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Titel: Die neoliberale Domestizierung der Sozialen Arbeit

Datum: 16. Oktober 2015 um 9:43 Uhr
Rubrik: Familienpolitik, Interviews, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich:

Matthias Heintz

Wir alle sind – auf Gedeih und Verderb – auf unser Gesundheits- und Sozialsystem angewiesen. Aber wer weiß schon genau, wie die Systeme funktionieren? Wie sie sich verändert haben? Wer begreift noch den Sinn und die Auswirkungen staatlicher Verordnungen, der »Reformen« der letzten Jahre? Wer begreift, wie die Denkgifte [PDF] der neoliberalen Ideologie mehr und mehr die Institutionen durchdrungen, sich in den Köpfen und Herzen der Menschen festgesetzt haben und hierdurch etwa den Armen immer besser weißzumachen vermögen, sie selbst seien ihres Unglückes Schmied. Diese Entwicklung beobachtet der Pädagoge und Familientherapeut Matthias Heintz auch im Bereich der Sozialen Arbeit sowie der Kinder- und Jugendhilfe, weswegen er zur Abwehr der immer massiveren Angriffe auf diesen Bereich auch das „Bündnis Kinder- und Jugendhilfe – für Professionalität und Parteilichkeit“ ins Leben gerufen hat. Jens Wernicke sprach mit ihm darüber, wie Politik unter dem Deckmantel des Fortschritts immer deutlicher soziale Rechte unterminiert, soziale Sicherheit abschafft sowie einer Ökonomisierung und Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge in die Hände spielt.

Herr Heintz, Sie waren knapp zwei Jahrzehnte in der Kinder- und Jugendhilfe tätig und sind Mitbegründer des Bündnisses Kinder- und Jugendhilfe. In einem aktuellen und lesenswerten Buch skizzieren Sie gemeinsam mit Prof. Mechthild Seithe massive Angriffe auf diesen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und befürchten dessen nahen Exitus. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Spätestens seit der politischen Weichenstellung zur Agenda 2010 durch die damalige rot-grüne Bundesregierung können wir einen zunehmenden Wandel im Verständnis des Verhältnisses vom Staat zum Bürger erkennen. Die Errungenschaften einer sozialdemokratischen Ära, gestaltete Demokratie als eine Regierungsform vom Bürger und für den Bürger zu definieren, verbunden mit dem System der sozialen Marktwirtschaft, geht in großen Schritten verloren. Wir sind mittlerweile in einem neoliberalen Zeitalter angelangt, in einem ökonomisierten Staat, dessen ethische Prämisse lautet: „Jeder ist seines Glückes – und somit eben auch Unglückes – Schmied.“

Dieses System der Entsolidarisierung hat sich inzwischen in allen gesellschaftlichen Bereichen eingenistet und eben auch in der öffentlichen Versorgung. Der Staat zieht sich zunehmend aus seiner Verantwortung zurück und überträgt sie auf den Einzelnen, gut zu erkennen etwa in dem Dogma der Agenda 2010: Fördern und Fordern. Wobei sich das Fördern offenbar auf die Lernhilfe für nicht leistungswillige oder -fähige Menschen im Hinblick auf das Erlernen der funktionalen An- und Einpassung in das Regelwerk eines marktorientierten Systems bezieht. In der duldsamen und schweigenden Unterordnung finden wir die Maxime der pädagogischen Ethik des Neoliberalismus.

In der Praxis erkennen wir heute ein Gesellschaftssystem, in dem der Staat sich zunehmend aus dem Bereich der öffentlichen Daseinsfürsorge zurückzieht. Diejenigen Menschen, die beispielsweise durch Langzeitarbeitslosigkeit aus der gesellschaftlichen Teilhabe herausgefallen sind, werden über Systeme wie Hartz IV verwaltet, kontrolliert und diszipliniert. Die öffentlichen Ressourcen werden bewusst knapp gehalten. Dort, wo die Versorgung für die Menschen nicht ausreicht, wird auf mildtätige Hilfe aus der freien Wirtschaft und von den am System Teilhabenden gesetzt, gern verbunden mit dem viel besungenen bürgerschaftlichen, ehrenamtlichen Engagement.

