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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
Datum: 1. Dezember 2003 um 12:03 Uhr
Rubrik: INSM, Markt und Staat, Sozialstaat, Strategien der Meinungsmache, Veröffentlichungen der Herausgeber
Verantwortlich: Albrecht Müller
Anmerkungen zu einer 100-Millionen-Kampagne der Wirtschaftsverbände. Von Albrecht Müller.
11. März 2001
I. Zur Einführung
Die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Debatte in unserem Land leidet seit über zehn Jahren darunter, dass um eines Platzvorteils im Verteilungskampf willen die Qualitäten des Wirtschaftstandorts Deutschland schlecht geredet wurden; sie leidet unter einem Kampf der ökonomischen Schulen und unter der Neigung, Veränderungen im weltwirtschaftlichen und im wirtschaftsstrukturellen Gefüge immer gleich zu großen historischen und strukturellen Brüchen zu stilisieren: Digitaler Kapitalismus, Informations- und Wissensgesellschaft, Globalisierung, New Economy – das waren und sind die Schlagworte, die die Debatte eher belasten als weiterbringen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Diskussion versachlichen könnte und damit eine wichtige Voraussetzung für gute politische Entscheidungen geschaffen werden könnte: Zum Beispiel wird unser Land nicht mehr ständig schlecht geredet; der Standort Deutschland erhält gute Noten; auch Persönlichkeiten aus der Wirtschaft beginnen zu verstehen, dass es keinen Sinn macht, seine angeblich schlechten Qualitäten zu beschwören und dann den mangelnden Zufluß an Direktinvestitionen vom Ausland hier in Deutschland zu beklagen. Letztere sind beachtlich gestiegen – von 20 Milliarden Euro in 1998 auf 50 in 1999 und den Rekord von 218 Milliarden in den ersten drei Quartalen des Jahres 2000.1 – Zum Beispiel ist die rückhaltlose Bewunderung für die New Economy einer eher nüchternen Einschätzung gewichen, bei der die Leistung der sogenannten Old Economy wieder gesehen wird.2 – Zum Beispiel wird unter dem Eindruck sinkender Kurse an der Börse wieder gesehen, dass eine Volkswirtschaft nicht von Spekulation und Geldvermögenswertsteigerungen, sondern von der Produktion von Gütern und Dienstleistungen lebt. – Zum Beispiel verlieren in Anbetracht einer kritischen wirtschaftlichen Entwicklung in den USA die undifferenzierten Bewunderungen des amerikanischen Modells an Gewicht.
Insgesamt bekommen wir zusehends die Chance, dass sich die ideologischen Fronten auflösen und wir so zu differenzierteren, tiefergreifenden und umsichtigeren Analysen unserer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Situation und dessen, was notwendig ist, kommen.
In diese Entwicklung „platzt“ die Gründung einer „Initiative“, die wie ein Nachklapp auf die von Schlagworten geprägte Diskussionskultur der 90er Jahre wirkt: die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
II. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
Am 12. Oktober 2000 wurde die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (im weiteren Verlauf „Initiative“ genannt) in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Sie ist eine Gründung der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie und wird von anderen Wirtschaftsverbänden einschließlich des BDI unterstützt.
Die „Initiative“ versteht sich als eine partei- und branchenübergreifende Kommunikationsplattform. Sie betreibt unter dem Slogan „Chancen für alle“ vor allem Öffentlichkeitsarbeit. Sie bedient sich dabei prominenter Unterstützung aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Vertreter aller Bundestagsparteien mit Ausnahme der PDS gehören zu ihren sogenannten Botschaftern bzw. zum Kuratorium. Als prominente Unterstützer werden Wolfgang Clement (SPD), Oswald Metzger (Bündnis 90/Die Grünen), Sigmar Mosdorf (SPD), Professor Dr. Dagmar Schipanski (CDU), Dr. Edmund Stoiber (CSU) und Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.) genannt. Dem Kuratorium der Initiative sitzt Professor Dr. Hans Tietmeyer vor, früher Präsident der Deutschen Bundesbank und Staatssekretär in der Regierung Helmut Kohl. Tietmeyer ist eine Art Repräsentant der „Initiative“. Unter seinem Namen sind eine Reihe von programmatischen Beiträgen zu den Zielen und Messages der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erschienen.
Die „Initiative“ will für die Bereitschaft zu „Reformen“, für die Marktwirtschaft und für das Unternehmertum werben. Die Initiatoren halten eine Anpassung der Sozialen Marktwirtschaft an „neue Realitäten“ für notwendig. Als „neue Realitäten“ werden die Globalisierung, das „demographische Problem“ und die dramatisch geänderte Arbeitswelt in Zeiten der New Economy genannt. Es wird beklagt, dass die sozialen Sicherungssysteme und der Anteil des Staates und seine Regulierungsdichte dramatisch zugenommen hätten. An die Stelle persönlicher Verantwortung sei vielfach „staatliche Vollversorgung“ getreten. Eine Rückbesinnung auf die grundlegenden Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und ihre „Erneuerung“ seien erforderlich. Wir bräuchten mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und mehr Mobilität bei allen Beschäftigten, ein Steuersystem, „das Leistung fördert anstatt sie zu bestrafen“, der Sozialstaat müsse von seinen „Ausuferungen befreit“ werden und die öffentliche Hand solle sich „auf die wirklich notwendigen Aufgaben beschränken“. Der „Initiative“ gehe es um einen „Klimawechsel in unserer Gesellschaft“ und um eine „strukturelle Erneuerung“. So heißt es in den einschlägigen Publikationen.3
Der Gründung der „Initiative“ ging eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach voraus. Ein Bericht über die Ergebnisse wurde vom Institut der deutschen Wirtschaft veröffentlicht; die Veröffentlichung wurde durch Mittel der „Initiative“ gefördert.
