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Titel: Propaganda-Maschine der Neoliberalen – Hat das ZDF diese Gleichschaltung nötig?

Datum: 8. Juni 2005 um 18:05 Uhr
Rubrik: Manipulation des Monats, Soziale Gerechtigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Der SPIEGEL- und SPIEGEL-TV Chef und Förderer des neoliberalen Mainstream, Stefan Aust, darf jetzt die Glaubwürdigkeit des öffentlich-rechtlichen ZDF für die im SPIEGEL rigoros betriebene Agitation nutzen. Zusammen mit Claus Richter (ZDF-Frontal) produzierte er einen Dreiteiler mit dem Titel „Fall Deutschland“. Die Ankündigung lässt ahnen, was auf uns zukommt: Drei Stücke nach dem Strickmuster des weisen Wortes von George Orwell („1984“) und roten Fadens der „Reformlüge“: »Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.«
Wegen der Finanzierung des Stücks wäre das „Netzwerk Recherche“ gefragt.

Hier die Sendetermine der 45-Minuten-Stücke:

Mittwoch, 8. Juni 2005, 22.45 Uhr
1. Das Wirtschaftswunder

Donnerstag, 9. Juni 2005, 22.15 Uhr
2. Der Weg in die Krise

Sonntag, 12. Juni 2005, 21.45 Uhr
3. Die globale Herausforderung

Ich konnte die “Dokumentation“ noch nicht sehen. Machen Sie sich selbst ein Bild. Vermutlich wird es ein Lehrstück der gängigen Indoktrination. Darauf lässt jedenfalls die Vorankündigung schließen. Es ist das Gängige, das wir von den SPIEGEL-Autoren, der Deutschen Bank, der Bertelsmann Stiftung, Herrn Sinn, der INSM und vielen anderen kennen:

„Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Ein wirtschaftliches Schwergewicht ist auf dem Weg nach unten.“ – Das ist die übliche Miesmacherei, ganz eng angelehnt an den Buchtitel des Berliner Spiegelbüroleiters Steingart „Der Abstieg eines Superstars“. Die Miesmacherei wird ohne Rücksicht auf die Wettbewerbstärke unseres Landes betrieben. Der Leistungsbilanzüberschuss stieg in 2004 auf 104 Mrd. US-$. Die Lohnstückkosten sind massiv gesunken – gerade im Vergleich zu konkurrierenden Ländern. Wir werden wegen dieser unserer Wettbewerbsfähigkeit zum Problem für unsere Partner: für Frankreich, Italien, Großbritannien, etc.

„Rund fünf Millionen Arbeitslose und immer noch kein Aufschwung in Sicht – warum finden wir keinen Weg aus der Krise?“, heißt es weiter in der Vorschau. Im Film wird diese Misere vermutlich und wie üblich dem Sozialstaat zugeschrieben. Dabei muss dann schon Adenauer herhalten, samt immer gleichen Sprüchen, wie der Erinnerung daran, dass Adenauer das Kinderkriegen dem Volk überlassen wollte und unsinnigerweise die Renten dynamisiert habe.

„Schleichend und von den Bürgern unbemerkt begann der Abstieg, als alle noch vom Wohlstand der Wirtschaftswunderjahre zehrten. Aus wahltaktischen Gründen wurde die Wahrheit um die wirtschaftlichen Zusammenhänge ausgeblendet – und das im stillschweigenden Einvernehmen von Parteien und Lobbys von links bis rechts.

Erst langsam dringt ins öffentliche Bewusstsein, dass komfortable Existenzbedingungen auch bezahlt werden müssen. Basis dafür ist eine funktionierende Volkswirtschaft, doch davon ist Deutschland weiter entfernt denn je.“

Achten Sie mal darauf, ob diese gängigen Behauptungen schlüssig und mit Fakten belegt werden. Vermutlich werden zum Beleg die Sprüche von einseitig ausgesuchten Interviewpartnern hergenommen. Kein wirklicher Kritiker des neoliberalen Mainstream kommt zu Wort, wenn man nach dem verbreiteten Flyer gehen kann. Wenn Helmut Schmidt als Kronzeuge für die angebliche soziale Überlastung unserer Volkswirtschaft herhalten muss, dann ist daran zu erinnern, welche engagierten Reden gerade er darüber gehalten hat, welche Bedeutung die soziale Sicherheit und der sozial Friede für die Produktivität unserer Volkswirtschaft hat. Er hat den Begriff „Modell Deutschland“ in die Debatte eingeführt. Er hat z.B. 1975 die ungerechten Kindersteuerfreibeträge durch das gleiche Kindergeld ersetzt, was rein rechnerisch den Staatsanteil um ca. 0,9% erhöht hat – ein durchlaufender Posten, sonst nichts. Wenn der frühere Bundeskanzler darauf und auf das Modell insgesamt nicht mehr stolz ist, dann zeigt das nur, dass er nicht mehr die Kraft hat, sich dem gängigen Mainstream zu entziehen.

Nebenbei: Interessant ist auch, dass das gängige Klischee im Film verbreitet wird, Kanzler Schmidt sei vor allem an seiner Partei, der SPD, gescheitert. Das wurde schon immer von der FDP behauptet; und Helmut Schmidt nutzt das Klischee gerne, weil er damit seine eigene Mit-Verantwortung für die Wende zu Kohl kaschieren kann. Nun sind wir als Zeitzeugen in der glücklichen Lage, dass er selbst einmal die Wahrheit gestanden hat, als er darauf hinwies, dass er mit seiner Zweitstimmenkampagne für die FDP im Wahlkampf 1980 selbst sein Grab geschaufelt hat. Er hat die FDP, die übrigens schon im Frühjahr 1980 zur CDU/CSU wechseln wollte, auf 12% hochgeredet und sie damit stark und übermütig gemacht..