So können die öffentlichen Kassen strategisch knapp gehalten sowie ggf. mit dem Prinzip des Outsourcing öffentliche Dienstleistungen privatisiert werden, seit dem Bankencrash insbesondere auf kommunaler Ebene immer verbunden mit dem Totschlagargument des Sparzwangs und der Rettungsschirme. Hier finden wir im klassisch marktwirtschaftlichen Sinne eine Win-Win-Situation. Der Staat entzieht sich seinen sozialen Verpflichtungen, um diese in Richtung der Interessen der freien Wirtschaft zu verlagern und hierdurch in Zeiten ökonomischer Globalisierung „Standortsicherung“ zu betreiben. Die Unternehmen können wiederum mit ihrem Engagement im Sozialen Sektor, gerne über die Gründung von Stiftungen, ihre Steuerpolitik regulieren, nehmen erheblichen Einfluss auf Politik und Meinungsbildung und haben darüber hinaus noch beste und günstige Publicity.

Ganz nebenbei lässt sich über die Strategie der Ökonomisierung auch ein subtiles Kontrollelement im Hinblick auf die arbeitende Bevölkerung gestalten, da diese mit der permanenten Bedrohung des potentiellen Abstiegs in den Hartz-IV-Bereich lebt und entsprechend die Zwangssysteme des freien Marktes wie etwa Lohndumping, prekäre Arbeitsverträge und anderes stillschweigend, bewusst oder unbewusst akzeptiert. Insbesondere die im Bereich der Sozialarbeit, des Gesundheits- und Bildungswesens Tätigen sind auf diese Weise in eine erduldende Anpassungshaltung geraten, die selbst bei großem Leidensdruck kaum Widerstand hervorruft.

In der Gesamtentwicklung können wir in gewissem Sinne seit rund 20 Jahren eine Rückentwicklung in feudalherrschaftliche Zeiten konstatieren, nur dass die Macht heute nicht mehr bei Adel und Klerus, sondern in den Händen der Führenden der freien Marktwirtschaft liegt. Ich bezeichne dies auch als Amerikanisierung unserer Gesellschaft oder als ein System des Neofeudalismus.

Und welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die konkrete soziale Arbeit vor Ort?

Die inzwischen gesellschaftlich weitgehend geduldete systematische Politik der knappen Kassen im öffentlichen Bereich führt logischerweise auch den Bereich der Sozialen Arbeit in eine drastische Engführung. Das ist durchaus weder eine schicksalhafte noch eine naturgegebene Entwicklung, sondern im von mir zuvor beschriebenen, ökonomisierten Sinne gemacht und gewollt.

Die Einsparung von öffentlichen Mitteln ist dabei nur ein Effekt. Im Verständnis der Logik des Neoliberalismus geht es immer auch darum, die Menschen zu kontrollieren, zu disziplinieren und darüber zu funktionalisieren. Das gilt im sozialen Bereich für deren Adressaten ebenso wie für die professionellen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.

Im Kern geht es darum, das dreifache Mandat der Sozialen Arbeit – sozialanwaltschaftliche Ermöglichung und Wahrung der individuellen Autonomie, Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe sowie die Reflexionsfähigkeit der eigenen Situation unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen- auf den Aspekt der Integration zu reduzieren, und zwar gemäß eines funktionalen Anpassungsverständnisses. Das gilt in der Umsetzung der Sozialarbeit wiederum sowohl für deren Adressaten wie auch die Sozialarbeiter selbst.

In der Praxis zeigen sich die Auswirkungen dieser Politik vor allem in der Verknappung der professionellen Arbeitsstrukturen, insbesondere im Bereich der personellen Ressourcen, was im betriebswirtschaftlichen Verständnis am meisten Sinn macht, da das Einsparungspotential hier am größten ist. In privatwirtschaftlichen Sozialunternehmen steigert dies die Gewinnspanne, im öffentlichen Bereich werden so Gelder eingespart.

Die Auswirkungen dieser, in der zynischen Wortwahl betriebswirtschaftlich orientierter Sozialarbeit formulierten „effizienten und verschlankten Strukturen“ tragen die Adressaten, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesenen Bürger, aber auch die Sozialarbeitenden selbst. Dies geschieht in Zeiten, in denen allgemein, aber auch speziell in der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Hilfebedarfe sowohl quantitativ als auch qualitativ zu verzeichnen ist. Immer öfter geraten junge Menschen und ihre Familien in Krisen, die komplexer werden und eine entsprechend umfassende und nachhaltige Hilfen erforderlich machen.

Parallel zu dieser Entwicklung arbeiten die Kommunen an einer Art Simplifizierung der Hilfen, was insbesondere die akuten Hilfen zur Erziehung nach dem § 27 SGB VIII betrifft, auf die Eltern und ihre Kinder einen Rechtsanspruch haben. Diese Hilfeformen, die konzeptionell auf eine nachhaltige Beziehungsarbeit angelegt sind, werden heutzutage teils drastisch gekürzt oder aber gar nicht mehr gewährt.