Die „Initiative“ hat, auf fünf Jahre verteilt, für ihre Öffentlichkeitsarbeit 100 Millionen DM zur Verfügung. Jährlich werden 20 Millionen ausgegeben.
Die Initiative wird von einer eigens gegründeten Gesellschaft, von berolino.pr gmbh, gemanagt. Der Werbe/PR-Etat wird von der Agentur Scholz & Friends in Kooperation mit zwei Sub-Agenturen betreut.
Die „Initiative“ wirbt mit Fernsehspots, Anzeigen, Themenheften, Broschüren und Büchern, im Internet und auf Veranstaltungen für ihre Botschaft. In Spots, Anzeigen und auf den Veranstaltungen treten Prominente und Nicht-Prominente auf.
Für die Kommunikation im Jahr 2001 sind sechs Themenschwerpunkte vorgesehen:
Zu allen sechs Themen wird es sogenannte Town-Meetings, also größere Veranstaltungen, geben. Sie werden begleitet von Anzeigen, TV-Spots, sogenannten Themenheften, von Newslettern, einem Buch, intensiver Medienarbeit und einem vielfältigen Auftritt im Internet. Hauptzielgruppe sollen Multiplikatoren sein.
Über regionale Podien sollen auch die regionalen und lokalen Organisationen der Verbände, die die „Initiative“ tragen, für die Vervielfältigung der Wirkung genutzt werden.
Das Medienecho war bisher recht freundlich, wenn auch nicht überwältigend groß.
III. Sieben Anmerkungen zur Initiative
1. Sie ist eine PR-Organisation zur Vertretung von Arbeitgeberinteressen, getarnt als überparteiliche Initiative für das Gemeinwohl.
Der Slogan „Chancen für alle“ signalisiert Vertretung von Gemeinwohl und verbirgt, dass es sich bei der „Initiative“ um die Gründung von Arbeitgeberverbänden handelt. Der Spagat zwischen diesem in der Öffentlichkeit zu vermittelnden Eindruck von Allgemeininteresse und der internen Befriedigung der Arbeitgeber gelingt beachtlich gut. Es wird offen von einer „neuen Kommunikationsoffensive der Wirtschaft“!4 gesprochen; in den Texten wird beklagt, dass die Unternehmensrenditen immer noch nicht hoch genug seien; und dies, obwohl Gewinne und Vermögenseinkommen in den letzten zwei Jahrzehnten den Einkommen der Arbeitnehmer davon liefen und eigentlich die Lohneinkommen Nachholbedarf haben; dem Wunsch vieler Menschen nach sozialer Sicherheit begegnen die Initiatoren mit Skepsis bis Hohn, seinem Abbau wird das Wort geredet5; der Sinn solidarischer Organisation von Arbeitnehmern in Gewerkschaften wird in Frage gestellt6 7. – Das sind Vorstellungen jenseits der Mitte aufgeklärten Unternehmertums.
Und dennoch bleibt in der bisher erreichten Öffentlichkeit vermutlich hängen, die „Initiative“ sei im Interesse des Gemeinwohls tätig. Dass dies gelingt, ist sicherlich auch dem Eindruck der Überparteilichkeit zu verdanken. Und das, obwohl z. B. der Kuratoriumsvorsitzende Tietmeyer CDU-Mitglied ist und obwohl der Chef der für die Initiative arbeitenden Werbeagentur Scholz & Friends Internet-Beauftragter der CDU ist. Dies gelingt, obwohl die CDU-Vorsitzende Angela Merkel gut einen Monat nach der Präsentation der Initiative in einem Grundsatzartikel8 die „Neue soziale Marktwirtschaft“ als Projekt der CDU präsentierte und damit den gleichen Begriff für die CDU besetzte. Und Gesamtmetallchef Martin Kannegießer – sozusagen Hauptinitiator der „Initiative“ – ist Mitglied der CDU-Kommission „Neue Soziale Marktwirtschaft“. Ein Schelm, der dabei Koordination unterstellt.
Trotz dieser Deckungsgleichheit bleiben die Nicht-CDU/CDU-Mitglieder in der Initiative bisher bei der Stange. Der bündnis-grüne Haushaltsexperte Oswald Metzger trat kürzlich in einem vermutlich von der „Initiative“ vermittelten Beitrag für die „Welt“ ausdrücklich als Botschafter der Initiative „Neue soziale Marktwirtschaft“ auf9. Bei den Sozialdemokraten, die für die „Initiative“ auftreten, kann man nur hoffen, dass sie die Texte nicht kennen.
Die „Initiative“ muß darauf hoffen, daß sich kritische Zeitgenossen nicht mit ihren Wirken beschäftigen. Denn das bisher verbreitete Gemeinwohl-Image und der Eindruck von Überparteilichkeit werden nicht zu halten sein, wenn sich mehr Beobachter mit den Texten und Absichten der „Initiative“ beschäftigen und nicht nur die Slogans wahrnehmen.
