagen würde: Man könnte das, was Volkswagen da macht, „brauchbare Illegalität“ nennen, so ist halt der Umgang mit Normen und Regeln im Kapitalismus. So sagt er es aber nicht. Kühl liefert ein Bespiel für das, was man mit dem frühen Sloterdijk Wissenschaftszynismus nennen könnte. Er ist eben Systemtheoretiker, den nur das Funktionieren und das möglichst reibungslose Zusammenspiel der diversen Subsysteme, aus denen eine Gesellschaft zusammengesetzt ist, interessieren. Wie heruntergekommen ist diese Soziologie!? Hegemonial scheint inzwischen eine amoralische, gefühllose Psychopathen-Soziologie zu sein!
Das Gros der sogenannten Psychopathen befindet sich nicht etwa in den Gefängnissen, sondern läuft frei herum und zeichnet sich teilweise sogar durch besonderen Erfolg im Beruf aus. Es sind funktionale Psychopathen, die gelernt haben, aus ihrer Störung – Gefühlskälte, Skrupellosigkeit und völlige Furchtlosigkeit – einen Vorteil zu machen. Sie zerstückeln niemanden – jedenfalls nicht körperlich -, sondern machen Karriere. Sie besitzen genau die Persönlichkeitsmerkmale, die man benötigt, um in kapitalistischen Unternehmen seinen Weg nach oben zu machen. Sie besitzen ein durch nichts zu erschütterndes Selbstbewusstsein, sie werden nicht von Selbstzweifeln und schlechtem Gewissen geplagt. Man findet Psychopathen in Spitzenpositionen von Gesellschaft, Industrie und Banken. „Gerade moderne Unternehmen mit ihren sich rasch wandelnden Strukturen stellen den idealen Nährboden für psychopathische Aufsteiger dar“, schreibt der britische Psychologe Kevin Dutton.
Was für ein Begriff: „brauchbare Illegalität“? Er unterstellt das Recht der Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Die Erfüllung von Normforderungen wird auf jenes Minimum reduziert, das einen gerade noch vor strafrechtlicher Verfolgung schützt. Kant würde sich angesichts solcher Thesen im Grabe herumdrehen. In seinem Denken war es so: Wenn die Menschen mit dem Sittengesetz und seinem kategorischen Imperativ nichts anfangen können, wenn ihr alltägliches Handeln mit dem Sittengesetz wenig zu tun hat, dann spricht das gegen das, was sie tun, nicht gegen das, was geschehen sollte. Es ist nicht das Sittengesetz, das es zu ändern gilt. Das Ziel, das Handeln am Sittengesetz auszurichten, bleibt auch dann richtig, wenn es schwer fällt, es zu erreichen. Brauchbarkeit kann nicht das Kriterium sein bei der Beantwortung der Frage, ob eine Handlung moralisch richtig ist. Es würde dem Opportunismus Tür und Tor öffnen. Der Aufklärer Helvetius hat das früh gesehen und ironisch formuliert: Wenn Nützlichkeit das einzige Kriterium ist, das über die Richtigkeit einer Verhaltensweise entscheidet, ist gar nicht einzusehen, warum ich einen anderen nicht überfallen und ihm sein Geld wegenehmen soll, wenn Entdeckung ausgeschlossen ist.
Nach Kant muss ich mich fragen: Kann ich wollen, dass alle so handeln wie ich jetzt? Taugt der von mir befolgte Grundsatz als Basis der allgemeinen Gesetzgebung? Er gibt ein Beispiel: Wenn es für mich vorteilhaft ist, gebe ich ein lügenhaftes Versprechen ab mit der Absicht, es nicht zu halten. Das geliehene Geld gebe ich nicht wie versprochen zurück. Kann ich aber wollen, dass meine Maxime des geschickten Lügens ein allgemein anerkanntes Gesetz wird? Kants klare Antwort lautet: nein. Die kapitalistische Gesellschaft bringt die Moral auf blanken Utilitarismus herunter: Gut und Böse werden zu Kategorien der Ökonomie: Gut ist, was den Gewinn mehrt, schlecht, was ihn schmälert. Die praktische Vernunft, die laut Kant auf die Frage antwortet: Was soll ich tun?, erweist sich als zu schwach angesichts der Wucht ökonomischer Prozesse. Die instrumentell-ökonomische Vernunft der industriellen Revolution triumphiert über die politisch-philosophischen Gehalte der bürgerlichen Revolution. Wer Kants Moralphilosophie ernst nimmt, muss zum Kritiker der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung werden. Das Sittengesetz verlangt die Abschaffung einer Gesellschaft, deren einziger kategorischer Imperativ die Bereicherung ist. Sozialismus heißt, den „Wahnsinn der rasenden Industrie zur Vernunft zu bringen“. (Max Horkheimer)
Was Ulrich Sonnemann seinem Vorwort zum 1969 bei Kindler erschienenen Sammelband Wie frei ist unsere Justiz? in der Tradition Kants und Hegels über die Justiz schrieb, gilt auch für die Sozialwissenschaften: „Die Gerechtigkeit, die auf Lateinisch Justiz heißt, ist mit dem Zustand, in dem sie die Welt vorfindet, unzufrieden; daher kann eine Justiz, die dem Bestehenden beim Bestehenbleiben behilflich ist, ihre Idee nicht erfüllen, sondern nur deren Perversion und Verrat sein.“ Der Begriff „brauchbare Illegalität“ ist eine solche Perversion und ein Verrat!
[«*] Dr. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach. Im Verlag Brandes & Apsel ist Anfang des Jahres sein neues Buch „Zwischen Amok und Alzheimer – Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ erschienen. Siehe dazu die Rezension von Joke Frerichs auf den NachDenkSeiten.
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