Stattdessen agieren die Kommunen gerne mit der Strategie, den anspruchsberechtigten jungen Menschen und ihren Eltern kostengünstige Hilfeformen außerhalb des Kanons der Hilfen zur Erziehung anzubieten, beispielsweise in Form von Elternkursen im Bereich von Präventionsmaßnahmen oder in Gruppenangeboten für Kinder im Stadtteil (wobei auch in diesen Bereichen das Spar- und Verknappungsdiktat entgegen anderslautender politischer Versprechen vorherrscht). Beliebt ist auch die Verlagerung der Hilfen in den Kindergarten bzw. die Schulen, die ohnehin schon bis zum Anschlag ausgelastet sind, ins Gesundheitswesen oder in ehrenamtlich gestaltete Unterstützungsmaßnahmen. In der professionelle Angebote ersetzenden Ehrenamtlichkeit erlebt die Soziale Arbeit aktuell einen massiven Angriff, der einen wesentlichen Teil ihres gegenwärtigen Deprofessionalisierungsprozesses ausmacht. Gut zu den Armen und Hilfebedürftigen zu sein, das kann doch jeder und sollte auch jedem, der ein Herz hat, ein Selbstverständnis sein und im Ehrenamt ausgelebt werden. Schließlich zeigen die Großen aus Wirtschaft und Politik bei Benefizveranstaltungen im Blitzlicht der Fotografen, wie man die Nicht-Besitzenden bekocht, bedient und füttert. Also, wo hat die Soziale Arbeit hier noch ihre Legitimation?

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Die oben genannten Interventionen einer gemeinwesenorientierten Arbeit, der Prävention und ergänzender Ehrenamtlichkeit sind wichtig und unverzichtbarer Bestandteil in einer solidarisch und demokratisch orientierten Gesellschaft. Jedoch verfehlen sie in ihrer ökonomisierten Variante eine umfassende und nachhaltige Unterstützung in den vielen Fällen, in denen Familien mit hochkomplexen Problemen eine entsprechend profunde Hilfe benötigen. Und ganz nebenbei wird über diese simplifizierende und bagatellisierende Steuerungspolitik der Kinder- und Jugendhilfe zunehmend der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung umgangen und ausgehöhlt.

Wichtig ist ebenfalls zu erwähnen, dass neben den knappen personellen Ressourcen die sozialpädagogischen Fachkräfte häufig im Rahmen schwacher und befristeter Arbeitsverträge arbeiten, was eine Stabilisierung der Beziehungsarbeit mit den betroffenen Familien verunmöglicht. Ein Schelm, der hier an eine Bergwacht denkt, die mit porösen Seilen und verrosteten oder recycelten Haken und Ösen den in Not Geratenen zur Hilfe eilt.

Kurzum: Das System wird ausgehöhlt, umgangen, deprofessionalisiert, kaputt rationalisiert und ist bereits jetzt kaum noch in der Lage, adäquat zu tun, wofür es geschaffen worden ist.

Und bei den Kindern und Familien, denen ja geholfen werden soll: Was geschieht und verändert sich da?

Seit etwa zwanzig Jahren sind im Zuge der skizzierten Neoliberalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Familien einem immer größeren Druck ausgesetzt. Das Leben der Familien unter marktliberalen Bedingungen fokussiert sich ganz auf die Aspekte der flexiblen Anpassung an die Anforderungen der Arbeitgeber. Und diese sind kaum kompatibel mit den entwicklungsbedingten Bedürfnissen der Kinder. Diese werden oft deutlich zu früh aus der Eltern-Kind-Bindung herausgenommen. Und die Eltern sind den hohen Anforderungen des Arbeitsmarktes, der Dauererreichbarkeit und der permanenten Verfügbarkeit und Mobilität immer seltener gewachsen. Diese Situation hat sich durch die Wirkung der neuen Kommunikationsmedien verschärft. Weder die Partnerschaft, noch die Elternschaft können so in einer für die Kinder so wichtigen stabilen und gelassenen Haltung gelebt werden. So ist es auch zu erklären, dass Partnerschaften und insgesamt die für eine vitale Entwicklung des jungen Menschen wichtigen familiären und außerfamiliären Beziehungsstrukturen brüchig geworden sind und immer brüchiger werden.