2. Die Initiatoren wollen eine andere Republik – ihre Einstellung zur Sozialstaatlichkeit deckt sich nicht mit dem Auftrag des Grundgesetzes
Die gesellschaftlichen Kräfte, die die „Initiative“ tragen und finanzieren, haben 16 Jahre lang, von 1982 bis1998, in Deutschland regiert bzw. die Regierung beeinflußt. Man kann Einfluß und Macht an der Person des Kuratoriumsvorsitzenden festmachen. Hans Tietmeyer war schon vor dem Regierungswechsel 1982 ein einflußreicher Mitarbeiter des damaligen Bundeswirtschaftsministers Graf Lambsdorff, er war dann bei Kohl Staatssekretär im Finanzministerium, ab 1990 Mitglied im Direktorium der Deutschen Bundesbank und von 1991 bis 1999 deren Präsident. Einflußreicher geht es wohl kaum. – Warum gründen die Initiatoren und er erst jetzt im Jahre 2000 die „Initiative“ und fordern einen „Klimawechsel“? Man muß dies als einen eher propagandistischen Schachzug verstehen. Bisher schon ist die Wirtschaft mit einer ähnlichen Propaganda ganz gut gefahren: Die Realeinkommen der Arbeitnehmer sind in den letzten 20 Jahren kaum gestiegen.10 Zwischen 1982 und 1998 wurden die Steuern für Unternehmen und auf hohe Einkommen und Vermögen mehrmals gesenkt, die Vermögenssteuer fiel beispielsweise genauso weg wie die Gewerbekapitalsteuer. Das Ergebnis: der Lastenanteil der Lohnsteuer am Gesamtsteueraufkommen stieg.
Wenn die für diese Umverteilung notwendige ideologische Begleitmusik – wie „Leistung muß sich wieder lohnen“ oder „Die hohen Spitzensteuersätze gefährden den Standort Deutschland“ – erfolgreich war, warum sollte man sie nicht in Variation fortsetzen? So gesehen ist die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft nur eine Neuauflage des bisher Dagewesenen. Es ist sozusagen ein vorläufiger Schlußstein in der Propaganda konservativer Kräfte zur Veränderung des Meinungsklimas und zur Festigung ihrer Hegemonie. Dass Tietmeyer sich dafür zur Verfügung stellt, ist verständlich, warum dies andere, die nicht dem konservativen Lager zuzurechnen sind, tun und warum sie sich als Zeugen der Überparteilichkeit mißbrauchen lassen, bleibt ihr Geheimnis.
Einschlägig für die Zielsetzung der „Initiative“ ist die Broschüre „Gesellschaft im Zwiespalt“: Die Tatsache, dass 40 % der Deutschen laut Allensbach-Umfrage an der sozialen Marktwirtschaft vor allem schätzen, dass sie keine reine Marktwirtschaft ist, sondern ein soziales System, löst bei den Interpreten vom Institut der deutschen Wirtschaft eher Sorge als Anerkennung aus. Wenn dann noch die meisten Deutschen auf die Frage, wer für die soziale Sicherheit sorgen soll, den Staat nennen, dann sind die Initiatoren alarmiert. Sie stellen fest, der Wunsch vieler Mitbürger nach mehr staatlicher Fürsorge heiße umgekehrt logischerweise auch, dass sie sich vor ihrer Eigenverantwortung davonstehlen.
Die Auftraggeber dieser Umfrage waren darüber hinaus enttäuscht:
Die Autoren sehen nicht, dass für die meisten Menschen die soziale Sicherung immer noch das einzige nennenswerte Vermögen ist, das sie besitzen, und dass sie den Staat nicht als Feind begreifen, sondern als eine gemeinsame Einrichtung, die diese soziale Sicherung gewährleisten könnte. Wie in vielen anderen Publikationen aus der konservativen Ecke unserer Gesellschaft wird auch in den Texten der Initiative sichtbar, dass sie im Grunde ihren Frieden mit dem Verfassungsgebot Sozialstaatlichkeit nicht gemacht haben.
3. Die Lasten der Deutschen Einheit dem Sozialstaat anzulasten – ein ziemlich mieser Trick.
Wie ein roter Faden zieht sich die Sorge über den Anstieg der Kosten für Sozialleistungen und der sogenannten Staatsquote durch die Texte der Initiative. Beides wird dramatisiert und zu einer Abkehr von den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft hochstilisiert. Man habe sich von Ludwig Erhard weit entfernt, dies mache eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft notwendig. Wollte man polemisch werden, dann könnte man sagen: bestens sozial Abgesicherte machen sich über das soziale Sicherungsbedürfnis der weniger Begüterten her.