Die sogenannten Dokumentationen von Aust und Richter sind drei weitere Sendungen, um die Leute mürbe zu machen für Lohnsenkung, Sozialabbau und die Aufgabe von Rechten (Tarifautonomie, Arbeitsschutz etc.).

Willy Brandts “reformeuphorische Ära” kommt vermutlich besonders schlecht weg! Das ist die gängige Lüge, die entsprechend der Orwell-Prognose schon in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat. Dabei resultieren unsere heutigen Probleme vornehmlich aus dem Murks, den Kohl gemacht hat (ökonomisches Desaster der Einheit, stümperhafte EU-Währungsunion, die Deutschland mit in die Deflation treibt) und einem rigorosen Abbruch der Konjunktur und des Einheitsbooms im Jahr 1992. Die Bundesbank erhöhte damals den Diskontsatz von 2,9 auf 8,75%. Das war ein brutaler Würgegriff für die Konjunktur. Seitdem dümpeln wir mit einem realen Wachstum von 1,3% p.a. dahin. Die Folgen dieses Missgriffs werden gut sichtbar, wenn man sich den Gesamtverlauf der Wachstumsraten von damals bis heute anschaut. Siehe Anlage. Davon werden Sie vermutlich in den Sendungen nichts zu sehen bekommen.

Schröder hat den Murks von Kohl und Bundesbank nicht repariert, sondern fortgeführt im neoliberalen Sinne (verfehlte Steuerpolitik, Verzicht auf Makropolitik, etc.).

Eine seltsam häufig auch bei anderen Autoren aufschimmernde Wahrheitsverdrehung ist, die Wertung der Rentenreform von1957. Diese Dynamisierung der Rente durch Adenauer sei wegen der aufgelaufenen Staatsüberschüsse gemacht worden. Tatsächlich wurde der „Julius-Turm“ – wie man dieses angesparte Geld nannte – angesammelt und auch aufgelöst zur geräuschlosen Finanzierung der Wiederbewaffnung!
Die Dynamisierung der Rente war schon während des Krieges angedacht. Was soll daran falsch sein? Wir im Film irgendwo der Versuch gemacht, die These zu belegen, die Dynamisierung sei falsch gewesen?

Auch die in der Ankündigung zu den Sendungen betriebene Diffamierung der Reform der Finanzverfassung von 1968 ist nicht berechtigt. Diese Reform muss im Zusammenhang mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gesehen werden, das damals eine moderne Fiskalpolitik ermöglichte. Diese hatte Schwächen, etwa die mangelhafte Regelung der Gemeindefinanzen. Aber diese Reformen waren gemessen an dem, was wir heute mit Hartz I-IV erleben, geradezu konzeptionelle Höhenflüge.

Interessant wie immer bei solchen Stücken: die Journalisten Aust und Richter haben keine Ahnung von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen, was man ihnen nicht vorwerfen kann. Aber sie haben eine feste Meinung dazu – eine, die ihre Glaubwürdigkeit nur daraus zieht, dass andere aus dem gleichen Club das gleiche behaupten.

Die Glaubwürdigkeit wird im konkreten Fall auch dadurch geschaffen, dass der Spiegel-Journalist Aust, vom dem und dessen Blatt wir die gleichen Behauptungen kennen, sich jetzt über Claus Richter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zur Beförderung der Glaubwürdigkeit bedient. Clever gemacht.

Anfang Juni traf sich in Hamburg das „Netzwerk Recherche“, eine Vereinigung von auf Recherchen erpichte Journalisten. Hier gibt es viel zu recherchieren:
Woher stammt das von den Autoren verwendete Material?

Wer hat finanziert? Nur der Gebührenzahler? Und warum, wäre der Intendant zu fragen? Haben andere mitfinanziert? Welche Rolle spielte die INSM? Hat Aust oder der SPIEGEL ergänzend finanziert?

Warum die einseitige Auswahl der Interviewten? Usw.

Anlage:

  BIP-Wachstum (real) Arbeitslosenquote
1970 5,0 0,7
1971 3,1 0,8
1972 4,3 1,1
1973 4,8 1,2
1974 0,2 2,6
1975 -1,3 4,7
1976 5,3 4,6
1977 2,8 4,5
1978 3,0 4,3
1979 4,2 3,8
1980 1,0 3,8
1981 0,1 5,5
1982 -0,9 7,5
1983 1,8 9,1
1984 2,8 9,1
1985 2,0 9,3
1986 2,3 9,0
1987 1,5 8,9
1988 3,7 8,7
1989 3,6 7,9
1990 5,7 7,2
1991 5,0 7,3
1992 2,2 8,5
1993 -1,1 9,8
1994 2,3 10,6
1994 2,3 10,6
1995 1,7 10,4
1996 0,8 11,5
1997 1,4 12,7
1998 2,0 12,3
1999 2,0 11,7
2000 2,9 10,7
2001 0,6 10,3
2002 0,2 10,8
2003 -0,1 11,6
2004 1,0  


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