In einem prinzipiell exorbitant reichen Land akzeptiert die neoliberale Politik eine hohe Armutsrate, nicht nur der Familien, die unter den oft entwürdigenden und demütigenden Bedingungen von Hartz IV leben müssen, sondern auch einer wachsenden Zahl von Familien, die knapp oberhalb des ALG II-Bezuges leben und kaum über die Runden kommen. Die Zahl der Kinder, die in Deutschland in Armut leben müssen, steigt seit Jahren kontinuierlich an. Armut ist in beschämender Weise zu einem zentralen gesellschaftlichen Phänomen und Problem in unserem Land geworden.

Die Folgen dieser chronischen Armut auf das Lebens- und Entwicklungsproblem der Familie und speziell der Kinder sind hinreichend bekannt und viel diskutiert. In der neoliberalen Praxis unserer Gesellschaft ist sie jedoch, abgesehen von plakativen medialen Empörungen und damit einhergehenden medial gehypten Hilfsaktionen, nicht nur akzeptiert, sondern im Denken vieler Menschen vielfach sogar als selbstverschuldet legitimiert.

Andererseits erleben wir in den marktliberalen Gesellschaften einen hohen Konsumdruck, der durch verschiedene Mechanismen noch künstlich verstärkt wird. Vor allem Kinder und Jugendliche sind als Konsumenten die wichtigste Zielgruppe der Industrie, ganz gleich, wie sinnig, unsinnig oder gar gefährlich dieser Konsum für sie ist.

Exemplarisch möchte ich den exzessiven Medienkonsum der jungen Menschen oft schon ab dem Kindergartenalter nennen, nicht nur in Bezug auf die Quantität, sondern ebenso im Hinblick auf die Inhalte des Konsumierten. Kinder werden von der Wirtschaft in dieser Gesellschaftsform oft rücksichtslos ausgebeutet und in allumfassender Weise dauerhaft überfordert. Dieser Aspekt systematischer und struktureller Kindeswohlgefährdung wird in Zeiten, in denen permanent die Rechte der Kinder und der Kinderschutz betont werden, jedoch tabuisiert. Darüber wird geschwiegen. Er ist als Ursache mannigfacher Probleme schlicht nicht präsent. Stattdessen ist es populär geworden, die Verantwortung für die Wohlstandsverwahrlosung vieler Kinder auf die Eltern zu schieben. Dies ist jedoch vor dem Hintergrund des beschriebenen Wandels zur neoliberalen Marktwirtschaft wenig mehr als eine zynische Ablenkungsstrategie. Außerdem werden auf diese Weise in marktliberaler Logik die Nachfragepotentiale für eine privatisierte Sozialwirtschaft gesichert. Die Sängerin Dota Kehr hat diese Logik in ihrem Song „die Funktionalisierer“ am Ende so treffend beschrieben: „Und selbst aus der Angst und dem bitteren Erwachen, glaubt mir, da kann man was draus machen …. da kann man was draus machen!“


Dota Kehr: Die Funktionalisierer


Können Sie die Überforderung des ökonomisierten Kinder- und Jugendhilfesystems im Umgang mit den komplexen Problemen der Kinder- und Jugendlichen unter den von Ihnen beschriebenen heutigen Lebensbedingungen bitte anhand eines Beispiels skizzieren?

Lassen Sie mich ein Praxisbeispiel konstruieren, in dem verschiedene der genannten Faktoren kulminieren. Es ist in dieser Zusammenstellung durchaus realistisch und auch von mir in den vergangenen 10-15 Jahren so erlebte Praxis. Auch die einzelnen Elemente unzureichender Hilfe allein können bereits erhebliche negative Folgen im Hilfeprozess nach sich ziehen.

Nehmen wir also die 14-jährige Jugendliche H., die seit geraumer Zeit regelmäßig dem Schulunterricht fernbleibt. H. kommt aus einem belasteten Elternhaus, da die Eltern sich vor drei Jahren nach einer lange anhaltenden Konfliktphase getrennt haben und die Konflikte nun im Hinblick auf die Gestaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge anhalten. H. fühlt sich zwischen den Eltern hin- und hergerissen. Die ohnehin schwierige finanzielle Situation der Eltern hat sich im Zuge der Trennung noch verschärft. Der Vater kommt seiner Unterhaltsverpflichtung nur unzureichend nach. Die Mutter hält sich und ihre zwei Kinder – es gibt noch einen achtjährigen Bruder – mit verschiedenen Jobs gerade so über Wasser.