Tietmeyer beklagt in der FAZ 11, dass zwischen 1970 und 1999 der Anteil der Sozialleistungen an der Bruttowertschöpfung von 26 auf über 33 % angestiegen sei (Versehentlich oder damit es eindrucksvoller aussieht, beklagt Tietmeyer dann in der offiziellen Broschüre der „Initiative“, die FOCUS und SPIEGEL beigeheftet war, einen Anstieg von 20 Prozent (!) auf ein Drittel)12; er beklagt, dass die Staatsquote mit rund 50% viel zu hoch liege. In anderen Publikationen der „Initiative“ wird vor allem der Anstieg in den 90er Jahren beklagt. Dabei wird verschwiegen, dass der Anstieg der Belastungen der Arbeitnehmerschaft in den 90er Jahren wesentlich mit den Kosten der Deutschen Einheit zu tun hatte. Rund 150 Milliarden jährliche Transfers nach Ostdeutschland – das läßt sich nicht aus der Portokasse bezahlen. Ein Vergleich der Sozialleistungsquote zwischen 1991 und 1999 zeigt deutlich, wie sehr sich die schwierige Situation in Ostdeutschland in der Sozialleistungsquote insgesamt niedergeschlagen hat.
Tabelle 1: Entwicklung der Sozialleistungsquote
Jahr | Sozialleistungsquote (Prozent) | ||
---|---|---|---|
Alte Bundesländer | Neue Bundesländer | Deutschland | |
1960 | 21,6 | ||
1965 | 23,1 | ||
1970 | 25,9 | ||
1975 | 33,3 | ||
1980 | 32,0 | ||
1985 | 31,3 | ||
1991 | 27,6 | 58,1 | 29,8 |
1992 | 28,2 | 64,7 | 31,4 |
1993 | 29,4 | 58,9 | 32,4 |
1994 | 29,6 | 54,6 | 32,3 |
1995 | 30,4 | 54,6 | 32,3 |
1996 | 31,3 | 55,3 | 34,1 |
1997 | 31,0 | 54,6 | 33,7 |
1998 | 30,5 | 55,8 | 33,4 |
1999 | 30,8 | 56,0 | 33,7 |
Quelle: Bundesarbeitsblatt 12/2000
Die Sozialleistungsquote betrug 1991 in den alten Bundesländern 27,6 %, in den neuen Bundesländern 58,1 %. Allein durch die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands ergab sich für Gesamtdeutschland eine Erhöhung der Quote um 2,2%-Punkte auf 29,8 %.
Die Sozialleistungsquote für die neuen Bundesländer liegt auch 1999 noch bei 56%, in Gesamtdeutschland bei 33,7 und in den alten Bundesländern bei 30,8 %. Das ist in der Tat mehr als 1970 mit 25,9 %, aber unter Beachtung der sehr viel höheren Arbeitslosigkeit und in Anbetracht des Gewichts, mit der die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Ostdeutschlands zu Buche schlagen, verbietet sich jede Dramatisierung.
Der Anstieg der Sozialleistungsquote für Gesamtdeutschland fand übrigens vor allem zwischen 1991 und 1995 statt. Seitdem schwankt die Quote zwischen 33 und 34%. Um diese Belastungen richtig zu bewerten, bleibt noch anzumerken: Anfangs der 90er Jahre holte die Regierung Kohl viele Aussiedler nach Deutschland. Neben den Lasten der Deutschen Einheit dürfte dieser Faktor ordentlich zu Buche schlagen. Jedenfalls machen diese beiden Sonderfaktoren – Deutsche Einheit und Zuzug vieler Aussiedler – deutlich, dass die Klagen der Initiatoren über den Anstieg der Sozialleistungsquote ein übler Trick sind: sie missbrauchen die Vereinigung Deutschlands zur Diskreditierung der Sozialstaatlichkeit.
Dieser Trick, mit dem die einheitsbedingte Mehrbelastung der Arbeitnehmerschaft und der Sozialkassen heute, ohne auch ein einziges Mal diese Ursache zu erwähnen, in Stellung gebracht wird gegen die Sozialstaatlichkeit und gegen öffentliche Leistungen, spricht schon für einen bemerkenswerten Zynismus der Initiatoren. Sie wollen weg von der sozialen Sicherung und hin zu einer Grundsicherung mit privat organisierter Zusatzversorgung, die dann – wie jetzt bei der Rente – von den Arbeitnehmern alleine bezahlt werden soll. Dieser Zweck heiligt offenbar alle Mittel.
Wie unangebracht die Dramatisierung ist, die als Ursache für die Gründung der „Initiative“ herhalten muß, zeigt ergänzend auch ein Vergleich mit Sozialleistungsquoten anderer Länder Europas. Tabelle 213 zeigt die Werte von EUROSTAT für 1998.
Tabelle 2
Ausgaben des Sozialschutzes 199814 | |
---|---|
EU der 15 | 27,7 |
Italien | 25,2 |
Großbritannien | 26,6 |
Niederlande | 28,5 |
Österreich | 28,4 |
Deutschland | 29,3 |
Dänemark | 30,0 |
Frankreich | 30,5 |
Schweden | 33,3 |
Schweiz | 27,9 |
Selbst bei Einbeziehung der einheitsbedingten Sozialausgaben liegt Deutschland noch unterhalb der beiden von der „Initiative“ – aus anderem Anlaß – zu Vorbildern hochstilisierten Länder Dänemark und Schweden und knapp oberhalb der ebenfalls bewunderten Niederlande. Wenn man die 2,2% einheitsbedingte Erhöhung abzieht, fällt Deutschlands Sozialleistungsquote für 1998 unter den EU-Durchschnitt, und unter die Quote der Schweiz (!).
Zur Abrundung noch ein Blick auf die Entwicklung der Sozialleistungen im gesamten Zeitraum der Existenz der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft. Die Initiatoren suggerieren ja, insbesondere in den 70er bzw. in den 90er Jahren habe eine Expansion stattgefunden, die heute ein Einschreiten gegen „Ausuferungen“ nötig mache. Tatsächlich sind die Sozialleistungen in den 50er und 60er Jahren, also zu Zeiten von CDU-Kanzlern, aufgrund neu eingeführter Leistungen – wie der dynamischen Rente zum Beispiel – kontinuierlich angestiegen. Zwischen 1960 und 1970 stieg die Quote immerhin von 21,6 auf 25,9 an. Später kamen dann beispielsweise die Pflegeversicherung oder die Hilfen und Renten für Aussiedler hinzu. Beides, beschlossen von CDU/CSU-geführten Bundesregierungen, schlug sich im Anstieg von Sozialleistungen nieder. – Will die „Initiative“ diese Leistungen streichen? Will sie die verstärkten Leistungen für Familien streichen?15
4. Die „Initiative“ ist eine Propagandamaschine ohne Bezug zur Realität
Wer im Oktober des Jahres 2000 eine Initiative für eine Neue Soziale Marktwirtschaft vorstellt und eine „weitreichende“ „Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft“ verlangt, der muß irgendwie begründen, warum dies gerade jetzt neu nötig ist. Was in den Verlautbarungen als „völlig neu“ dargestellt wird, kennen wir jedoch zur Genüge aus der Standortdebatte. Das sind ziemlich alte Hüte.
In den Texten der Initiative heißt es: „Globalisierung, Digitalisierung und der demographische Umbruch stellen Deutschland vor völlig neue Herausforderungen“. Was ist daran neu? Das sind die Schlagworte, die nun schon seit Beginn der Standortdebatte, also schon länger als ein Jahrzehnt, die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Diskussion in Deutschland beherrschen, ohne unser Land weitergebracht zu haben.
Die Argumente sind dürftig: Globalisierung ist nichts grundlegend Neues. Deutschland war auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon in die Weltwirtschaft eingebunden. Die Digitalisierung bringt Veränderungen, aber keinen qualitativen Umbruch. Dass die Alterspyramide einen vergleichsweise hohen und bis auf weiteres steigenden Anteil älterer Bürgerinnen und Bürger ausweist, konnte auch der Finanzstaatssekretär Tietmeyer in den 80er Jahren schon wissen. Die von den Initiatoren geforderte höhere Flexibilität und Mobilität und die von ihnen präferierten ungesicherten Arbeitsverhältnisse werden noch mehr junge Leute davon abhalten, Kinder zu bekommen und Ehen einzugehen. Übrigens: Diese Zusammenhänge nicht zu sehen und dennoch die gängigen Parolen wie den „demographischen Umbruch“ zu benutzen und zu verbreiten, ist ein guter Beleg dafür, dass es sich hier um ein rein vorgeschobenes Argument handelt, um Interessen durchzusetzen.
Die Texte der Initiative leiden wie die gesamte Modernisierungsdebatte der letzten Jahre darunter, dass die in jeder modernen Gesellschaft vorkommenden Veränderungen zu großen Umbrüchen hochstilisiert werden. Typischer Fall: Der „rasante Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft“. Diese Kategorisierungen sind irrational. Sie dienen auch nur dazu, etwas als völlig neu erscheinen zu lassen, was Ausdruck eines schrittweisen Wandels ist. Wissen gab es schon immer und Industrie wird es immer geben; und dass das Wissen der großen Mehrheit in den letzten Jahren zugenommen habe, das wird sogar von jenen bezweifelt, die am Feiertag von der Wissensgesellschaft schwadronieren und werktags die Verblödung der TV-Generation beklagen.
Wenn man sich als potentieller Investor in Deutschland die Texte der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft anschaut, dann muß man die Lust an Investitionen in Deutschland verlieren. Die Vertreter der „Initiative“ sehen in Deutschland immer noch große strukturelle Probleme:
Und dann wird darauf verwiesen, dass die Unternehmen in anderen Ländern erheblich besser dastünden.
Das ist das alte Lied: Beim Vergleich mit anderen Ländern werden die Schatten hier bei uns und das Licht in den anderen Ländern gesehen. Man geht davon aus, dass die hohe Arbeitslosigkeit bei uns nur ein strukturelles Problem und kein konjunkturelles sei. Bei den Analysen der aktuellen Lage in den USA gehen die meisten dieser Beobachter dann davon aus, dass die aktuellen Schwierigkeiten dort ein konjunkturelles Problem seien und mit Geldpolitik und Steuersenkungen bekämpft werden könnten. Nur bei uns darf ein solcher analytischer Blick nicht gelten, weil es seit Jahren tabu ist, überhaupt zu fragen, ob es nicht auch eine Schwäche der Binnennachfrage geben könnte. Das ist tabuisiert, weil die meinungsführenden Kräfte wie in diesem Fall auch die „Initiative“ und ihre Träger partout noch einige strukturelle Veränderungen zu Gunsten ihrer Klientel herausholen wollen.17 Das gilt für die Forderung nach Steuersenkungen genauso wie für die Forderung nach Flexibilisierung des Tarif- und Arbeitsrechts.