Die Schule, welche anfangs über einen erheblichen Zeitraum die Eltern über das unerlaubte Fernbleiben in Unkenntnis hielt, spricht mittlerweile von Schulverweigerung. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus läuft nur schleppend, weil zum einen die Mutter mit den Alltagsbelastungen nach der Trennung überfordert ist, sich vom Vater in der Erziehung der Kinder nicht unterstützt fühlt und sich in Umgangskonflikten mit ihm und den Ex-Schwiegereltern aufreibt. Zum anderen ist die Schule selbst personell knapp ausgestattet, sodass die wichtige Elternarbeit nur mühselig gestaltet werden kann. Außerdem gibt es eine wachsende Zahl an auffälligen bzw. problembelasteten Schülerinnen und Schülern. Bei einer Gesamtschülerzahl von 1.500 gibt es eine einzige Schulsozialarbeiterin, die sich neben ihrer Projektarbeit nur sporadisch einzelner Schülerinnen und Schüler annehmen kann.

Im Elterngespräch mit der alleinerziehenden Mutter empfiehlt der Klassenlehrer der Mutter, sich Unterstützung in der Erziehungsberatungsstelle zu holen. Dort erhält sie nach längerer Wartezeit einen Termin, erlebt aber, dass fortlaufende Termine aufgrund der hohen Auslastung der Fachstelle nur alle paar Wochen möglich sind. Die Mitarbeiterin empfiehlt der Mutter dringend, an dem Eltern- und Umgangskonflikt zu arbeiten, den sie als maßgeblich für H.´s Verweigerungshaltung hält. Die Mutter sieht sich gegenwärtig außerstande, an dieses Thema heranzugehen, schon gar nicht gemeinsam mit dem Vater. Die Erziehungsberaterin, die nur mühsam ihre vielen Fälle terminlich koordinieren und bewältigen kann, nimmt diese Haltung der Mutter mit Ungeduld und Unzufriedenheit zur Kenntnis. Sie rät der Mutter am Ende des zweiten Termins, H. zwecks diagnostischer Abklärung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Institutsambulanz anzumelden. Die Beratungsstelle darf aufgrund kommunaler Kürzungsmaßnahmen keine eigene Diagnostik mehr vornehmen. Dort angekommen erfährt die Mutter, dass H. erst drei Monate später einen ersten Untersuchungstermin erhält, da auch hier die Grenzen der Auslastung längst erreicht sind.

Es vergehen Wochen und Monate ohne greifbare Hilfe für H. und ihre Familie. Die Situation mit H., die sich immer mehr in ihre virtuellen PC-Welten zurückzieht. spitzt sich zu. Der Mutter gelingt es nur noch selten, mit H. in Kontakt zu kommen. H. besucht, trotz vieler Versprechen ihrer Mutter gegenüber, nur noch selten den Unterricht. Schließlich macht die Schule Druck, indem sie der Mutter nahelegt, sich an das Jugendamt zu wenden. Ansonsten könne H. nicht weiter an dieser Schule verbleiben.

Mit Widerwillen und verunsichert sucht H.´s Mutter mit ihrer Tochter den Allgemeinen Sozialen Dienst, kurz ASD, des Jugendamtes auf. Die Fachkraft dort führt mit Mutter und H. ein ausführliches Gespräch, an dessen Ende zu beider Überraschung die Empfehlung der Fachkraft steht, die bereits begonnene Erziehungsberatung fortzusetzen und zunächst einmal die Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durchzuführen und deren Ergebnisse abzuwarten. Zusätzlich empfiehlt die Fachkraft eine Trennungs- und Scheidungselterngruppe für beide Eltern, welche im ortsansässigen Familienzentrum angeboten wird. Diese Gruppe werde durch eine Sozialpädagogin angeleitet, die wöchentlich mit den Trennungseltern arbeite.

Mutter und Tochter verlassen einerseits erleichtert das Jugendamt, weil ja nichts Schlimmes dort passiert ist. Andererseits ist die Mutter irgendwie frustriert und genervt, da sie wieder kein Stück weitergekommen ist. Eine Gruppe werde sie mit diesem für sie belastenden und beschämenden Trennungsthema ganz gewiss nicht aufsuchen, schon gar nicht gemeinsam mit dem Ex, der seinerseits wohl kaum zur Teilnahme an einer solchen Gruppe zu bewegen sein wird. H. ist es egal. Sie möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden und mit allem nichts mehr zu tun haben. Die wichtige Information, dass Eltern einen Rechtsanspruch auf “Hilfe zur Erziehung” haben und diese beim Jugendamt beantragt werden kann, wurde der Mutter bislang nicht mitgeteilt. Die Mitarbeiterin der Erziehungsberatungsstelle klärt nun jedoch über den Rechtsanspruch der Eltern auf “Hilfe zur Erziehung” auf.

Diese sucht mit dem Wissen um den Rechtsanspruch die Fachkraft beim Jugendamt ein zweites Mal auf und drängt auf die Antragstellung, auch unter Verweis darauf, dass sich H.´s Situation verschlimmert habe und sie sich als Mutter mit all den Belastungen, der Sorge um H., dem Dauerkonflikt mit dem Vater und der kaum noch zu bewältigenden Doppelbelastung von Beruf und Familie chronisch überfordert fühle. Schließlich willigt die Fachkraft ein und das Team des Jugendamtes kommt nach gemeinsamer Beratung zu dem Schluss, der Familie eine sozialpädagogische Familienhilfe zu gewähren, die zunächst probehalber mit einem niedrigen Stundensatz eingesetzt und auf ein halbes Jahr befristet wird.

H.´s Mutter erlebt die für diese Hilfe eingesetzte Sozialpädagogin, die parallel sechs Familien zu betreuen hat, nach anfänglich gutem Beginn immer ungeduldiger. Auch der Sozialpädagogin gelingt unter den knapp bemessenen Zeitressourcen kein konstruktiver und vertrauensvoller Zugang zu H. und ihrer Mutter. Ebenso wenig gelingt eine Kontaktaufnahme zu H.´s Vater, der weiterhin im Hintergrund gegen die Mutter agiert und H. selbst permanent in Loyalitätskonflikte verstrickt. H.´s Mutter fühlt sich zunehmend von der Sozialpädagogin bedrängt, bevormundet und kontrolliert. Sie empfindet Scham und Versagensgefühle und versucht sich nach und nach den anberaumten Terminen zu entziehen.

Nach negativen Rückmeldungen der Sozialpädagogin an die fallverantwortliche Fachkraft des ASD kommt es zu zwei Versuchen, der Mutter zu erklären, dass sie konstruktiv mitarbeiten und sich um Umsetzung der Ratschläge der Familienhelferin bemühen müsse. Kurze Zeit danach bricht das Jugendamt wegen der nicht vorhandenen Kooperationsbereitschaft der Familie die Hilfe ab. Zurück bleiben eine frustrierte, überforderte Mutter und eine Jugendliche, die von allen einfach nur noch in Ruhe gelassen werden möchte, und deren Situation sich zunehmend verschlechtert.

Wagen wir eine Prognose? Und wenn sie nicht gestrandet sind, dann dümpeln sie auch heute noch, mit Tausenden von im Stich gelassener Familien auf dem Meer der Hoffnungslosen in der restlos überfüllten und seeuntüchtigen MS Agenda 2010. Nächster Zielhafen: Psychiatrie, Knast oder Straße?

In Summe: Da gibt ein System also vor, zu helfen, hält diese Hilfe jedoch kaum überhaupt vor, und beschädigt dadurch die Betroffenen womöglich nur noch mehr, die Ohnmacht, Hilflosigkeit und Resignation erfahren und deren Probleme in dieser Zeit nur größer und größer werden. Ganz zu schweigen vom allgemeinen Trend, aus Zeit- und Geldgründen Kinder dann eben psychiatrisch zu „behandeln“ anstatt ihnen wirklich zu helfen.

Wenn es so schlimm um die Profession bestellt ist, warum gibt es dann scheinbar keine Gegenwehr gegen diese Negativentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe? Das System fährt doch offensichtlich … immer mehr gegen die Wand.

Nun, was würden Sie machen, wenn Sie unter prekären Arbeitsbedingungen arbeiten, sagen wir, mit einem Zwei-Jahresvertrag mit eventueller Verlängerungsoption, eine Familie zu versorgen hätten? Unter diesen Bedingungen macht kaum jemand den Mund auf – aus Angst vor drohender Arbeitslosigkeit und den damit einhergehenden existentiellen Konsequenzen.

Darüber hinaus fürchte ich, dass die Zeit der gesellschaftlichen Lähmung und der seit langem währenden Überbetonung des Individuums gegenüber Werten des Sozialen und der Solidarität inzwischen zu einem quasi reflexhaften Anpassungsverhalten an die Gesetze einer marktliberalen Kultur geführt hat.

Insofern finden wir insgesamt jüngere Generationen vor, die sich, so sozialisiert, im Wesentlichem kaum mehr kritisch verhalten können oder aber kaum die Anstrengung kritischer Auseinandersetzung auf sich nehmen wollen bzw. können. Sie kennen häufig überhaupt nur noch die Bedingungen und entsprechende Deutungsmuster einer, wie Kanzlerin Merkel es so treffend bezeichnet hat „marktkonformen Demokratie“.