Nun ist selbst in den Texten der „Initiative“ zu lesen, dass die Erfolgsrezepte Dänemarks, der Niederlande, Schwedens und der USA nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen werden können. Aber sie werden uns trotz dieser Einsicht als Modelle vorgehalten, obwohl sich die Verhältnisse bei uns wesentlich von den anderen Ländern unterscheiden und deren Schattenseiten ja nicht „ohne“ sind:
Was also soll die Fortsetzung der Klagen über die Standortqualitäten Deutschlands? Gerade eine „Initiative“, die sich auf Ludwig Erhard beruft, sollte wissen, dass die wirtschaftliche Entwicklung wesentlich von psychologischen Faktoren bestimmt wird. Es ist höchste Zeit, dass die Wirtschaftsverbände und ihre Sonderorganisationen wie die Initiative Neue soziale Marktwirtschaft, aufhören, den Investitionsstandort Deutschland schlecht zu reden. Es macht keinen Sinn mehr, einfach nur um des verteilungspolitischen Vorteils willen die strukturelle Lage schwärzer zu malen als sie ist. Sowohl die aktuelle Krise beim Modell USA als auch die positive Entwicklung der ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland sollten Anlass zur Revision dieser Anti-Propaganda sein.
5. Die Initiative ist gerade wegen ihres professionellen Auftretens unglaubwürdig
Dass die „Initiative“ mit ihren bisherigen Aktivitäten ein freundliches Medienecho fand, ist angesichts der Dürftigkeit der Inhalte der Kampagne eine beachtliche PR-Leistung der geschäftsführenden berolino.pr gmbh und der Agenturen.
Die Wirkung von Öffentlichkeitsarbeit beim Publikum lebt davon, dass man über den Absender und/oder seine Messages und Werbemittel spricht. Die Wirkung entfaltet sich an Widerhaken und Emotionen, an denen sich die personale Kommunikation der Angesprochenen und ihr Nachdenken festmachen können. Eine solche kommunikative Kraft hat die Kampagne der „Initiatitive“ bisher nicht entwickelt. Es ist zu beobachten, dass auch politisch interessierte Zeitgenossen die Kampagne noch gar nicht richtig wahrgenommen haben. Vermutlich zielen die Träger der Kampagne vor allem auf eine langfristig angelegte unterschwellige Wirkung. Deswegen ist die Arbeit der Initiative zu beachten.
Die Macher der Kampagne haben es geschafft, die Aussagen der für die „Initiative“ in Anzeigen und Spots, in Statements und Presseerklärungen auftretenden Personen, auch der prominenten Personen, abzustimmen und damit zu vereinheitlichen. Genau dies ist für die Effizienz von Werbung wichtig, weil nur durch ständige Wiederholung der Hauptmessages ihre Verbreitung und Penetration gelingt. Aber diese professionelle Leistung hat auch eine Kehrseite:
Wenn z. B. der Historiker und Publizist Professor Dr. Arnulf Baring die „lähmende Überbürokratisierung des Landes“ beklagt und verlautbart, der deutschen Wirtschaft würden durch die Regulierungswut jährlich Kosten von mehr als 58 Milliarden Mark entstehen, Planungs- und Genehmigungsverfahren würden hierzulande ein Mehrfaches an Monaten, mitunter Jahren in Anspruch nehmen, dann fragt man sich, woher der Geschichtsprofessor das weiß. – Wenn sich einer der politisch einflußreichsten Gefährten Kanzler Kohls, der ehemalige Finanzstaatsekretär und Bundesbankpräsident Tietmeyer, ein Jahr nach Ausscheiden aus diesen einflußreichen Ämtern in einem Werbetext der „Initiative“ aufschreiben läßt, die von ihm seit Jahrzehnten beobachtete Expansion der Sozialleistungen drohe die Wirtschaftskraft unseres Landes zu gefährden, dann wirkt das einfach komisch. Denn er hat an dieser Expansion, soweit sie stattfand, mitgewirkt.
Ein ähnliches Glaubwürdigkeitsdefizit entsteht, wenn die thüringische Wissenschaftsministerin Professor Dr. Dagmar Schipanski in einem als Anzeige erschienenen Interview feststellt: „Für mich ist letztlich sozial, was Arbeitsplätze schafft.“ Kennt diese mit voller Pensionsberechtigung ausgestattete Professorin die Bedeutung sozialer Sicherung für die Mehrheit der Menschen, denen sie künftig nur noch eine „Grundversorgung“ angedeihen lassen will?
Oder: Ist es glaubwürdig, wenn die thüringische Wissenschaftsministerin in der gleichen Anzeige beklagt, für den Bau einer Produktionsstätte seien bis zu 40 Genehmigungen vorgeschrieben und fragt, „Wie innovativ und schnell kann man da noch sein?“. Sie empfiehlt, die Gesetze und Verordnungen in ganz Deutschland mit einem bundesweiten Verfallsdatum zu versehen. – So zu sprechen, entspricht der Grundlinie der Kampagne; es ist auch populär, weil gängig. Aber entspricht dieses Bild der Wirklichkeit?