Und diese Veränderungen sind inzwischen so tief in der Gesellschaft verankert, dass es auch den vermeintlich kritisch denkenden Sozialarbeitenden schwerfällt, alternative Perspektiven einzunehmen.

Die Ausbildung bzw. das Studium der Sozialpädagogik und ähnlicher Studiengänge hat unter dem beschriebenen politischen Wandel mit der Einführung der so genannten Bologna-Reformen ebenfalls enorm gelitten. Die Dogmen des Marktliberalismus werden sowohl über die strukturellen Erfordernisse des Studiums als auch über die betriebswirtschaftlich gefärbten Inhalte der Studiengänge vermittelt, sodass die nachwachsenden Generationen in diesem Berufsfeld diese ökonomisierte Variante Sozialer Arbeit zumeist als selbstverständlich erachten. Diejenigen Hochschul- und Fachhochschullehrenden, die noch ein anderes, fachliches Verständnis von Sozialpädagogik vermitteln, sind in der Minderzahl und stehen zudem selbst in der Gefahr, in ihren Lehrinstitutionen unter Druck gesetzt zu werden.

Die neoliberale Ideologie [PDF] ist einfach allerorten manifest und die Verhältnisse arbeiten ihr nur weiter zu.

Und was wäre in dieser gesellschaftlichen Situation sinnvollerweise zu tun? Was wünschen oder raten Sie?

Wünschen würde ich mir, dass die Menschen sich endlich wieder auf die Errungenschaften humanistisch orientierter und sozialer Bewegungen in Richtung Freiheit und Demokratie besinnen, wie sie trotz allen Militarismus‘, aller feudaler, autoritärer und faschistischer Strömungen und Epochen und ihren entsprechenden Erziehungs- und Bildungsmethoden immer wieder durchdringen konnten und so zumindest in Teilen des 20. Jahrhunderts zentrale gesellschaftliche Wertesysteme in Richtung der Achtung der Menschenwürde, der Realisierung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit ermöglicht haben.

Freiheit ist im Zeitalter des Marktliberalismus zur Freiheit des Konsums der am System Teilhabenden reduziert worden. Soziale Gerechtigkeit ist spätestens mit der Einführung der Agenda 2010 weggespült und durch Ellenbogendogmen wie „Leistung lohnt sich wieder!“ oder „Fördern und Fordern!“ ersetzt worden. Leider habe ich nur wenig Hoffnung, dass hier in absehbarer Zeit ein gesellschaftlicher Wandel eintreten wird. Dafür funktionieren die Prinzipien des „Teile und herrsche!“ und „Brot und Spiele“ im medialen Zeitalter einfach zu gut.

Fraglich ist im Augenblick wohl vor allem, wie die aktuelle Flüchtlings- bzw. Einwanderungssituation Einfluss auf den gegenwärtigen Stillstand nehmen wird. Nicht nur diesbezüglich dürfen wir die jetzige Flüchtlingswelle als echte Chance für unsere gesellschaftliche Entwicklung sehen.

Und im Hinblick auf das Thema Ökonomisierung der Kinder- und Jugendhilfe rate ich allen engagierten Kolleginnen und Kollegen, den Lehrenden an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten, den Studierenden, aber auch den verantwortlichen Jugendhilfepolitikern, inne zu halten und darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen, welche Aufgabe die Soziale Arbeit und speziell die Kinder- und Jugendhilfe hat und was unsere ureigene sozialpädagogische Fachlichkeit ausmacht.

Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession und hat somit ein eindeutiges und parteiliches Mandat für die Menschen, die gesellschaftlich an den Rand gedrängt bzw. ausgeschlossen werden bzw. von Marginalisierung bedroht sind. Sie hat Entwicklungen vorzubeugen, die das Prinzip von Oben und Unten bedienen oder, so diese sich realisieren, sie offen zu benennen, zu skandalisieren und zur Gegenwehr aufzurufen.

In diesem Sinne hat Soziale Arbeit und insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe mit ihrem sozialpädagogischen Auftrag auf den Ebenen der Prävention, der Gemeinwesen- und Einzelfallarbeit immer auch eine politische Dimension. Das betrifft nicht allein die Arbeit mit den Adressatinnen und Adressaten, sondern ebenso die professionellen Fachkräfte selbst. Denn wie sollen wir Menschen in ihrem Bestreben nach Autonomie begleiten, wenn wir selbst für uns und unsere Arbeitsbedingungen systematische Ausbeutung, Entwertung, stillschweigende Duldung teils unhaltbarer Arbeitsbedingungen und andere Formen prekärer Arbeit stillschweigend erdulden?

Die gegenwärtige Kinder- und Jugendhilfepolitik geht ganz im Einklang mit der ökonomisierten Politik trotz scheinbarer Gesprächsbereitschaft und oberflächlichem Verständnis für die fachlichen Positionen ihren Weg jedoch unbeirrt weiter. Hinter den aufgehübschten Fassaden einer Hochglanz-Jugendhilfe wird die Umsteuerung in Richtung einer ökonomisierten Kinder- und Jugendhilfe unnachgiebig weiterverfolgt. Inzwischen gibt es sogar eindeutige Signale aus der Politik, die gesetzlichen Grundlagen des SGB VIII, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, der seit Jahren währenden kommunalen Praxis anzupassen, die sich an betriebswirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Effizienz orientiert.

Unser in 2010 gegründetes Bündnis Kinder- und Jugendhilfe – für Professionalität und Parteilichkeit hat sich aus diesem Grund nach verschiedenen vergeblichen Versuchen eines ernsthaften Dialogs mit der Politik über die Zukunft unseres Fachbereiches entschieden, diesen Dialog vorerst zu beenden. Stattdessen gehen wir nun mit einem Aufruf zu einem Memorandum auf allen Ebenen in die Öffentlichkeit, um ein Bewusstsein für die gegenwärtige Lage der Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen. Wir hoffen, dass alle engagierten Menschen, die mit der gegenwärtigen Fremdbestimmung der Sozialen Arbeit sowie der Kinder- und Jugendhilfe im Speziellen nicht einverstanden sind und noch nicht resigniert haben, diesen Aufruf lesen und durch ihre Zeichnung unterstützen.

Noch ein letztes Wort?

Wenn ich mir eine kleine Anekdote sozusagen als Epilog erlauben darf… Ich tituliere ihn mal als “von Häuptlingen, Häppchen und Ungehorsam”: Ich saß vor einiger Zeit beruflich in einer Arbeitsrunde, bei der ein von Bundesmitteln gefördertes Projekt – übrigens ein klassisches Projekt der “Neuen Steuerung” – in der betreffenden Kommune als Zwischenergebnis durch einen Vertreter des Bundesministeriums überprüft werden sollte. Nachdem die das Projekt ausführenden Ehrenamtlichen und Professionellen zwei Stunden lang ihre wirklich kreativen und engagierten Ergebnisse monatelanger Arbeit präsentiert hatten, sollten in einer darauf folgenden zweiten Runde nur die politisch Verantwortlichen, sprich Geschäftsführer, Kommunalpolitiker und eben jener Mensch vom Bundesministerium miteinander ins Gespräch gehen.

In der Pause zwischen dem einen und dem anderen Gesprächsforum wurden fein dekorierte Häppchen gereicht. In Freude auf eine kleine Stärkung nach zwei intensiven Stunden und bevor wir Fachkräfte wieder in den mühsamen Arbeitsalltag entlassen wurden, griff meine Hand in Richtung eines dieser Häppchen. Da stürzte einer der Geschäftsführer auf mich zu und deutete symbolisch eine körperliche Maßregelung meiner allzu selbstbewussten Hand an und sprach unmissverständlich: “Stopp, das ist nur für Häuptlinge.” Vielleicht war meine Hand intuitiv selbstbewusster als mein Denken. Denn ich griff dennoch beherzt zu, führte den wohlschmeckenden Happen in meinen Mund und sprach: “Dieser Happen schmeckt mir besonders gut.”

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Matthias Heintz, 51, ist Diplom-Pädagoge und systemischer Familientherapeut. Er hat 2 Söhne. Er ist seit knapp 20 Jahren in der Erziehungsberatung tätig, heute als Berater in einer kirchlichen Sozial- und Lebensberatungsstelle tätig, sowie in eigener systemischer Praxis. Seit rund 10 Jahren arbeitet er zudem als Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg-Stendal, insbesondere im Fachbereich „Kindheitswissenschaften“. Er ist Mitbegründer des „Bündnis Kinder- und Jugendhilfe – für Professionalität und Parteilichkeit“.


Weiterlesen:

Buch: Mechthild Seithe und Matthias Heintz: „Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung. Plädoyer für ein umstrittenes Konzept der Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Nützlichkeitsideologie“.


Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jenswernicke.de. Dort können Sie auch eine automatische E-Mail-Benachrichtigung über neue Texte bestellen.


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