Der für Wirtschaft und Finanzen zuständige Experte der Staatskanzlei weist auf Anfrage darauf hin, dass in Thüringen, wie in anderen Bundesländern auch, ein Ansiedlungswilliger an den notwendigen Genehmigungen auf keinen Fall scheitert. Die Abteilung Akquisition der Landesentwicklungsgesellschaft begleitet und betreut die ansiedlungswilligen Unternehmen, sie vermittelt und fördert die Kontakte zu den zuständigen Behörden im Land und den kommunalen Stellen. In Thüringen muß sich also ein potentieller Investor eher von einer realitätsfernen Wissenschaftsministerin, die sich ihre öffentlichen Texte von Werbeagenturen vorschreiben läßt, abgeschreckt fühlen als von den notwendigen Genehmigungsverfahren. Was bei den Texten von Frau Schipanski auffällt, gilt für andere Texte auch:
Zentrale Aussagen in den Publikationen der „Initiative“ sind eher dem Zettelkasten einer Werbeagentur und/oder dem etwas eingestaubten Giftschrank von Verbandsideologen entnommen, als dass sie die bundesdeutsche Realität einigermaßen korrekt abbildeten oder zukunftsweisende Vorschläge zur Erneuerung unserer Wirtschaftsordnung enthielten.
6. Die „Initiative“ vertritt eine Ideologie ohne konzeptionelle Substanz
Als Therapie werden die nunmehr seit fast 20 Jahren gängigen Parolen geboten: Deregulierung, Privatisierung, Schlanker Staat, mehr Flexibilität und mehr Mobilität.
Die „Initiative“ läuft mit ihren Vorschlägen hinter der Zeit von Thatcher und Reagan her. Die Debatte ist jedoch – bereichert durch konkrete Erfahrungen – differenzierter geworden. Den Initiatoren ist das entgangen. Den Staat auf die wirklich notwendigen Aufgaben beschränken, wie es in den Texten lautet, was heißt das konkret? Ist es notwendig, dass der Staat sich darum kümmert, dass die Fußballweltmeisterschaft im Free-TV übertragen wird? – Soll der Staat darauf verzichten, potentiell BSE-infizierte Rinder schlachten zu lassen und die Verbrennung zu bezahlen, wie das heute geschieht?
Die „Initiative“ fordert undifferenziert den Rückzug des Staates und die Privatisierung öffentlicher Tätigkeit. Diese naive Wiederholung alter Glaubensätze zeigt, dass die Initiatoren die Erfahrung und die öffentliche Debatte zu diesen Themen ignorieren. Sie ignorieren, wie wichtig eine intakte und moderne Infrastruktur für die Lebensqualität eines Landes und für die Produktivität seiner Volkwirtschaft ist. In den USA beklagen Beobachter das Verlottern der Infrastruktur; im wegen seiner Sparpolitik gelobten Schweden führt der Rückzug des Staates zu bösen Folgen bei der Krankenhausversorgung; in Portugal wurde eine Straßenbrücke nicht erneuert und stürzte ein, weil sich der Staat schlank machte und kein Geld da war; bei den britischen Eisenbahnen führt die Privatisierung zu einer kostensparenden, aber gefährlichen Senkung der Sicherheitsstandards beim Netz. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 28.11.2000 über ein Gespräch mit dem Soziologieprofessor Ralf Dahrendorf, der zu sozialliberalen Zeiten für die F.D.P. Staatsminister im Auswärtigen Amt war und heute im britischen Oberhaus sitzt. Er ist als Liberaler nicht im Verdacht, dem Staatseinfluß das Wort zu reden. Dahrendorf stellt in Großbritannien ein Umdenken fest: Weil jede Grippewelle die Krankenhäuser überlastet, etwas ausgedehntere Regenperioden die Straßen unter Wasser setzen und der Zustand der Eisenbahngleise zu einer Gefahr geworden ist, fangen die Briten an, wieder zu sehen, dass man öffentliche Aufgaben nicht sich selbst überlassen kann, so die Süddeutsche Zeitung über das Gespräch mit Dahrendorf.
Sich diese Beispiele zu vergegenwärtigen, ist wichtig, weil daran sichtbar wird, wie unrealistisch, unaufgeklärt und parolenhaft die Debatte um Deregulierung und Privatisierung bisher abgelaufen ist und von der „Initiative“ offenbar weiter betrieben wird – obwohl inzwischen auch konservative Zeitgenossen merken, dass sowohl die Frage, was öffentlich und privat betrieben wird, als auch die Frage, welche Regeln gesetzt werden sollen, Optimierungsprobleme sind und keinesfalls eine Einbahnstraße. Deregulierung kann sinnvoll sein, genau so wie eine Reform bestehender Regeln; neue Regeln können nötig und sinnvoll sein. So soll jetzt in Nordrhein-Westfalen das dänische Modell der Job-Rotation erprobt werden. Arbeitlose ersetzen Mitarbeiter, die in Fortbildung gehen. Der Staat setzt die Regeln und greift helfend ein. Was sollen angesichts dieser vielfältigen Entwicklung die armseligen Parolen der „Initiative“?
Auch die Debatte um ein flexibleres Tarifvertragssystem wird vor allem mit Parolen und nicht in Kenntnis der Sachlage geführt. „Das deutsche Tarifvertragssystem ist flexibler als sein Ruf“, diese von Hans Mundorf im Handelsblatt18 erläuterte und begründete Position wird von den Initiatoren nicht wahrgenommen. Die „Initiative“ hängt sich an die bisher geführte öffentliche Debatte an, die von einer Starrheit des Tarifvertragsystems ausgeht, dem die Wirklichkeit mit ihren 50.000 verschiedenen Verträgen nicht entspricht.
Von der Neigung zu modischen Erkenntnisversuchen zeugt auch die Aufteilung der Wirtschaft in Old und New Economy. Die Initiative stilisiert, wie das heute üblich ist, die New Economy zum Schlüssel des Fortschritts. Sie brauche Fachkräfte in riesigem Umfang, das zeigten die USA. Dass es Unternehmen in der sogenannten Old Economy gibt, die hochtechnisiert, computerisiert und produktiv sind – eigentlich eine banale Erkenntnis. Und dass dort sowohl technologisch anspruchsvolle als vermutlich auch mehr Arbeitsplätze geschaffen werden als in dem, was man New Economy nennt, wird in den Texten ausgeblendet. Dass Unternehmen der New Economy reihenweise Luftnummern sind, wird nicht andeutungsweise erwähnt und selbstverständlich auch nicht, dass ihre Kapitalbeschaffung in den vergangenen Jahren zum überwiegenden Teil auf guter Propaganda und zum geringen Teil darauf beruhte, dass ein schlüssiges, wenn auch risikoreiches Geschäftsmodell, vorgestellt wurde. Natürlich kommt auch nicht vor, dass die New-Economy-Propaganda viele Gutgläubige um ihr mühsam Erspartes gebracht hat.
In diesem Kontext ist interessant: Im erwähnten Beihefter der „Initiative“ in SPIEGEL und FOCUS vom Oktober 2000 wird der Start-up-Unternehmer Stefan Röver, Vorstandssprecher der Brokat AG aus Stuttgart, als Vorzeigeunternehmer der New Economy präsentiert und gegen den Bezirksleiter der IG Metall Berthold Huber in Stellung gebracht: Mit dem üblichen Plädoyer für den tariffreien Raum, für Deregulierungen und Privatisierung der Lebensrisiken usw.; die unmittelbare Beteiligung der Mitarbeiter am wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens durch Aktienoptionen wird als große Innovation der New Economy gefeiert. – Diese Aktienoptionen der Mitarbeiter der Brokat AG sind inzwischen vermutlich wenig wert, der Kurs des Unternehmens ist von seinem Höchstkurs (195 Euro) auf unter 15 Euro (Stand 09.03.01) abgestürzt. Das Unternehmen hat bisher nur Verluste gemacht. Sie lagen im Jahre 2000 mit einem Fehlbetrag von 125,9 Millionen Euro über dem Umsatz von 119,6 Millionen Euro.
Es ist erstaunlich, dass die Initiative gerade den Vorstandsvorsitzenden dieses Unternehmens als prominentes Testimonial präsentierte, obwohl am 12.10.2000, am Tag der Präsentation, der Niedergang des Aktienkurses dieses Unternehmens und die Relation von Umsatz zu Verlust schon zu erkennen war.
7. Fazit: Die „Initiative“ liefert keinen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes
Wichtige Probleme unserer Zeit werden von der „Initiative“ nicht angesprochen, obwohl sie zentral die Frage berühren, wie eine Wirtschaftsordnung, wie also die viel zitierte Soziale Marktwirtschaft, heute gestaltet werden müsste, damit sie den Erfordernissen unserer Zeit gerecht wird. Einschlägige Gedanken, die im geistigen Leben der letzten Jahre eine große Rolle spielten, und ordnungspolitisch noch nicht verarbeitet sind, kommen bei der „Initiative“ nicht vor.
Es gäbe ja durchaus Neues, es gäbe sogar alte, bisher nicht aufgearbeitete und neue Probleme, derentwegen man eine Initiative zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft gründen könnte:
Nicht einmal den Schutz des Wettbewerbs macht die „Initiative“ zum Thema – und dies in Zeiten großer Fusionen und Machtmißbrauchs durch fast monopolartige Gebilde. Das ist weit weg von Ludwig Erhard, auf den sie sich so gerne und viel beruft.
Ludwig Erhard sah im Schutz des Wettbewerbs eine zentrale Aufgabe. Er bezeichnete das Kartellgesetz als das Kernstück der sozialen Marktwirtschaft, weil damit die private wirtschaftliche Ausnutzung von organisatorisch oder juristisch begründeten Machtpositionen zu Gunsten eines freien Leistungswettbewerbes unterbunden werden sollte.19 Er sah, dass Wettbewerb geschützt werden muss. – In den Texten der „Initiative“ taucht dieses Problem nicht auf – mit einer einzigen und speziellen Ausnahme: in 10 Thesen des Professors Karl-Heinz Paqué aus Magdeburg. Er erwähnt die Notwendigkeit zu verhindern, dass Großkonzerne ihre Marktposition in der Netzwerktechnologie ausnutzen. In den eigentlich programmatischen Texten der „Initiative“ kommt dieses genuine Problem nicht vor, obwohl Fusionen und sogar Monopole heute an der Tagesordnung sind. Auch dies zeigt die ideologischen, d. h. den von Einzelinteressen bestimmten Charakter der „Initiative“. Der Eindruck, hier würden Marktwirtschaft und Allgemeininteresse vertreten, ist aufgesetzt und täuscht.
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